Читать книгу Drei Frauen auf Rügen - Sabine Kästner - Страница 12
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ОглавлениеWenig später biegen sie in stummem Einverständnis in den schmalen Pfad ein, der an der Villa Möwe vorbei hinab zur Uferpromenade führt. Strandgras streicht um ihre Beine, ihre Füße versinken im Hangsand.
»Das müsste auch mal gepflastert werden«, meint Vittorio streng. »Unsere Touristen mögen nicht zu viel Wildnis, nur einen kleinen Hauch davon.«
»Um Gottes willen, keine Steine«, wehrt Hermine ab. »Ich bin dankbar für jedes bisschen unberührte Natur, die Binz noch zu bieten hat. Und Touristen, die das hier für eine Wildnis halten, können mir gestohlen bleiben.«
»Aber das können Sie sich nicht leisten, Hermine!« Vittorio kämpft mit einer vertrockneten Diestel, die sich an sein Hosenbein klammert. Unberührte Natur kann sehr lästig sein.
Sie schweigen, bis sie den glatt besteinten Weg entlang der noblen Hotelmeile erreicht haben. Rechter Hand schlagen grollend die Ostseewellen ans Ufer. Hermine bindet ihr Kopftuch fester, der Stoff knattert im Seewind.
»Ich habe herausgefunden, wer das Gutshaus kaufen will«, beginnt Vittorio unvermittelt.
»Tatsächlich? Wie haben Sie das geschafft?«
»Mit meinem unglaublichen Charme und viel Prosecco für die Witwe. Es war der beste, nicht das Gratiszeug für die Gäste. Außerdem ist sie eine Freundin von der astrologia und hält mich seit dem Abend im Museum für einen umwerfenden Mann, den die Sterne ihr geschickt haben. Hoffentlich denkt sie dabei nicht an Venus.«
Hermine schmunzelt. Vittorio ist ein begehrter Junggeselle – und ein begeisterter. Er behauptet gern von sich, er suche eine Frau mit Geheimnis, fände aber keine. Womit er auch seine brennende Leidenschaft für die Enthüllung der Geheimnisse anderer Menschen erklärt. Eine Neigung, die gröbere Zeitgenossen mit einem Hang zu Klatsch und Tratsch verwechseln, wie Vittorio zu klagen pflegt. Hermines Lächeln vertieft sich bei Vittorios neuestem Bericht.
»Eine private Person will das Gut haben. Also wird es wohl keine Golfakademie oder eine traurige Bauruine, weil ein naiver Hotelier sich verschätzt und am Ende Pleite macht. Und wissen Sie was? Ihre Geschichte von diesem Gemälde hat wohl das Interesse von dem Käufer angefeuert.«
Hermines Lächeln versandet, sie beißt sich auf die Lippen.
»Mein Gott, das habe ich nicht gewollt.«
Vittorio wirft ihr einen listigen Blick zu. »Sie haben also das geheime Bild für sich selbst gewollt? Sie wollten es suchen in der finsteren Nacht? Haben Sie darum in dem Buch nur so wenig davon verraten?«
Hermine bleibt stehen und studiert mit schlechtem Gewissen das Veranstaltungsplakat des Kurhauses. Varieté und Zauberkünstler werden angekündigt. Wie passend.
»Ach was. Ich weiß im Grunde nicht viel Neues darüber, außer dass das Bild nach dem Krieg fort war. Zu diesem Zeitpunkt lebten meine Mutter und ich schon lange in der Villa Möwe.«
Vittorio schaut sie neugierig von der Seite an. »Aber Sie haben doch Informanten, sagten Sie!«
Hermine wiegt nachdenklich den Kopf. »Stine hat mir ein wenig darüber erzählt, sie glaubt aber, dass das Bild weg ist. Außerdem habe ich Hänsel und Gretel befragt. Die beiden behaupten steif und fest, dass da noch ein wertvolles Bild auf Seelitz sein muss.«
Vittorio wirft die Hände in die Luft. »Mamma mia. Hansel und Gretel! Ermine, das geht zu weit. Die behaupten auch, sie können Japanisch und Geige spielen.«
Hermine zieht ihr Kopftuch fest. »Geige spielen kann Hänsel in der Tat! Sogar recht hübsch. Malte hat es ihm beigebracht. Drei oder vier Stücke. Mit unendlicher Geduld. Bei unseren Scheunenfesten auf Seelitz hat Hänsel dann immer Schubert gespielt, allerdings nur bei Mondschein, da war er eigen.«
Vittorio schüttelt immer noch tadelnd das Haupt. Hermine atmet tief ein, die eisige Seeluft streicht über ihre Lungenflügel und gibt ihr – wie immer – Kraft.
»Ach Vittorio, ich fand die Geschichte vom verborgenen Schatz einfach romantisch. Malte hätte sie gefallen, und bei meinem Vortrag wollte ich die dumme Witwe Sammering beeindrucken. Dabei scheint sie nicht einmal von ihren eigenen Bildern beeindruckt. Was für eine Verschwendung. Diese Frau kennt von allem den Preis, aber von nichts den Wert.«
Vittorio grinst versöhnt und nickt. »Das ist wahr.«
Sie schlendern an der Prachtfassade des Kurhauses vorbei, passieren die neue Konzertmuschel, in der sich das Echo der Ostseewellen fängt.
»Wenn Sie das Tohuwabohu im Schloss gesehen hätten! Terribile! Die Gemälde stehen vor den Wänden. Mit ihren Gesichtern nach hinten. Und ganz verstaubt. Es wird Zeit, dass die Kunstgutachterin aus Köln kommt und Schluss macht mit dem Durcheinander.«
»Sie durften Seelitz besuchen?«
Hermine schaut ein wenig verletzt und wendet sich schnell dem Strandhafer zu ihrer Rechten zu, der müsste mal gelichtet werden.
»Nur ganz kurz«, versichert Vittorio eilig. »Die Vorhalle. Aber lange genug, um die Witwe zu überreden, dass sie diese Frau Wandler zu Ihnen in die Möwe schickt.« Mit unwiderstehlicher Büßermiene schaut Vittorio in Hermines Gesicht.
»Das war sehr nett. Ein Dauergast in der Vorsaison ist ein Segen für mich, und sie will mindestens drei Wochen bleiben. Sie klang am Telefon recht jung, solche Gesellschaft wird mir sicher gut tun.«
»Perfetto! Und es kommen sicher noch mehr Gäste! Wegen dem Bilderverkauf auf Seelitz und naturalmente wegen dem verschwundenen Friedrich. Lauter Schatzsucher!«
»Besser nicht«, murmelt Hermine. »Ich fürchte, sie würden alle eine Enttäuschung erleben.«
Sie biegen in den Aufgang zu seinem Restaurant La Vita ein, das zurückversetzt in einer kreideweißen Strandvilla untergebracht ist. Vor dem Säuleneingang stehen Buchsbäume stramm und haben Aussicht aufs Meer. Drinnen ist es warm, aber laut. Dafür sorgen Handwerker, die eine Wand aufstemmen. Gipswolken vernebeln die Sicht.
»Ich hoffe, die Renovierung ist fertig bis Ende März«, schreit Vittorio gegen Staub und Lärm an, »es soll hier noch prachtvoller und bunter werden. Ich will etwas Einzigartiges, ein Fest des Lebens.«
Er verordnet den Arbeitern eine Kaffeepause. Die schauen unschlüssig drein und betrachten fast sehnsüchtig ihre Vorschlaghämmer.
»Ts ts ts. Ihr Polen seid alle soooo fleißig. Was soll nur werden aus unserem gemütlichen Europa, wenn alle nur an Arbeit denken wie ihr? He? Avanti, nix robota, an den Kaffeeklatsch.«
Die Arbeiter ziehen sich an einen Tisch im Hintergrund zurück und packen verlegen Brotdosen aus. Hermine schickt ihnen einen mitfühlenden Blick hinterher. Hoffentlich wissen sie, dass Vittorio vom lustigen Bonvivant übergangslos auf den kleinen Diktator umschalten kann – sonst wäre er niemals Chef eines florierenden Luxusrestaurants geworden.
Vittorio krempelt – ganz in der Rolle des heiteren Müßiggängers unterwegs – sein Hemd hoch und postiert sich hinter einer stahlschimmernden Maschine, um Milch aufzuschäumen. Hermine nimmt an einem Tisch beim Fenster Platz, bis Vittorio ihr den Latte macchiato in einem dickwandigen Glas serviert. Genüsslich taucht sie einen langstieligen Löffel hinein und kostet den mit Zimt gewürzten Schaum.
Vittorio reicht ihr ein Amarettoplätzchen. »Ein Kaffee ohne Keks ist kein Kaffee. Wussten Sie übrigens, dass Ihr neuer Gast mit diesem Schlitzohr Clemens von Krolow verheiratet war?«
Hermine schüttelt verblüfft den Kopf. Vittorios Enthüllungstalente sind wirklich erstaunlich. Kein Wunder, dass er noch nie eine Frau mit Geheimnis getroffen hat, die ihn dauerhaft zu fesseln verstand.
»Ja, das ist wunderlich, nicht wahr? Ich habe lange darüber nachgedacht. Vielleicht soll Frau Wandler nach dem berühmten Bild suchen! Ihr Vater war der Kunsthändler von Herrn Sammering. Kein Wunder, wenn bald alle Welt glaubt, es gibt einen Friedrich auf Seelitz. Dieser Leopold Wandler soll ein Trüffelschwein der Kunst sein.«
»O Vittorio, hören Sie auf, mir wird ganz bange. Was habe ich da nur angerichtet. Sogar in der Ostseezeitung stand ein Bericht über meinen Vortrag, und ein Kunstmagazin hat eine Geschichte daraus gemacht. Ich schäme mich richtig.«
»Warum? Sie haben unsere schöne Insel in die Schlagzeilen gebracht und diesen Clemens auf eine clevere Idee. Er hat anscheinend schon eine reiche alte Frau gefunden, die Märchen mag. Und Schlösser mit unsichtbaren Schätzen.« Vittorio grinst. »Sie soll etwas plumplum sein.«
»Plumplum? Ach, Sie meinen plemplem.«
»Das hat jedenfalls Alida gesagt, dabei hat sie selbst die Weisheit höchstens mit ganz kleinen Zuckerlöffeln gegessen. Ah no, nicht einmal das, sie nimmt nur Süßstoff. Brrr.«
»Aber was soll eine alte Dame mit einem riesigen Haus wie Seelitz wollen?«
Vittorio zuckt die Achseln.
»Vielleicht von der Vergangenheit träumen. Diese Frau Graf hat in ihrer Jugend auf Rügen gelebt, wie Sie. Und sie hat Seelitz gekannt, meint Alida.«
Hermine runzelt die Stirn. »Graf? Den Namen habe ich nie gehört.«
»Sie besitzt eine Landmaschinenfabrik in Berlin.«
Klappernd fällt der Löffel aus Hermines Hand auf die Untertasse. »Landmaschinen? Sie meinen Traktoren und Mähdrescher?«
Vittorio hebt erstaunt die Augenbrauen. »Sì, vor allem Traktoren. Interessieren Sie sich für einen? Ihr Garten ist zu klein für einen Traktor.«
Hermine überhört den Scherz. Aufgeregt beugt sie sich über den Tisch. »Wissen Sie zufällig, wie die Käuferin mit Vornamen heißt? Es ist wichtig. Sehr wichtig.«
Ihr Gegenüber verzieht Mund und Stirn und Nase bei der angestrengten Durchsuchung seines Gedächtnisses. »Es war etwas Ungewöhnliches, so wie Ihr Name. Etwas mit Gina, nein, Lina? Oh, ich habe es!«
»Edwina«, stößt Hermine atemlos hervor. Auf ihre rosigen Wangen tanzen dunkelrote Flecken.
»Sì! Edwina.«
»Sie hat also geheiratet.«
Entrüstet poliert Vittorio Hermines Löffel. »In dem Alter? Dann muss sie total plumplem sein.«
Hermine guckt nur streng. »Sie missverstehen mich. Sicher ist sie schon länger verheiratet, aber ich dachte, sie wäre tot, weil ich nie mehr von ihr gehört habe.«
»Mamma mia. Tot oder verheiratet. Das ist ein Unterschied, nun ja, ein winzig kleiner. Sie kennen die Dame also?«
Zögernd nickt Hermine. »Ja, aber wir haben uns fast fünfzig Jahre nicht gesehen oder voneinander gehört. Sie muss jetzt zweiundachtzig Jahre alt sein. Oder noch älter.«
»Was vielleicht erklärt, warum sie sentimental genug ist, um Seelitz zu kaufen.«
Hermine greift nach ihrem Mantel.
»Das glaube ich nicht. Edwina war zwar immer unberechenbar und wild, aber sentimental sicher nicht. Sie hat Seelitz gehasst. Sie hat alles gehasst, was mit dem Haus zusammenhing.«
Sogar mich, setzt sie in Erinnerung an ihre letzte Begegnung mit Edwina hinzu. Eine traurige Angelegenheit, schlimmer als ein Leichenschmaus. Im Café Kranzler haben die zehnjährige Hermine und ihre Mutter Gudrun ihr gegenübergesessen. Die magere Buttercremetorte schmeckte nach gestrecktem Puddingpulver und trotzdem herrlich, wenn einem der Hunger Löcher in den Bauch fraß.
Der Krieg war erst zwei Jahre vorüber, Berlin ein Trümmerfeld und Edwinas Lächeln so künstlich wie der Milchersatz.
»Die Vergangenheit ist vorbei, Gudrun. Lass mich damit in Ruhe. Ich kenne nur eine Marschrichtung. Geradeaus und immer mitten durch. Schluss mit allen Illusionen. Wenn du mit dem Kind auf Rügen bleiben willst, tu das. Jeder Mensch macht seine eigenen Fehler. Ich habe die meinen hinter mir. Seelitz war der allergrößte.«
Jeder Satz eine Ohrfeige, so hatte sich das angefühlt. Gudrun hat es sich verkniffen, ihre ehemalige Freundin – wenn Edwina das je gewesen war – um eine kleine Unterstützung für die Renovierung der Pension Möwe zu bitten, die unter den einquartierten russischen Soldaten arg gelitten hatte.
Edwina hatte damals bereits ihre Firma gegründet. Einen Traktorenverleih. Ihr erstes und einziges Gefährt stammte noch vom Gut, und sie wusste, wie man es flotthielt. Von etwas anderem als ihrem Geschäft wollte sie nicht reden. Schon gar nicht über Rügen und schon gar nicht mit »dem Kind«. Mit Hermine, die Edwina wie eine große Schwester geliebt hatte und plötzlich ihre Feindin zu sein schien. Das hat wehgetan.
Die erwachsene Hermine erhebt sich wie erschöpft von ihrem Stuhl. Vittorio hilft seiner Freundin in den Mantel und muss sich zurückhalten, um ihr nicht das verrutschte Kopftuch neu zu binden. Aufgelöste Kleidung passt nicht zu Hermine, ebenso wenig wie ein trauriges Gesicht. Dagegen muss er etwas unternehmen.
»Sie ist eine Hasserin von Seelitz? Dann muss diese Edwina völlig verrückt sein! Ein törichtes Soßenhuhn.«
Hermine versucht zu lächeln, aber sie scheint vergessen zu haben, wie das geht, ihr Mund macht nicht mit.
»Danke für den Kaffee, Vittorio, ich muss jetzt los, um das Zimmer für Frau Wandler zu richten.«
Und um nachzudenken. Über Edwina Graf, geborene Kettner, die es sich in den Kopf gesetzt hatte, Malte von Seelitz zu heiraten. Nicht weil sie Gutsherrin sein wollte, sondern weil sie mit der ganzen Verzweiflung einer Achtzehnjährigen, die die Eltern und das Zuhause in Westdeutschland bei einem Bombenangriff verloren hatte, in den melancholischen Träumer Malte verliebt war.
Auf die Verzweiflung war schnell der Zorn der Enttäuschung gefolgt. Und der Zorn war in bitteren Hass umgeschlagen, als Edwina herausfinden musste, dass Malte von Seelitz kein Mann zum Heiraten war. Für niemanden. Stine, Gudrun und all die anderen Frauen auf dem Gut hätten es ihr sagen können. Malte war ein Sammlertyp, nicht nur in der Kunst.
Hermine eilt die stillen Straßen hinter den Hotelfronten entlang. Normalerweise liebt sie einen Bummel durch die kleinen Boutiquen und Galerien, die vor Saisonbeginn leer sind und statt des unvermeidlichen Bernsteins und der Billigware exquisite Kleidung und Kunsthandwerk für anspruchsvolle Touristen der Vorsaison anbieten.
Grußlos strebt sie an einem Ladenbesitzer vorbei, der die Hand hebt, um zu winken. Sie sieht nur Edwina vor sich. Ein schlaksiges Mädchen mit zu langen Beinen und Armen, die sie nicht stillhalten kann. Alles an ihr ist lebhaft, das nussbraune Gesicht, die Handbewegungen, ihr Lachen und ihre schnell entflammbare Wut.
Edwina war nicht hübsch, aber so vital und voller Unternehmungslust, dass man sich mit ihrem Aussehen nie näher beschäftigte. Was hat ein langes Leben aus ihr gemacht? Sicher eine erfolgreiche Geschäftsfrau, aber was noch?
Hermine erreicht den Vorgarten ihrer Pension, läuft achtlos an Krokussen und Hortensiengesträuch vorbei. Auf der Türschwelle wartet eine Katze. Gedankenverloren tätschelt Hermine ihr den Kopf und sucht nach ihren Schlüsseln.
»Kriegst gleich dein Fressen, Puschkin. Einen Moment nur.«
In Gedanken bleibt sie bei Edwina, hört das Geratter und Gerüttel einer Maschine. Das wird der Traktor sein, mit dem sich Edwina während der letzten Kriegstage auf den bitterkalten Weg gen Westen gemacht hat. Energiegeladen wie eine Löwin und mit dem festen Willen, zu überleben. Den Krieg und die Liebe. Weit weg von Seelitz und noch weiter weg von Malte.
Es muss ihr gelungen sein – als Firmengründerin und Ehefrau. Warum will sie nun zurückkehren? Nach fünfzig Jahren?
Als Hermine ihr Kopftuch abbindet, entdeckt sie das rote Blinken ihres Anrufbeantworters. Sie drückt auf Wiedergabe. Der Anruf erstaunt sie nach diesem Vormittag nicht.
Ihr stummer Verfolger hat sich endlich entschlossen zu reden.
»Hallo, hier spricht Edwina. Du erinnerst dich sicher. Es geht um Seelitz. Ich habe vor ein paar Monaten dein Buch gelesen und denke seither darüber nach, das Gutshaus zu kaufen. Ruf mich an...«
Die rebellische Stimme nennt eine Telefonnummer in Berlin. Nur einmal. Bloß keine Wiederholungen. Nicht, wenn es um die Vergangenheit geht. Nein, das Leben hat keine sentimentale Närrin aus Edwina gemacht. Das erleichtert Hermine. Schon als Kind hat sie die energische Edwina vergöttert, während ihr die verliebte Edwina unheimlich war.
Sie reißt ein Blatt vom Notizblock und will sich die Nummer notieren, als nach einer kleinen Pause noch einmal Edwinas Stimme ertönt. Als verschwörerisches Flüstern und etwas atemlos. Den Ton kennt Hermine nicht und horcht auf.
»Und noch eins, wenn sich ein Simon Stepford bei dir meldet, er ist mein Enkelsohn und heißt in Wahrheit natürlich Graf, aber das ist eine andere Geschichte. Erzähl ihm bitte alles, was du über das Friedrichgemälde weißt. Der Dummkopf will mir kein Wort glauben und undercover recherchieren. Er hält mich für tatterig. Das bin ich aber nicht. Ich tu nur manchmal so.«
Im Hintergrund wird eine Stimme laut. »Edwina?«
Es ist eine erschöpfte Stimme. Männlich. Wahrscheinlich der Enkel, denkt Hermine und findet ihn auf Anhieb sympathisch.
»Ich habe ein sehr schmerzhaftes Hühnerauge zwischen den Zehen und brauche einen Termin, Herr Doktor. Rufen Sie mich also an, sobald es möglich ist. Also sehr bald«, beendet Edwina das Gespräch mit Hermines Anrufbeantworter.