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Köln, Ende Februar

Sie hätte sich den Besuch hier sparen sollen, denkt Liliane Wandler und rutscht auf ihrem Stuhl bis zur Kante. Sie hat vor ihrer Abreise nach Rügen noch so vieles zu erledigen. Außerdem trifft sie heute Abend Clemens. Zum ersten Mal seit der Scheidung. Allein und außerhalb eines Gerichtssaals. Des mysteriösen Friedrichbildes wegen. In was er sie nun wieder hineinziehen will? Nur nicht dran denken. Nervös tasten ihre Augen die gelbe Raufaser hinter dem Schreibtisch ab und bleiben an einer Schautafel hängen.

Scheußlich, diese anatomische Darstellung des menschlichen Körpers. Welcher Patient will schon wissen, wie ein gehäuteter Mensch aussieht? Die medizinische Plastik eines zerschnittenen Herzmuskels ist nicht erhebender. Ihr Blick flüchtet zu dem August-Macke-Druck im Rücken ihres Arztes.

Doktor Valbinger lehnt sich gewichtig über seinen Schreibtisch. Er faltet die Hände, die ein Aroma von medizinischem Alkohol und Kugelschreibertinte verströmen.

»Ihre Blutwerte und das EKG sind in Ordnung. Auch die Computertomographie meines Kollegen zeigt keine Anomalien. Physisch scheinen Sie in Ordnung, aber...«

Jetzt kommen die Predigt und der Psychoteil! Dafür kann er sicher Zusatzkosten abrechnen. Ziffer 45 für drei Minuten Seelenchirurgie und vier Minuten mentale Herzmassage. Lilli streicht ihren Kostümrock glatt und reckt das Kinn. Sie hat ihre Locken straff zurückgekämmt und die Brille aufgesetzt, so wie sie es für geschäftliche Termine tut.

Ihr Arzt kann sie also kaum für eine überforderte, kürzlich geschiedene Alleinerziehende in wirtschaftlicher Notlage halten, die ihre Probleme durch den Missbrauch von Betäubungsmitteln bewältigen will.

Brillante Diagnose! Klappe da drinnen.

Sie ist nicht der Typ für emotionale Probleme. Ihr einziger großer Irrtum in dieser Hinsicht war Clemens, die Liebe eben. Braucht sie nicht. Ihre Brust wird eng, Lilli zwingt sich zu atmen.

Der Arzt übernimmt wieder. »Am Befund ist nichts Ungewöhnliches, Frau Wandler, aber diese Schwindelanfälle, das Herzrasen und Ihre plötzliche Neigung zu Hyperventilation geben mir zu denken.«

Mir auch, Sie Dussel, kommentiert Lilli stumm. Ihre Nerven haben in letzter Zeit eine Menge aushalten müssen. Sie sind dünn wie 11-den-Strümpfe und so reißfest wie Zuckerwatte.

»Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass Sie für eine Weile alles, was mit Kunst zu tun hat, meiden sollten, Frau Wandler. Es regt Sie, so wie ich das sehe, zu sehr auf.«

Nachdenklich betrachtet er die vorwitzige Locke, die sich aus Lillis Pferdeschwanz befreit hat und über ihren Ohren tanzt. Sie könnte sehr hübsch sein, wenn sie gelöster wäre. So wie ihre Haare. Und die Brille sollte sie durch Kontaktlinsen ersetzen oder weglassen.

Er erinnert sich noch gut an Lillis große grüne Kinderaugen, mit denen sie ihn als Sechsjährige angestarrt hat, während er in ihrem Hals nach Anginasymptomen suchte. Aus dem schüchternen Fratz ist eine Frau geworden, die ihre Reize zwanghaft versteckt.

»Übernehmen Sie keine zu anspruchsvollen Aufgaben, Liliane. Frau Wandler natürlich.«

Lilli konzentriert sich auf den Macke. Herrlich, diese Komposition aus Rot, Orange und Blau. Unter einem Zeltdach balanciert ein Seiltänzer in grasgrünem Trikot. Eine Gauklerszene. Lillis Puls beschleunigt sich. Kunst und Gaukler! Natürlich zieht sie das magisch an. Typisch. Und dazu ein Drahtseilakt. Besser könnte man ihr Leben der letzten Monate nicht illustrieren. Schwindelgefühle überkommen sie erst, seit sie weiß, wie hoch sie sich jahrelang über dem Boden der Tatsachen bewegt hat, ohne um die Abgründe zu wissen. Sie schnappt nach Luft.

»Was ist mit Ihnen, Frau Wandler?«

Lillis Blick pendelt zum Doktor zurück.

»Nichts, ich betrachte nur den Macke.«

Der Arzt schüttelt tadelnd den Kopf. »Und hyperventilieren dabei. Ein selten interessanter Fall von Berufskrankheit, dabei malen und restaurieren Sie doch schon lange nicht mehr?«

»Nein«, schnappt Lilli. »Um Himmels willen. Nein!«

Der Arzt starrt sie an, als wäre sie eine paranoide Laborratte. Liliane rückt ihre Brille gerade.

»Verzeihung, ich wollte nicht schroff sein, aber mit meiner Malerei könnte ich kaum ein Kind ernähren, und Restaurierungen sind zeitaufwendig. Als Vertreterin für Kunstversicherungen habe ich es leichter.«

Sie ist immer stolz darauf gewesen, Charlotte und sich alleine über die Runden zu bringen, schließlich hat Clemens das Kind nicht haben wollen. Also hat sie ihren Traum vom Künstlerdasein noch tiefer vergraben, als er es ohnehin schon war, und sich in der Versicherungsbranche durchgeboxt.

Sie richtet sich auf und hakt ein paar widerspenstige Locken hinter die Ohren. In Sachen wertvoll oder wertlos, Original oder Fälschung macht ihr so schnell niemand etwas vor.

Außer deinem Vater, nicht wahr? Der hat das jahrelang geschafft!

Der Schreibtisch vor ihr gerät ins Schlingern, als herrsche Seegang in der Praxis.

»Wenn Sie selbst nicht mehr mit Farben arbeiten, kann eine Allergie gegen Lösungsmittel oder Terpentin also nicht vorliegen. Hm. Privat scheint bei Ihnen zuletzt viel in Bewegung geraten zu sein. Wie wäre es, wenn Sie mir mehr über Ihre veränderte Familiensituation erzählen.«

Nur das nicht!

Lilli klammert sich an die Armlehnen, der Linoleumboden schlägt Wellen. Rote Wellen mit gelben Sprenkeln. Sehr expressionistisch. Moment. Ihr Arzt ist ein Idiot. Wie bitte soll man Gemälde meiden, wenn man am nächsten Tag nach Rügen fahren muss, um die Bildersammlung des verstorbenen Ewald Sammering für den Verkauf vorzubereiten? Wie soll man nicht an Malerei denken, wenn man mit Emil-Nolde-Originalen über dem Esstisch aufgewachsen ist und Papas Maltalent geerbt hat? Ein Talent, das einen, das ihre gesamte Familie ins Gefängnis bringen könnte, wenn sie den Job vermasselt oder ihr Exmann weiter von Geschäften mit Friedrichgemälden fantasiert. Aufruhr unterm linken Rippenbogen. Lillis Herz macht sich bereit für einen Sprint.

»Ich brauche einfach irgendwas kurz über Baldrian. Baldrian ultra oder so. Das ist alles.«

»Früher haben Sie sich sogar gegen die Verschreibung von Hustensaft gewehrt, wenn zu den Nebenwirkungen leichte Müdigkeit zählte.«

»Eine so wertvolle Sammlung habe ich noch nie begutachtet. Bei dem Verkauf wird es um Hunderttausende, vielleicht Millionen, gehen.«

Der Arzt schüttelt leise den Kopf.

»Könnte das denn nicht Ihr Vater übernehmen?«

Lilli fährt hoch. »Auf keinen Fall. Mein Vater...« Sie bricht ab, schluckt. »Er ist nicht objektiv, und es fällt ihm schwer, sich von Bildern zu trennen.«

»Aber das ist als Kunsthändler seine vordringliche Beschäftigung«, wirft der Arzt lächelnd ein.

Abwartend schaut er seine Patientin an.

Verflucht, Lilli, sag was, halt das Gespräch in Gang, sonst bohrt der Mann noch tiefer und gewinnt am Schluss einen Blick hinter die komplizierte Fassade der Galerie Wandler. Die sie selbst erst kürzlich durchschaut hat.

Sagen wir, erst jetzt durchschauen wolltest, oder?

Lilli fährt sich mit der Zunge über die Lippen. »Nun ja, Vater ist selbst leidenschaftlicher Sammler. Was er verdient, gibt er für andere Kunstgegenstände aus, für seine Sammlung. Sie müssten einmal seinen Dachboden sehen...« Nein, nur das nicht! »Am liebsten würde er alles behalten, was er erwirbt. In den letzten Jahren ist das immer schlim... also mehr geworden.«

»Wie beneidenswert, wenn man seine Leidenschaft zum Beruf machen kann. Leopold war schon immer ein Glückskind.«

Kind trifft die Sache gut.

Lillis rechter Fuß beginnt nervös zu wippen. Was fällt dem Fuß ein? Und ihren Haaren? Machen, was sie wollen. Wie ihr Vater und Clemens. Beides Gaukler. Männer mit Gauner-Genen scheinen ihr Schicksal zu sein. Dabei hat sie doch alles getan, um sich und ihre Tochter von ihnen fern zu halten und nichts von ihren jeweiligen Geschäften mitzubekommen.

Und darin warst du wirklich gut, sozusagen die perfekte Ergänzung, flüstert es in ihr, Fräulein Dummchen.

Lieber Gott, ihr Alter Ego wird immer aufmüpfiger. Früher hat es sich im Hintergrund gehalten. Eine heimliche Komplizin, die im Stillen dachte, was Lilli nie aussprechen würde. Aus der Komplizin ist eine Widersacherin geworden, die an einer feindlichen Übernahme ihres Seelenlebens interessiert scheint. Lilli rutscht auf ihrem Stuhl hin und her, als könne das die innere Verfolgerin abschütteln.

»Gibt es etwas anderes, das Ihnen zurzeit Sorgen bereitet? Ihre Scheidung ist doch erst wenige Monate her.«

Lilli schüttelt vehement den Kopf. Weitere Locken schließen sich dem Ausbruchsversuch der ersten an.

»Das war eine Formsache. Schließlich leben wir seit elf Jahren nicht mehr zusammen. Ich habe nur so lange mit der Scheidung gewartet, bis Charlotte alt genug war, um nicht unter einer gerichtlichen Auseinandersetzung ihrer Eltern zu leiden. Sie wissen doch, wie schmutzig so etwas schnell wird. Und sie sollte immer das Gefühl haben, dass sie einen Vater hat.«

Wenn auch einen völlig saumseligen und verlogenen, setzt Lilli in Gedanken hinzu. Sie hat die Scheidung in Wahrheit so lange gescheut, weil sie Angst vor dem cleveren Clemens und seinen Tricks hatte. Sie wollte keine schlafenden Hunde wecken und hat ihn einfach aus ihrem Leben herausgehalten.

Aber Clemens sich nicht aus deinem. Geht noch immer mit dem Namen Wandler hausieren.

Verfluchter Fuß, jetzt versetzt er dem Schreibtisch des Arztes rhythmische Tritte.

»Und, hat sie es verkraftet?«

»Wer? Was?« Ihr Herz greift den Rhythmus der Tritte auf, fühlt sich an wie einbeiniger Stepptanz oder Flamenco mit Holzbein.

»Ihre Tochter, hat sie die Scheidung verkraftet?«

Sie wollte doch gar nicht über ihre Familie sprechen, wie bringt dieser Kerl sie nur dazu? Mit einem sanften Lächeln und gütigen Altmänneraugen. Vorsicht! Das ist hier nicht die Schwarzwaldklinik.

»Charlotte hat damit genauso wenig Probleme wie ich.«

Valbingers Lächeln macht einen Abstecher nach Tibet und erinnert vage an den Dalai Lama.

Hastig setzt Lilli hinzu: »Jedenfalls keine, die nicht mit ihrer beginnenden Pubertät zu erklären wären. Eben hat man ihr noch Polly-Pocket-Spangen in die Zöpfe geflochten, und jetzt sind ihr Zimmer, ihr Tagebuch und ihr Seelenleben plötzlich eine militärische Sperrzone.«

Der Arzt nickt wie Buddha auf der siebten Stufe der Erleuchtung und schweigt. Schweigt Löcher in die Luft, die man füllen muss, um nicht zu ersticken.

»Charlottes Vater und ich werden uns heute Abend treffen, um eine Besuchsregelung zu vereinbaren. Er will sich endlich Zeit für unsere Tochter nehmen. Ich denke, die endgültige Trennung hat ihm deutlich gemacht, wie viel ihm in all den Jahren entgangen ist. Mit seiner Tochter, meine ich.«

Da lachen ja die Hühner. Er hat sie in all den Jahren vielleicht zwölfmal besucht und auch in diesem Jahr nicht an ein Weihnachtsgeschenk gedacht. Mistkerl.

Lilli greift nach ihren Haaren. Was für ein heilloses Durcheinander in und auf ihrem Kopf herrscht.

»Es ist wirklich alles in allerbester Ordnung.«

Ach ja? Halt den Mund. Jetzt rede ich.

Wer?

Na sie, die vernünftige Lilli.

Hahaha, kichert es aus der Spionageabteilung. Nein, aus ihrem Mund. Herrjemine.

Doktor Valbinger schaut mitfühlend nach unten. »In allerbester Ordnung, aha. Weshalb Sie mich um Beruhigungstabletten bitten.«

Jetzt reicht es, der Mann behandelt sie wie eine Suchtkranke. Lilli hüpft fast aus dem Stuhl, ihre Locken hüpfen mit.

Das ist vollkommen neu, denkt Doktor Valbinger. Sie ist wirklich hübsch. Diese Wut ist frisch und unverbraucht, etwas ungelenk, aber anziehend. Diese Wut sollte es auf Rezept geben. Nachdenklich öffnet er eine Schublade, greift nach einem Päckchen, dreht es in den Fingern.

»Herr Doktor, ich bettele hier nicht um Valium 10. Ich muss nur fit für meine Reise nach Rügen und meinen Auftrag sein.«

Der Arzt schiebt die Schublade zu und schaut hoch.

»Sie sollten es vielleicht mit Urlaub versuchen. Ein bisschen Ablenkung. Als allein erziehende, berufstätige Mutter haben Sie bestimmt ein anstrengendes Leben, und da Sie sich jetzt noch um Ihren Vater kümmern müssen...«

Lillis Blick wird lauernd. »Wie kommen Sie denn darauf?«

Der Arzt tippt mit dem Ende eines Kugelschreibers auf ihr Krankenblatt. »Na, die Adressänderung. Sie wohnen wieder bei ihm, nicht wahr? Das ist sehr nah dran.«

Liliane senkt die Augen. Verflucht nah. So nah, wie sie niemanden – außer Charlotte – in den letzten dreizehn Jahren an sich herangelassen hat.

»Geht es Ihrem Vater nicht gut?«

Lilli hält den Blick gesenkt. »Es geht ihm ausgezeichnet. Wir arbeiten in der Sammering-Sache wieder zusammen, daher wohne ich bei ihm. Wie früher.«

»Aha!«

Lillis Augen flitzen nach oben. Im Gesicht des Arztes macht sich ein triumphierendes Lächeln breit. So muss Kolumbus geguckt haben, als er die amerikanische Küstenlinie entdeckte, die er allerdings für Indien hielt. Ihr Arzt ist ebenfalls auf dem Holzweg.

Lilli verschließt ihre Miene. Ihren Arzt schreckt das nicht ab.

»Es ist schwierig, als erwachsene Tochter nach Hause und in die alte Rolle zurückzukehren. Man wird unweigerlich wieder zum Kind. Leopold hat zudem eine sehr dominante Persönlichkeit. Ausgesprochen amüsant, aber sicher nicht einfach.«

Der Psychoteil – sie wusste es.

»Die Zusammenarbeit ist nur vorübergehend. Ich habe eine Auszeit als Versicherungsvertreterin genommen und muss einen finanziellen Engpass überwinden, weil...«

... sie bei ihrer Scheidung unverhofft an den Rand des Ruins getrieben worden ist, da sie für die Geschäfte ihres Exmannes mithaftet. Sie hat ein paar Unterschriften zu viel geleistet, als sie jung und verliebt gewesen ist. Nicht nur die unter dem Ehevertrag.

Nein, das kann sie nicht laut sagen, das klingt nach Valium 20 und dringendem Therapiebedarf. Wie blöd und blind muss man schließlich sein, um über Jahre zu verdrängen, was für ein Windhund der Exmann ist.

Oder dein Vater.

Verdammt, sie braucht wirklich Beruhigungstabletten, bevor sie Clemens trifft und morgen nach Rügen fährt. Ihr Puls flattert wie eine im Lichtkegel gefangene Motte. Neuer Versuch.

»Ich muss diesen Sammering-Auftrag erfolgreich durchführen, um wieder auf die Beine zu kommen, und mein Vater braucht ebenfalls Geld. Seine Sammelleidenschaft ist ein kostspieliges Hobby...«

Hobby? Die Polizei würde es wahrscheinlich anders nennen.

»Vor allem werde ich meine Tochter vermissen, wir waren noch nie länger als ein paar Tage getrennt. Das macht mich eben etwas nervös.«

Etwas nervös? Gegen Lilli Wandler ist der Zappelphilipp ein Schüler des Zen, denkt ihr Arzt. Was hat sie nur zu verbergen? Nachdenklich öffnet er die Tablettenschachtel, zieht ein Gläschen heraus.

»Ich bin kein Freund von Tranquilizern, mit denen man seine Gefühle wie den Fernsehton wegschaltet, Frau Wandler. Ich habe hier Muster eines neuen, hochwirksamen Präparates auf der Basis von Johanniskraut, Muskatellersalbei und einer südamerikanischen Orchideenart. Es wird Ihre Konzentrationsfähigkeit nicht beeinträchtigen. Im Gegenteil, es macht die Gedanken erfreulich klar und hilft dadurch, unangemessene emotionale Impulse in vernünftige Bahnen zu lenken.«

Lilli atmet erleichtert auf. »Vernünftige Bahnen? Dann ist es genau das Richtige für mich.«

Die Antwort löst bei dem Mediziner ein Stirnrunzeln aus.

»Meine Praxis beteiligt sich an einer Teststudie über das Mittel. Verstehen Sie mich richtig: Diese Tabletten dämpfen keine angemessenen Gefühlsregungen. Sie werden im Gegenteil dazu beitragen, dass Sie Ihre Belastungen klar zur Kenntnis nehmen, um darauf reagieren zu können. Auch emotional.«

Lilli reißt die Augen auf. »Sie meinen, Sie verschreiben mir eine Wahrheitsdroge, die mich zum haltlosen Plappermaul macht?«

Das könnte ihrem Alter Ego gefallen.

»Frau Wandler, so etwas gibt es nicht, jedenfalls nicht auf Rezept. Ich weise Sie lediglich darauf hin, dass Sie durch die Einnahme der Tabletten zu Ihren wahren Gefühlen vordringen könnten. Zum Beispiel Wut. Unterdrückte Wut kann sich durchaus in Herzrasen, Angstattacken und Panik äußern. Gelebte Wut hingegen kann erlösend sein, eine Kraft der Veränderung.«

Jetzt reicht es. Lilli springt aus dem Stuhl hoch.

»Was fällt Ihnen eigentlich ein. Ich bin nicht wütend! Ich werde nie wütend. Ich...«

Hoppla. Kleinlaut greift sie nach ihrer Tasche, stolpert über ihre Füße, als sie vom Stuhl aufsteht. Der Arzt reicht ihr ein Glas mit rosa dragierten Tabletten.

»Wie Sie meinen, Frau Wandler. Trotzdem würde es mich freuen, wenn Sie jemanden fänden, dem Sie sich öffnen könnten. Das ist immer noch die beste Medizin bei psychosomatisch einzuordnenden Beschwerden.«

Der hält mich für komplett verrückt, denkt Lilli erschöpft, als sie die grüne Polstertür zum Vorzimmer öffnet. Darüber sprechen! Im Leben nicht. Das könnte sie unter anderem in den Knast bringen. Sie, die vernünftige Lilli. Und ihren Vater auch, diesen Bruder Leichtfuß. Warum stammt ausgerechnet sie von einem Fassadenkünstler wie Leopold ab? Und warum ist sie je auf einen Schwindler wie Clemens reingefallen?

Weil du von einem Fassadenkünstler abstammst!

Aber sie ist doch ganz anders. Sie hat alles getan, sogar mit dem Malen aufgehört, um anders zu sein. Und damit ist es ihr gut gegangen. Bestens. Sie hat nie Hilfe gebraucht.

Ach ja? Frag mal deinen Arzt oder Apotheker!

Drei Frauen auf Rügen

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