Читать книгу Drei Frauen auf Rügen - Sabine Kästner - Страница 4

1

Оглавление

Sassnitz auf Rügen, Mitte Januar

»Finden Sie, dass es hier aussieht wie in Sorrent?« Hermine Tressewitz wirft einen Seitenblick auf Vittorio Lambarini, der seinen Mercedes über das Buckelpflaster von Sassnitz zum Meer hinab lenkt.

Ein Italiener sollte das beurteilen können, auch wenn die Winterdämmerung das Gewirr aus Gassen und verwitterten Hotelpalästen in ungnädiges Licht taucht. Ein rostgeflecktes Blechschild bewirbt seit mehr als hundert Jahren die »Erste Berliner Dampfbäckerei 1890«. Armut ist der beste Denkmalpfleger. Selbst all diese Jahre nach der Wende ist die Altstadt von Sassnitz ein Bilderbogen aus der Belle Époque. Vergilbt und angegraut, an den Rändern zerfressen, aber dafür echt.

Um 1900 muss das Seebad in blendendem Weiß gestrahlt haben, denkt Hermine und schließt kurz die Augen. Immerhin flimmert die Ostsee an Sonnentagen noch so türkis wie in ihrer Kinderheit, und die nahen Kreidefelsen – Rügens Wahrzeichen – leuchten wie steinerne Segel vor dem Himmel.

»Scusi? Was haben Sie gesagt, Hermine?«

Ein herausgebrochener Pflasterstein bringt das Auto und seine beiden Insassen zum Hüpfen.

»Theodor Fontane, der oft Gast in Sassnitz war, lässt seine Effi Briest beim Anblick von Kap Arkona und dem Königsstuhl ausrufen: ›Das ist ja Sorrent, das ist Capri.‹ Ich war nie dort, aber ich nehme an, da gibt es auch Steilküsten, Jugendstilvillen und Hotels, die in den Hang gebaut sind, und Balkone, die über dem Meer schweben.«

Vittorio zieht entsetzt die Augenbrauen nach oben, während er die letzte Kurve nimmt. Vor ihnen leuchtet »Rudi’s Fischbraterei«, ein Imbisswagen – natürlich mit Ost-Apostroph im Namen – der von drei unverdrossenen Touristen belagert wird. Im Hintergrund dümpeln Fischkutter, ein Schwarm Möwen kämpft um Brötchenreste. Die Ostsee schillert ölig im Licht gelber Hafenlaternen.

»Sassnitz soll wie Sorrent sein, wie Capri? Hermine, Ihre Fantasie geht mit Ihnen durch. No, no, no. Capri ist bellissima, eine Edelstein in azurblauem Wasser, darüber strahlt eine Sonne wie eine sizilianische Orange. Rügen ist eine wunderschöne Insel, aber Sassnitz? Sassnitz sieht wirklich nicht aus wie aus der Kartoffel gepellt.«

»Es heißt aus dem Ei gepellt. Übertreiben Sie es nicht mit Ihren Sprachwitzchen. Ich bin keine unbedarfte Touristin!«

»Gut, aber der Vergleich humpelt gewaltig! Sassnitz und Sorrent, no, no, no

»Aber es wird doch viel getan«, protestiert Hermine. «Die Gemeinde will die alte Strandpromenade wieder aufschütten und eine Baumallee pflanzen – wie früher.«

Einmal Rüganerin, immer Rüganerin. Hermine muss jeden Winkel ihrer Heimatinsel verteidigen, auch wenn sie erst seit drei Jahren wieder hier lebt. Sassnitz ist ihre Geburtsstadt.

»Und sie eröffnen hier Lokale wie die Kartoffelstube Sassnitz Mitte, stupido!«

Vittorio lenkt den Mercedes auf einen Parkplatz vor dem Hafenmuseum, das in einer ehemaligen Werfthalle untergebracht ist. Nebenan bemühen sich zugige Restaurants um maritimen Charme.

»Kartoffeln, mamma mia! Bin ich froh, dass mein Restaurant in Binz ist und ich Pasta serviere. Binz ist wundervoll. Sehr sauber, frisch gestrichen und im Sommer voller Touristen.«

Genau, denkt Hermine, und darum ist es nicht echt. Sassnitz hingegen ist eine ehrliche Haut, ehrlich wie eine Mecklenburger Kartoffel. Man sieht der Stadt ihre Geschichte vom armen Fischerdorf bis zum einst glamourösen Seebad an. Auch die aschgrauen Versuche, ein Arbeiterparadies aus Plattenbauten zusammenzuzimmern, sind nicht ganz beseitigt, und am Stadteingang verrottet ein »Lichtspielhaus« aus den Fünfzigern, als das Leben in Ost und West viel mehr gemein hatte, als heute jemand annehmen mag.

Anders als in anderen Teilen des Ostens wurden in Sassnitz nicht ganze Jahrzehnte wegsaniert. Licht und Schatten, die fetten und die mageren Jahre, alles zusammen ergibt eine Einheit. Hermine seufzt. Schade, dass die Menschen so wenig über ihre Geschichte wissen wollen und eine Disneyland-Version der Jahrhundertwende wie Binz vorziehen. Das Leben ist doch kein Wunschkonzert!

Sie ruft sich in die Gegenwart zurück. Natürlich hat Vittorio vom Standpunkt des Gastronomen trotzdem Recht. Binz ist verlockender. »Una grazia«, wie Vittorio sagt, der eine clevere Stütze des Tourismusvereins ist, dem Hermine als Binzer Pensionswirtin ebenfalls angehört. Außerdem ist er ein wunderbarer Freund, der sie an diesem unwirtlichen Januarabend zum Sassnitzer Hafenmuseum fährt.

Vittorio zieht die Handbremse an. So als befürchte er, sein Mercedes könne über den Parkplatz ins Meer rollen. »Haben Sie die Brille, Ihr Taschentuch und die Notizen für Ihren Vortrag dabei?«

»Meine Notizen sind hier drin«, sagt Hermine und tippt sich an den Kopf. »In meinem Alter sind die frühen Erinnerungen so frisch wie der erste Schnee. Vor allem meine Erinnerungen an Gut Seelitz.«

»Schnee! Malen Sie nicht Luzifer an der Wand. Es ist schon kalt genug.« Kopfschüttelnd läuft Herr Lambarini um den Wagen und öffnet Hermine die Tür. Galant reicht er ihr die Hand.

»Danke, Vittorio, aber aussteigen kann ich trotz meiner alten Tage noch allein.«

Sie schwingt die Beine mit damenhafter Präzision aus dem Auto und zieht ihren wadenlangen Wollrock glatt.

Vittorio verzieht den Mund. »Hermine, prego. Ich wollte nur höflich sein. Sie sehen keinen Tag älter aus als..., nun ja, als Sie sind.«

Hermine schlägt die Beifahrertür zu, schlingt sich einen puderblauen Paschminaschal um den Hals und lacht.

»Erwischt, Vittorio. Mein wahres Alter kommt Ihnen doch nicht über die Lippen. Siebenundsechzig, damit Sie es nur wissen. Sie könnten mein Sohn sein.«

Vittorio nimmt sie beim Arm und führt sie zum Museumseingang.

»Dann hätten Sie früh anfangen müssen mit den Babys, ich bin bald zweiundfünfzig und habe leider nicht Ihr zartes Gesicht, sondern die Don-Camillo-Nase von meinem Papa.«

Anerkennend fahren seine Augen über Hermines fein konturierte Züge, die hohen Wangenknochen, die feminine Nase. Sie ist una donna vera! Eine wahre Dame, die ihn an eine Kamee aus rosa Perlmutt erinnert. Kameen, wie es sie in Sorrent tatsächlich gibt. Hermine besitzt überdies eine Haltung, die sie sich im Kampf mit Schicksalsschlägen erworben haben muss. Ein paar Krähenfüße um die silbrigen Augen fechten eine solche Erscheinung nicht an – aber Hermine.

»Papperlapapp, Sie Schmeichler! Ich bin eine alte Frau.« Seufzend fügt sie hinzu. »Und leider hat es mit den Babys bei mir nicht geklappt.«

Sie schluckt kurz.

Ach was, das hat sie überwunden, genau wie ihre kurze, unerquickliche Ehe, die ein ganzes Leben zurückzuliegen scheint und einer anderen Welt angehörte, einer Welt, in der sie nie zu Hause war. Vittorio drückt ganz leicht ihren Arm, während sie über den Parkplatz gehen. Hermine reckt das Kinn.

»Nun ja. Ich habe keinen Grund zu klagen. Immerhin habe ich meine wundervolle Pension in Binz und meine Erinnerungen. Es ist nur schade, dass es niemanden gibt, mit dem ich sie teilen oder dem ich alles vererben kann. Mein Glück ist irgendwie an mich verschwendet.«

Vittorio bleibt einen Moment stehen und schaut sehr streng. »Ihre Erinnerungen sind nicht verschwendet. Sie sind Gold wert. Ihr kleines Buch über Ihre Kindheit auf Gut Seelitz verkauft sich gut. Der Drucker vom Tourismusverein hat mir gesagt, es wird sogar aus Berlin und die Rest von Deutschland bestellt. Keine Wunder bei dem Erzähltalent.«

Hermine errötet leicht. »Sie übertreiben. Achthundert Stück hat er bis jetzt losbekommen. Das reicht nicht zum Bestseller.«

Schließlich handelt es sich nur um die Erinnerungen einer sentimentalen Närrin, die in ihrem Leben eine einzige große Liebe hatte: Rügen und das Gutshaus Seelitz. Trotzdem ist sie froh, das Buch geschrieben zu haben. Auf diese Weise konnte sie ihre Ursprünge, von denen im Westen jahrzehntelang keiner etwas wissen wollte, wieder lebendig werden lassen. Und all die Menschen, die sie geliebt hat.

Vielleicht lesen das Buch einige vergessene Weggefährten, die wie sie Kindersommer auf der Insel verbringen durften und nie vergessen haben. Rügen vergisst man nicht. Für Hermine hat die Insel trotz aller Veränderungen nie ihren Zauber verloren.

Die dunkel bewaldeten Hänge der Granitz, die buchengesäumten Küsten aus Kalkgestein, die verschilften Bodden, die perlweißen Strände und die Hügel des Mönchgut bilden eine Landschaftssinfonie, in die sie sich jeden Tag aufs Neue verliebt.

Als könne Vittorio Gedanken lesen, fährt er fort: »Si, Rügen ist eine Legende. Sehen Sie doch, wie viele Leute sind gekommen, um Sie zu hören.«

Vor dem Kassentisch im Museum drängeln sich Einheimische und Touristen in Mänteln und Anoraks, kramen nach Portemonnaies, studieren den Ankündigungszettel:

»22. Sassnitzer Sturmgespräch: Das Gutshaus Seelitz und seine Besitzer – eine Zeitzeugin erinnert sich.«

Die Zeitzeugin errötet tief, weil sie es nicht gewohnt ist, im Mittelpunkt zu stehen. Mit zögerndem Lächeln begrüßt Hermine den Museumschef, der ihre Hand ergreift und sie daran ins Warme zieht.

»Frau Tressewitz, möchten Sie vorher noch einen Tee? Es ist kühl im Saal. Aber das wird sich bald ändern, so voll, wie es wird. Ich befürchte, wir können nicht alle Besucher unterbringen. Wie immer ein sehr gemischtes Publikum. Kommen Sie, kommen Sie.«

Hermine winkt Vittorio, der sich draußen eine Zigarette angesteckt hat.

»Ich gehe schon vor.«

Vittorio nickt und raucht. Eben will er die Zigarette in einer sandgefüllten Tonne ausdrücken, als ein weiterer Mercedes vor dem Museum einparkt. Ein Modell der S-Klasse, silbern und aufdringlich neu. Ihm entsteigt ein Mann in dunklem Kaschmir. Federnd wie ein Athlet umrundet er das Auto und öffnet den Wagenschlag für eine Dame, die sich anders als Hermine nicht für zu jung hält, um sich aufhelfen zu lassen.

Dabei tut sie ansonsten alles, um jugendlicher zu erscheinen, als sie ist. Glamouröse Versace-Jeans, eine auf Kleidergröße 36 heruntergehungerte Figur und das zu glatt geschminkte Gesicht verraten Vittorio vor allem eins: Alter ist der Angstgegner dieser Frau, Kosmetik und männliche Aufmerksamkeit sind ihre Drogen.

Ihr Begleiter drapiert einen Pelzmantel über ihre Schultern und stützt die stöckelbeschuhte Dame beim Gang übers Buckelpflaster. Was für ein Paar! Sie passen in die Sassnitzer Hafenkulisse wie Opernfreunde in die Fankurve einer Fußballarena. Die beiden gehören ins mondäne Binz, am besten in sein Edel-Restaurant La Vita, wo sie sein Menü Sorpresa zu fünfundneunzig Euro bestellen sollten.

Vittorio flucht, weil die heruntergebrannte Zigarette ihm den Daumen versengt. Ärgerlich stippt er den Stummel in den Sand.

»Guten Abend, findet hier dieses Sturmgespräch statt?«

Vittorio blickt hoch und in das Gesicht des Kaschmirkerls. Schönling, schießt es ihm durch den Kopf. Vielleicht auch Gigolo? Die skandinavisch blonde Version mit kantigem Wikingerkinn, Strahlelächeln und dem kalten, dummen Blick der Gier.

Vittorio nickt, während er die Frau an der Seite des Wikingers mustert. Das Neonlicht über dem Eingang durchdringt wie Röntgenstrahlen ihr Make-up und entblößt papierdünne Haut. Ein, zwei Liftings hat sie hinter sich. Er tippt sie auf Anfang oder Mitte fünfzig. Bislang hat er die Frau immer nur von ferne gesehen, doch er erkennt sie und entscheidet sich für eine Extraportion Italo-Charme, süß und dick aufgeschlagen wie Zabaglione.

»Signora Sammering! Was für eine Freude, Sie hier zu begrüßen. Hermine Tressewitz wird geschmeichelt sein, dass Sie zu dem Vortrag kommen.« Alida Sammering mustert ihn mit feindseligem Misstrauen.

Vittorio senkt seine Stimme. »Und das so kurz nach diesem tragischen Verlust von Ihrem Gatten.« Seine dunklen Augen schimmern feucht. Todesfälle machen ihn traurig. Etwa der seines Cockerspaniels Pistaccio. Er muss nur an dessen seidiges Fell denken, schon empfindet er sogar Trauer über das Ableben von Ewald Sammering.

Der letzte Besitzer des Gutshauses Seelitz ist im vergangenen Oktober mit stolzen zweiundneunzig Jahren abgetreten. Hinterlassen hat er eine höchst überschaubare Anzahl Trauernder und ein Testament, das einiges Kopfschütteln hervorgerufen hat. Schließlich hat der ehemalige Eintopfproduzent seine beachtliche Gemäldesammlung mehreren Tierheimen und nicht seiner Gattin vermacht. Die bekommt nur das marode Gutshaus. Vittorio mustert die Witwe voll Mitgefühl. Er liebt Tiere, aber er würde ihnen kein Vermögen vermachen. Das muss schmerzen. »Ich darf herzlich Beileid wünschen, Signora?«

Alida Sammering zögert, dann neigt sie vorsichtig den Kopf, weil sie hoheitsvoll erscheinen oder ihre Frisur schonen will.

»Mein Finanzberater hat mich überredet herzukommen. Er hat dieses Buch über Seelitz gelesen und glaubt, dass der Vortrag uns Verkaufsargumente liefern könnte. Ein Haus mit einer bedeutenden Geschichte findet eher einen Liebhaber als eine Ruine, meint er. Ich möchte schnell verkaufen.« Sie macht eine kurze Pause, zwingt in ihr straffes Gesicht einen Ausdruck milder Betroffenheit. »Der schmerzlichen Erinnerungen wegen.«

Vittorio verzieht mitfühlend den Mund, als handele es sich um seine Erinnerungen. Etwa an Pistaccio.

»Alida«, protestiert ihr Begleiter geschmeidig, »Seelitz ist alles andere als eine Ruine. Wir haben es mit einer attraktiven und geschichtsträchtigen Immobilie zu tun, die schon jetzt Liebhaber anzieht. Denken Sie an meinen Kontakt in Berlin. Die potentielle Käuferin ist geradezu enthusiastisch.«

Vittorio grinst. »Ich nehme an, Sie sind der einfühlsame Finanzberater?«

»Clemens von Krolow«, stellt der Mann sich knapp vor und zieht seine Begleiterin wie eine Beute ins Museum.

»Kommen Sie, Alida, ich will uns einen Platz sichern. Ist Ihnen auch warm genug? So zart wie Sie sind, frieren Sie sicher rasch.«

Frau Sammering lächelt und lässt die Wimpern flattern wie Kolibriflügel.

Vittorio stößt einen lautlosen Pfiff aus. Der Mann will mit allen Mitteln Geld aus der Witwe rausholen. Das ist klar. Wird nicht leicht sein. Gut Seelitz ist eine von vielen Luxusimmobilien im Verfallsstadium, die Rügen zu bieten hat und für die sich ein potenter Investor finden muss. Nur welcher? Reiterhöfe, Wellness-Ressorts, Golfakademien – die Insel ist gesegnet mit Top-Adressen, aber die Top-Touristen sind knapp.

Hermine dürfte es nicht gefallen, wenn Seelitz zu einem Spekulationsobjekt verkommt. Sie ist eine Vorkämpferin des sanften Tourismus. Am liebsten würde sie die Insel in einen Naturpark verwandeln und Busverbindungen zur Stubbenkammer verbieten, weil nur einsame Wanderungen der wilden Schönheit gerecht werden.

Hermine ist eben eine Träumerin.

Allerdings eine Träumerin mit einem Willen aus Stahl.

Drei Frauen auf Rügen

Подняться наверх