Читать книгу Drei Frauen auf Rügen - Sabine Kästner - Страница 10

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Zwei Stunden und die Hälfte einer halben Tablette später – sie will nicht übertreiben, glaubt aber die Wirkung schon zu spüren – schlüpft Lilli durch die Drehtür eines Restaurants. Es heißt Le Filou und ist in einem Neubau im sanierten Kölner Hafenviertel untergebracht.

Vor der rauchgrauen Glasfassade dümpelt der Rhein in Richtung Altstadt hinab, aus den Lautsprechern dümpelt die Stimme eines französischen Chansonniers, der mit der Liebe ermüdende Erfahrungen gemacht haben muss. Der Rest des Etablissements hat mit französischem Savoir-vivre so viel gemein wie fettfreier Joghurt mit Mousse au Chocolat.

Mahagoniparkett, das einen in Gedanken sofort ausrutschen lässt, viel Edelstahl, Ledersesselchen und schwarzweiße Posterfotos schöner Körper ohne Kopf feiern die Rückkehr der Yuppies. Die Retrosucht des neuen Jahrtausends, das sein eigenes Gesicht noch sucht, imitiert alte Stile und kostet eine Stange Geld.

Im Filou wird der Wein in 0,1-Liter-Gläsern serviert und in zweistelligen Summen ohne Komma berechnet. Das Essen scheint zur geometrischen Verzierung der Designerteller zu dienen und sieht ebenfalls gelangweilt aus.

Das Filou ist genau die Sorte Lokal, die Lilli hasst und nur zu Geschäftsgesprächen aufsucht. Clemens hat es ausgewählt. Will er sie beeindrucken oder einschüchtern oder austricksen?

Bei Clemens ist sie sich darin nie sicher gewesen. Aber mit knapp zwanzig Jahren hat sie ihn und seinen Restaurantgeschmack für welterfahren und das wahre Leben gehalten. Mit knapp zwanzig hat sie auch an schöne Seelen in schönen Körpern geglaubt. An das Gute, das Wahre und das Schöne.

Und Schneewittchen und die sieben Zwerge.

Clemens war verboten schön, ist es noch.

Lilli blickt sich im Windfang suchend nach den Toiletten um. Sie hat Charlotte bei deren Freundin Karla abholen, ein Abendessen kochen und die Koffer für Rügen packen müssen. Drei Stück, wegen der seriösen Kostüme, die mitmüssen, und den warmen Pullovern, den Socken und Stiefeln. Mitte Februar ist es sicher noch frostig an der Ostsee.

Also hat sie keine Zeit gehabt, sich frisch zu machen oder ihre verrutschte Frisur wieder in den alten Zustand zurückzuversetzen. Das will sie erledigen, bevor Clemens sie entdeckt und mit Bemerkungen über ihr nachlässiges Äußeres ärgern kann.

Im Halogenlicht des Waschraums, der die Normgröße deutscher Kinderzimmer schlägt, gräbt sie ihre Make-up-Tasche aus. Während sie die Brille abnimmt, tadelt sie sich wegen ihrer Eitelkeit. Sich hübsch zu machen für Clemens! Vorsichtig führt sie ein leicht vertrocknetes Bürstchen an die Wimpern, tuscht sie schwarz und begutachtet sich flüchtig im Spiegel.

Okay, Lippenstift kann sie sich noch gönnen. Aber die Haare müssen raus aus dem Gesicht. Das hier wird kein Rendezvous.

Bist du dir da sicher?, feixt es aus dem Hinterhalt.

Na prima, so viel zu den Beruhigungstabletten, ihr Alter Ego reagiert mit Halluzinationen. Auf ihrer langen Liste unangenehmer Dinge kommt noch vor Zahnschmerzen und der Monatsregel die Liebe. Das ist das Letzte, worüber sie auch nur nachdenken will. Das ist etwas für Dummköpfe, die immer noch nicht begriffen haben, dass Liebe etwas ist, was einem den Teppich unter den Füßen wegzieht und das Leben so angenehm wie Hip-Hop im Minenfeld macht. Müde striegelt Lilli ihre Haare mit einer Drahtbürste.

Sie braucht das bisschen Schminke nur, um sich nicht von ihrem Ex einschüchtern zu lassen, der aussieht wie ein präraffaelitischer Sankt Georg mit Jünglingsgesicht und – als Fehler, der ihn erst perfekter macht – einem Boxerkinn, das er bei den Klitschko-Brüdern ausgeliehen haben muss. Lilli seufzt.

Die Aufmerksamkeiten des schönen Clemens haben ihr früher das Gefühl gegeben, kein verschüchtertes Etwas mit albernen Künstlerträumen, sondern eine Göttin in Warteposition zu sein, die er wachküssen und in ein aufregendes Leben entführen würde. Mit zwanzig Jahren sind solche Fantasien kein Verbrechen.

Sie hatten sich auf einer Vernissage kennen gelernt. Clemens war als Aushilfskellner dabei. Neben lauwarmem Champagner und Krebsschwänzen servierte der Wirtschaftsstudent Lilli Witze über Zahnarztgattinnen und Kritiker, die angesichts eines bemalten Auspuffrohrs intellektuelle Orgasmen vortäuschten.

Clemens hat ihr gekonnt vorgegaukelt, er sei ihr Komplize bei der Enttarnung dieser selbstverliebten Vertreter der Kunstszene. Außerdem hat er ihre Malversuche, ihre eigenen Bilder, gemocht, die sie ihm noch in der gleichen Nacht und lange vor ihrem Körper gezeigt hat. Es war für sie die intimste Form der Entblößung. Sie wollte sich sicher sein, dass der Engel im Kellnerfrack auch Seele hatte. Clemens war der Erste, dem sie diese Bilder gezeigt hat.

Er hatte die Begabung, sich begeistert zu zeigen. Von den Bildern und von ihr. Wenn man von Natur aus schüchtern ist wie Lilli, fällt es einem nicht leicht, Bekanntschaften zu finden, von Liebschaften ganz zu schweigen. Clemens hat ungemein anziehend auf sie gewirkt, weil er sich für sie interessiert hat. Und für ihre Bilder.

Anders als ihr Vater, dem sie ihre eigenen Arbeiten verheimlicht hat, weil der nur die ganz großen Meister anerkennt, und stolz darauf war, dass sie schon als Sechsjährige nicht Punkt, Punkt, Komma, Strich geübt, sondern sich – wie er – an einem Paul Klee versucht hat. Mit Erfolg.

Von ihm hat sie über Jahre die minutiöse Detailarbeit des Kopierens, das Nachmischen von Farben aus Eigelb und alten Pigmenten, die ständig nötigen Korrekturen erlernt und am Ende gehasst. Technik, nichts als Technik. Ständig musste sie ihr Temperament zügeln, bis es ihr abhanden gekommen ist und sie nichts bedrohlicher fand als eine leere Leinwand.

Erst Clemens hat ihr das Gefühl gegeben, einen Absprung ohne Sicherheitsseil, Netz und doppelten Boden wagen zu können. Als Malerin. Als Original, nicht als Kopie. Ausgerechnet Clemens, der schlimmste Betrüger von allen.

Lilli putzt seufzend ihre Brille.

Das Gefühl von Unabhängigkeit und Neubeginn hat ihre Hochzeit und die Schwangerschaft nicht überlebt. Selbst einer kurzsichtigen Gefühlsnärrin wie ihr konnte nicht entgehen, dass Clemens sie nicht wegen einer geheimen Künstlerseele oder eines Babys, sondern wegen ihres Namens und Leopolds Kontakten in die Kunstszene geheiratet hatte. Dem Aushilfskellner Clemens war von Anfang an klar gewesen, was er da – in Gestalt der hilfsbereiten Lilli Wandler – auf dem goldenen Tablett serviert bekam. Ein Karrieresprungbrett!

Plötzlich liebte er Vernissagen, Auktionen und Galerieeröffnungen. Wo sonst konnte ein Betriebswirt ohne Kontakte so mühelos mit Frauen, von Beruf reiche Gattin, oder eitlen Trotteln wie Ewald Sammering zusammentreffen, um ihnen als Wandlers Schwiegersohn südamerikanische Staatsanleihen und verfallene Adelsresidenzen anzudrehen? Damit sie König spielen konnten. Etwa in Gutshäusern auf Rügen, die niemand haben will, der bei Verstand ist. Clemens ist zu schön, um wahr zu sein, das wird sie nie mehr vergessen.

Hoffen wir es mal. Männer sind nicht gerade dein Fachgebiet.

Ruhe!

Lilli schraubt einen Lippenstift auf. Dezentes Rosenholz. Ach was. Sie greift zu dem flammenden Signalrot von Paloma Picasso, das Charlotte ihr zum Geburtstag geschenkt hat, zieht ihren Mund nach und streckt sich selbst – nein, ihrer inneren Feindin – die Zunge heraus.

Ihr Alter Ego klatscht seltsamerweise Beifall. Ob die Tablette endlich wirkt? Lilli entschließt sich, die Brille wegzulassen. Schließlich hat sie es nicht nötig, sich vor Clemens zu verstecken, und durchschaut hat sie ihn längst.

Du wirst immer besser! Und jetzt Rapunzel, lass dein Haar herunter.

Clemens hat einen Tisch in der Mitte des Raumes gewählt. Und natürlich steht er auf und präsentiert seine Hünenfigur allen Anwesenden, während er eine Zigarette ausdrückt und zu ihr herüberwinkt.

»Hallo, Lilli, Liebes. Wie schön dich zu sehen.« Er fährt mit erstaunten Blicken über ihr Gesicht und ihren Körper. »Es ist in der Tat schön. Du siehst gut aus, ganz verändert.«

Ein Kompliment wie eine Ohrfeige. Liliane schließt kurz die Augen. Mit Brille war das nicht passiert. Ihr Exmann wagt es, mit ihr zu flirten.

Dreckskerl!

Ups, so was denkt sie doch sonst nicht. Und aussprechen würde sie es natürlich nie. Sie wartet auf das vertraute Herzrasen. Es bleibt aus. Seelenruhig zieht sie den Kopf zurück, als Clemens die Frechheit besitzt, ihr Wangenküsschen anzubieten.

»Hallo, Clemens. Du kannst dich wieder setzen, alle haben dich gesehen.«

Ihr Alter Ego muss auf Lautsprecherfunktion umgeschaltet haben.

Clemens vergisst die zum Kuss gespitzten Lippen zu entspannen und sieht albern aus. Fühlt sich gut an, Männer mit Worten in Frösche zu verwandeln.

Lilli schiebt sich beschwingt auf einen der Ledersessel. Sie zieht sich eine Locke aus dem Pferdeschwanz und drapiert sie übermütig in ihrer Stirn, als säße sie Modell für eine Shampoowerbung.

Mit offenem Mund nimmt Clemens ihr gegenüber Platz. »Sag mal, was ist denn mit dir los, Liliane? So kenne ich dich ja gar nicht.«

Lilli greift nach der Speisekarte. »Tja, nicht nur du hast deine verborgenen Seiten, Clemens.«

»Was meinst du denn damit?«

»Zum Beispiel deine unsauberen Geschäfte.«

»Ach, Lilli, lass doch die alten Geschichten. Ich stehe kurz davor, einen lukrativen Deal abzuschließen, dann zahle ich dir alles zurück, einschließlich Zinsen. Ich verspreche es.«

Er hebt zwei schlanke Finger zum Schwur. Sieht aus wie ein süßliches Heiligenbild aus Kevelaer.

Lilli knallt die Speisekarte zu. »Kann ich das schriftlich und mit notarieller Beglaubigung haben?«

Clemens pumpt die Lippen zum Schmollmund auf, streicht sich über seine blonde Mähne und überprüft sein Aussehen wie beiläufig im Barspiegel. Sein Aussehen hat wie immer eine beruhigende Wirkung auf ihn.

Meine Güte, hat sie diesen hohlen Schönling tatsächlich mal geliebt? Sie muss nicht bei Verstand gewesen sein. Der Mann ist nichts weiter als eine optische Täuschung, das sieht sie sogar ohne Brille.

»Nun, Lilli, wollen wir nicht erst einmal etwas trinken? Es scheint, als hättest du einen anstrengenden Tag gehabt.«

Er winkt einer Kellnerin, die bei seinem Anblick prompt einen Kurswechsel vollführt, um unter vollen Segeln und mit geschwelltem Bug auf ihn zuzusteuern.

Clemens schenkt ihr ein mattes 20-Watt-Lächeln, schließlich hat die junge Frau ihm nicht mehr als kostenpflichtige Getränke zu bieten. Einen Hang zum Küchenpersonal, egal wie hübsch, kann man ihm nicht nachsagen. Er hat selbst lange genug dazugehört. Sein Frauengeschmack ist durch und durch berechnend.

»Bringen Sie zwei Glas Champagner. Roederer, Jahrgang. Über das Essen entscheiden wir dann später.«

Jahrgangschampagner? Und das Essen erst später... Der Kerl versteht noch immer nichts. Aber sie! Er hat einen seiner seifigen Tricks vor. Und der Trick hat den Namen Caspar David Friedrich.

»Warten Sie«, ruft Lilli der Kellnerin zu. »Ich habe für mich noch nichts bestellt. Ich hätte gerne...«

Na, was? Mit welchem Getränk kann man Clemens, den Hochstapler, am besten in die Schranken verweisen? Eckes Edelkirsch? Nordhäuser Doppelkorn?

»Ein Bier.«

Zumindest die Kellnerin scheint pikiert. »Das haben wir nur in Flaschen!«

»Schade, eine Dose wäre mir lieber gewesen, aber Sie können ja das Glas weglassen.« Die Kellnerin verschwindet mit Kopfschütteln.

»Lilli, du trinkst überhaupt kein Bier«, protestiert Clemens.

»Mehr kann ich mir derzeit nicht leisten. Schon mal was von neuer Armut gehört?«

»Ich lade dich selbstverständlich ein, meine Liebe. Für wen hältst du mich.«

»Für einen ausgemachten Lumpen und Bankrotteur. Du wirst mich nicht noch einmal um den Finger wickeln. Wir sind fertig miteinander. Für immer.«

Nicht schlecht, wenn man sagt, was man denkt. Und höchste Zeit, stimmt ihr zweites Ich hochbefriedigt zu.

Clemens’ Jünglingsgesicht verzieht sich zur Märtyrermiene. Dass er das glaubwürdig hinbekommt und aufrichtig verletzt aussieht, verunsichert Lilli. Sie schlägt ihre Serviette auf und übt sich in Origami-Faltkunst. Wie geht noch mal dieser dreischwänzige Drache, den Charlotte als Kind so gerne mochte?

Ihr Ex beugt sich vertraulich über den Tisch.

»Liliane, wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir uns nie trennen müssen. Im Gegenteil. Du hast unsere Beziehung damals beendet, bevor sie richtig begonnen hatte. Du hast mir nie vertraut. Du bist so spröde, so unnahbar.«

Liliane lehnt sich sehr weit in ihrem Sessel zurück. Solche Frechheiten darf man auf keinen Fall zu nah an sich heranlassen.

»Ich habe unsere Beziehung beendet, weil du in den ersten vier Jahren zusammengenommen weniger als zwölf Monate anwesend warst, und dann nur, um den Anzug zu wechseln oder ein Hemd zu holen. Ich hatte es satt, den Satz ›Papa kommt gleich wieder‹ vorzubeten oder Charlotte mit Geschichten über einen tollen Vater zu trösten, der bald für immer da sein und sie zur Kenntnis nehmen wird, statt ab und an mit idiotisch teuren Geschenken aufzutauchen, um sie damit in ihr Zimmer zu verfrachten.«

Clemens wischt sich die Haare aus der Stirn, legt diese in Falten. »Ach, Lilli, wir waren so jung. Das Kind, ich war nicht bereit dazu, leider. Ich wollte eben ein Geschäft aufbauen. Für uns. Dabei hätten wir ein tolles Team bilden können, stattdessen...«

Lilli hat lange den Atem angehalten, jetzt stößt sie ihn wütend aus, zerknüllt die Serviette. »Ein Team? Als was? Bonnie und Clyde?«

»Ich raube doch keine Banken aus!«

»Nein, du plünderst nur die Konten gutgläubiger Anleger und drehst ihnen wertlose Immobilien an.«

Clemens schaltet auf Schmusekurs samt Plüschaugen. »Liliane, die Finanzwelt ist eine hochspekulative Angelegenheit, und ich hatte zuletzt eine Pechsträhne. Ich mache es wieder gut! Und ist es meine Schuld, dass du nie Geld von mir annehmen wolltest, als ich es noch hatte?«

Die Finger seiner rechten Hand wandern über den Tisch auf ihre linke Hand zu. »Dann stündest du jetzt nicht so klamm da.«

Lilli versteckt ihre Hand unter dem Tisch, verkrampft sie zur Faust.

»Nein, dann stünde ich als deine verdammte Komplizin da und mit einem Bein im Knast.«

Clemens schüttelt bedauernd den Kopf, greift nach seinen Zigaretten.

»Dein verdammter Stolz ist es, der dir im Weg steht. Damit machst du dir das Leben schwer. Nicht einmal von Leopold nimmst du was an, dabei muss der doch Krösus sein, bei den Bilderverkäufen! Die Sammering-Sammlung muss ihm doch satte Provisionen eingebracht haben. Wenn du es richtig anstellen würdest, könntest du ein herrlich unbeschwertes Leben haben und nebenher ein bisschen malen, wie du es vorhattest...«

»Ein bisschen malen? Für wen hältst du mich? Eine naive Hobbykünstlerin, die sich mit Picasso verwechselt?«

O nein, das Gespräch läuft völlig aus dem Ruder, sie will ihre Hände nicht unter Tischdecken verstecken müssen oder über ihre Malerei und verlorene Träume reden. Scheißtabletten. Das hat sie jahrelang nicht getan, das geht niemanden etwas an. Schon gar nicht Clemens. Der nutzt ihre momentane Schwäche sofort aus.

»Hobbymalerin? Sei nicht so bescheiden. Du bist hochprofessionell. Genau wie dein Vater. Ihr beide habt mich immer behandelt, als wäre ich zu dumm für das Kunstgeschäft, dabei wäre ich gern eingestiegen. Wenn ich mir überlege, was ihr an Sammering alles losgeworden seid! Und die enormen Gewinnspannen! Ich glaube, dass Leopold und ich vieles gemeinsam haben. Findest du nicht auch?«

Täuscht sie sich, oder lächelt ihr Satan aus dem Gesicht eines Engels zu? Hilfe suchend greift Lilli nach der Bierflasche, die die Kellnerin vor ihr absetzt, und nimmt einen tiefen Schluck. Das Prickeln in ihrer Kehle lenkt sie nicht von ihrer Panik ab. Wenn Clemens ahnen sollte, was sie an Sammering losgeworden sind und wie viel er tatsächlich mit ihrem Vater gemeinsam hat, dann...

Oh, sie will nicht daran denken. Sie will nicht.

Du musst!

Hätte der Arzt ihr nur Valium verschrieben. Jetzt beginnt ihr Herz doch zu rasen. Clemens nächste Worte erhöhen die Taktzahl bis an die Schmerzgrenze.

»Bei dem Verkauf von Seelitz könnten wir endlich als Familie zusammenarbeiten. Dein Vater, du und ich. Es könnte alles ganz einfach sein. Sogar zwischen uns. Du bist eine reizvolle Frau...«

Lilli verschluckt sich und hustet.

Clemens lächelt sanft. »Hat dir das so lange niemand mehr gesagt?«

Lilli setzt entschlossen die Bierflasche ab, der Rand leuchtet blutrot, ach ja, Paloma Picasso.

»Lass das bleiben, Clemens, sonst ziehe ich dir die Flasche über den Kopf.«

Clemens grinst. »Nein, das tust du nicht. Liliane Wandler lässt sich niemals gehen, oder? Obwohl ich das sehr anziehend finden könnte, glaub mir. Ich würde gerne mehr über deine wahren Gefühle wissen, und das, was hinter der Fassade steckt.«

Wie ist sie nur in dieses Gespräch geraten? Lillis Blick irrt durch den Raum, fällt auf den Barspiegel und eine verschwommene Frau mit angstvoll geweiteten Augen. Mein Gott, das ist ja sie. Sie kramt nach ihrer Brille, setzt sie auf. Clemens’ Grinsen besteht aus schneeweißen Zahnverschalungen. Lächerlich.

Ja, aber du hast diesen Mann mal geliebt.

Liebe ist auch lächerlich. Macht klein und dumm.

Sie räuspert sich, strafft die Schultern. Hier geht es nicht um Liebe. Darum geht es Clemens immer zuallerletzt. Nein, nie. Und ihr auch nicht.

Dann passt ihr ja prima zusammen.

»Alida Sammering kann nicht recht bei Verstand sein, wenn sie dich mit dem Verkauf von Seelitz betraut«, sagt Lilli so kalt wie möglich.

Ihr Exmann dreht den Stiel seines Champagnerglases zwischen den Fingern, lehnt sich zurück.

»Mag sein. Aber immerhin habe ich diese äußerst schwer zu vermittelnde Immobilie schon einmal losbekommen. Und damals war sie in einem sehr viel schlechteren Zustand.«

»Wenn du glaubst, dass mein Vater dir noch einmal einen solchen Trot..., ich meine, Kunden wie Ewald Sammering vorstellt, dann hast du dich mächtig geschnitten, Clemens.«

Ihr Exmann lehnt sich in seinem Ledersesselchen zurück und glättet erneut seinen Blondschopf.

»Ich brauche keine Kundenkontakte, Lilli. Es geht mir um fachlichen Rat bezüglich dieses verschwundenen Gemäldes. Die Geschichte ist leider noch sehr vage. Man muss sie ein bisschen anheizen. Ich brauchte eine Expertise. Etwa die deines Vaters. Sein Ruf in der Kunstwelt ist immer noch unantastbar, nicht wahr?«

Lilli schnappt nach Atem, schaut hektisch auf die Uhr.

»Clemens, ich habe keine Zeit mehr, und das Letzte, was ich mit dir diskutieren will, sind alberne Geschäftsideen oder Leopolds Ruf. Ich will überhaupt nichts mit dir diskutieren. Gar nichts. Auf Wiederse..., ich meine, tschüs, Clemens.«

Liliane kramt in ihrem Portemonnaie nach Geld. Klar wäre es besser, einfach rauszurennen oder Clemens’ Jacketkronen mit der Bierflasche zu zertrümmern, aber als ehrliche Lilli wird sie ihr Bier bezahlen.

Das Gesicht ihres Exgatten ist jetzt sehr glatt. Er greift nach den Zigaretten vor sich, zündet sich eine an und bläst genüsslich den Rauch aus.

»Schade. Ich hatte gehofft, wir könnten unsere Talente kreativ verbinden. Du weißt schon, ein Win-win-Geschäft, bei dem beide voneinander profitieren.«

»Ich schulde dir nichts, Clemens, schon gar keine Gefälligkeit.«

Lilli zählt Münzen auf den Tisch und wendet sich zum Ausgang.

»Einen Moment«, hält Clemens sie mit scharfer Stimme zurück. »Wir haben noch nicht über den eigentlichen Anlass unseres Treffens geredet.«

Lilli wirbelt herum. Clemens’ Gesicht ist nicht mehr nur glatt, es ist hart wie das Mahagoniparkett. Akute Rutschgefahr, denkt Lilli alarmiert.

»Wann kann ich Charlotte in der Galerie abholen? Gleich morgen wäre mir lieb. Wir haben so viel nachzuholen.«

Clemens übt sich an einem sehnsuchtsvollen Gesichtsausdruck und scheitert kläglich. Den Heiligen kann er markieren, ihr sogar den sehnsüchtigen Liebhaber vormachen, aber den zärtlichen Vater nicht. Lillis Herz setzt einen Takt aus. So fühlt sich Todesangst an. Lähmend und kalt, das genaue Gegenteil von Leben.

»Charlotte?«

»Unsere Tochter. Hast du das vergessen?«

»Das warst ja wohl eher du! Du hast in all den Jahren nicht viel für sie übrig gehabt.«

Clemens kramt unter dem Tisch eine knisternde Tüte hervor. »Du irrst dich, Lilli. Ich schätze meine Tochter sehr und habe ihr auch etwas mitgebracht. Verspätetes Weihnachtsgeschenk.« Er nestelt aus der Tüte einen Teddybär hervor. Einen Teddybär. Das ist der Gipfel.

»Du bist so armselig, Clemens! Deine Tochter ist fast vierzehn, und du kaufst ihr Stofftiere. Wenn ich dich nicht all die Jahre gezwungen hätte, den Kontakt zu halten, würde sie nicht mal mehr wissen, wie man deinen Namen buchstabiert.«

In Clemens’ Augen glitzert es verdächtig munter. »Dann ist es höchste Zeit, das zu ändern.«

»Ich dachte, du hast auf Rügen zu tun?«

»Ich habe hier in Köln zunächst dringendere Angelegenheiten zu klären. Ein paar Recherchen in Sachen Caspar David Friedrich, wie ich bereits gesagt habe. Nebenher kann ich mich Charlotte ausführlich widmen. Hat sie übrigens auch einen Draht zur Kunst?«

Warum grinst der Kerl wie ein Haifisch?

Lilli klammert sich an die Sessellehne, sie zittert. Vor Wut, oder? »Charlotte wird bei meinem Vater bleiben. Da ist sie besser aufgehoben.«

Ist sie das? Ja, verdammt.

Leopold liebt seine Enkelin, und mit ihm zusammen zu sein macht Kindern Spaß. Sehr viel Spaß. Kinder und Leopold passen blendend zueinander, das weiß sie ganz genau. Sie hat es erlebt und sehr genossen.

»Wir haben das gemeinsame Sorgerecht, Liliane. Ich hoffe, dass ich meinen Wunsch nach intensiverem Kontakt zu meiner Tochter nicht mit juristischen Mitteln durchsetzen muss. Zumal Charlotte sich danach sehnt, mich genau kennen zu lernen. Das hat sie mir eben am Telefon gesagt. Sie ist da weniger spröde als du. Ich glaube, sie kommt ein bisschen mehr nach mir, in Gefühlsdingen.«

Er drückt treuherzig den Teddy an seine Brust. Lilli kann nicht anders, sie tauft den Bären mit Bier und Clemens gleich mit.

Drei Frauen auf Rügen

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