Читать книгу Drei Frauen auf Rügen - Sabine Kästner - Страница 11
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ОглавлениеTapfer strecken die ersten Krokusse ihre Köpfchen aus der Erde. Hermine geht in die Hocke und betrachtet die gelben und lilafarbenen Frühjahrsboten. Im Vorgarten ihrer Pension haben sie ein geschütztes Plätzchen. Den scharfen Seewind fängt die Verandafront auf der Rückseite ihrer Villa Möwe ab. In zwei Wochen kann sie Primeln und Stiefmütterchen setzen.
Sie freut sich auf die Arbeit mit frischer Blumenerde und Setzlingen und betastet voll Vorfreude den harten Winterboden, dem sie bald Leben entlocken wird. So wie ihre Mutter, die eine begnadete Gärtnerin war.
»Ein Garten ist das immerwährende Versprechen eines neuen Anfangs«, hat Gudrun immer gesagt.
Hermine schließt die Augen und sieht das wogende Blumenmeer, das Gudrun Tressewitz im Nutzgarten von Seelitz zwischen Stangenbohnen und Obstspalieren angelegt hatte. Tulpen, Narzissen, Löwenmäulchen, Buschnelken und Stockrosen, die jeden Morgen geschnitten wurden, um damit die Vorhalle, den Speisesaal und die Bibliothek zu schmücken und jeden Anflug von Melancholie, der über dem alten Haus und seinem Herrn lag, zu vertreiben.
Malte von Seelitz hat die grüne Hand seiner Haushälterin zu schätzen gewusst, genau wie ihr Essen und ihr entschiedenes Regiment unter den Dienstboten und den einquartierten Kindern. Sie hat ihm geholfen, seine Vision einer friedlichen Zuflucht in finsterer Zeit zu verwirklichen.
Er hat sie großzügig dafür belohnt. Mit der Villa Möwe, die er noch während des Krieges erworben und Gudrun überschrieben hat.
»Wir wissen nicht, was aus Seelitz wird«, hat er der Mutter gesagt, »aber sicher wird nichts bleiben, wie es war. Ich will für euch Vorsorgen.«
Malte war ein großzügiger Mann und wollte, dass Gudrun und Hermine auf eigenen Beinen stehen und ohne ihn überleben konnten. Er hat geahnt, dass er und sein weltfernes Paradies den Krieg nicht heil überstehen konnten.
Hermine öffnet die Augen und seufzt. Sie will sich nicht mit den schmerzlichen Seiten ihrer Erinnerungen aufhalten, dazu liebt sie das Leben viel zu sehr, und das Leben war alles in allem gut zu ihr, genau wie Malte.
Es ist tröstlich, dass er nicht miterlebt hat, wie es 1953 zur Enteignung der Villa Möwe kam und seine rührige Haushälterin samt fünfzehnjähriger Tochter bei Nacht und Nebel die geliebte Pension, die Insel und die Heimat verlassen mussten. Auf der Flucht vor kommunistischen Kommissaren, die jeden noch so kleinen Buchhaltungsfehler als Staatsverbrechen zu brandmarken wussten und ohne Rücksicht Hab und Gut konfiszierten. Höhnischerweise trug das Ganze den lyrischen Namen »Aktion Rose«.
Hermine erinnert sich noch gut an ihren letzten Blick auf das weiße Holzhaus im Morgengrauen. Ihre Mutter hat es tadellos gesäubert und mit gefüllten Wäscheschränken hinterlassen, in dem Bewusstsein, es nie wiederzusehen.
Nun, ihre Tochter hat die Pension nach langwierigen Gerichtsverfahren zurückerhalten und wird wieder Blumen davor pflanzen. Hermine hat ihre gesamten Ersparnisse und sehr viel Arbeit in die Strandvilla mit den fünf Gästezimmern gesteckt. Nicht, weil sie damit reich werden könnte, sondern weil sie im letzten Lebensdrittel wieder da angekommen ist, wo sie hingehört. Nach all den Jahrzehnten, in denen ein Teil ihres Lebens wie chirurgisch von ihr abgetrennt war, ist sie endlich bei sich selbst angekommen. Ihr Leben ergibt rückwirkend Sinn, wer kann das von sich behaupten? Nur die Glücklichsten.
Hinter diesem unerwarteten Glück verblassen die Erinnerungen an die demütigenden Anfänge im Westen. Das Leben als Rucksackdeutsche, die entfernte Verwandte unwillig im feuchten Waschkeller einquartierten. Der Geruch von feuchter Schmierseife mischt sich in ihrem Gedächtnis mit dem der Ersatzmargarine aus Rapsöl und dem bitteren Geschmack ständiger Zurückweisung und Deklassierung.
Als Mädchen aus der Zone hat sie in der Schule nachsitzen müssen und als Lügnerin gegolten, weil sie es einmal – ein einziges Mal gewagt hat – von ihrem Leben auf Seelitz zu erzählen. Das war zu viel. Für etwas Besseres sollte sie sich nicht halten, sondern für etwas Schlechteres.
Im Wirtschaftswunder-Westen der fünfziger und sechziger Jahre hat sie zum ersten Mal gelernt, sich als heimatloses Opfer zu fühlen. Auch vor Ludger, ihrem Mann, der sich in der Rolle des Retters gefiel, dem es Spaß machte, ihr das Haushaltsgeld wöchentlich in Münzen zuzuteilen. Solche Ehemänner gab es damals. Hermine schüttelt unwillig den Kopf. Es lohnt nicht, an die kurzen Jahre ihrer Ehe einen Gedanken zu verschwenden.
Sie hat den Irrtum schnell korrigiert, nachdem sich keine Kinder einstellten, hat sich als Stationsschwester eines Krankenhauses gut geschlagen, ein unspektakuläres, aber ausgefülltes Leben geführt und mit Mitte fünfzig die Chance auf einen neuen Anfang bekommen. Sie sollte dankbar sein. Sollte? Hermine runzelt die Stirn über das Wort.
Wenn man nur Seelitz zu altem Leben erwecken könnte. Hör auf zu träumen, tadelt sie sich energisch und schaut in den leicht verhangenen Himmel. Ob es noch einmal Schnee geben wird?
Heute sicher nicht, das Jahr lässt sich gut an, und die Februarsonne setzt sich tapfer gegen die Wolken durch. Entschlossen erhebt sich Hermine, klopft sich die Hände sauber. Genug getrödelt, sie muss ein Zimmer vorbereiten. Am Abend erwartet sie einen Gast.
Liliane Wandler. Eine Kunstgutachterin, die auf Empfehlung von Alida Sammering zu ihr kommt. Als hätte die Witwe nicht Platz genug, im Gutshaus eine ganze Armee von Besuchern unterzubringen. Wirklich eine scheußlich egozentrische Person und...
»Ermine, es ist noch zu früh für diese Schmutzarbeit mit den Blumen. Und viel zu kalt.«
Rasch wendet Hermine den Kopf und erhebt sich.
»Guten Morgen, Vittorio.«
Der Italiener lehnt sich über den schmucken Holzzaun. »Haben Sie Zeit für einen Kaffee? Ich habe neue Nachrichten über Seelitz.«
»Kommen Sie herein.«
»No, ich meinte einen richtigen Kaffee. Scusi, einen italienischen.«
Hermine lacht.
»Was im Zweifelsfall das Gleiche ist. Ich liebe Ihren Latte macchiato. Warten Sie, ich hole meinen Mantel.«