Читать книгу Drei Frauen auf Rügen - Sabine Kästner - Страница 8
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ОглавлениеDie Möwen sitzen wie festgefroren auf Ankerpfählen. Hermine steht auf einem Anlegesteg und genießt die in Eis erstarrte Schönheit von Lauterbachs Hafen im Süden Rügens. Unter einer Eisschicht strudelt die Ostsee. Tiefstehende Wintersonne lässt überfrorene Planken und Fischerboote glitzern.
Im Sommer ankern hier die Segler dicht an dicht, am Kai entsteht dann eine Budenstadt aus Aalräuchereien und Töpferständen. Die Rügener Kleinbahn schickt schrille Lokpfiffe in den Himmel und schaukelt beladen mit Touristenvolk als Rasender Roland von Museumsbahnhof zu Museumsbahnhof und zurück zur Endstation Lauterbach.
Das ist so, als würde eine Postkarte lebendig, aber nicht zu vergleichen mit der winterlichen Stille und dem Prickeln des salzigen Frosts auf der Haut.
Hermine ist heute Morgen hergefahren, weil sie noch einmal mit Christine sprechen will. Stine, die fast neunzig ist und ihr bei den Recherchen zum Seelitzbuch geholfen hat. Jetzt steht die ehemalige Gutsmagd neben ihr, klein vom Alter und vermummt in einem Mantel, aber immer noch beweglich. Der Spaziergang war ihr Vorschlag. »Damit ich nicht einroste«, sagt sie.
Hermine atmet noch einmal tief ein, dann dreht sie sich zu Stine um.
»Ich wollte dich noch einmal nach den Bildern fragen, Maltes Sammlung. Weißt du, was genau damit passiert ist?«
Stine reckt sich ein wenig, um ihren Mund aus dem Gewirr ihres selbstgestrickten Schals zu befreien.
»Ach, die Bilder«, sagt sie nur und versinkt wieder in ihrer Verhüllung.
Hermine schaut sie abwartend an. Stine hat ein so reiches Gedächtnis, dass sie stets etwas kramen und sortieren muss, bis sie eine Geschichte zusammenhängend erzählen kann. Und dann wieder gibt es Geschichten, die sie nicht mehr erzählen will. Punkt.
»Hat deine Mutter dir denn nie was darüber erzählt?«, fragt Stine schließlich mit lauerndem Blick.
Hermine schüttelt den Kopf. »Nein.« Sie zögert. »Ich habe bei meinen Recherchen für das Buch nur so viel herausbekommen, dass Malte einige der Bilder verschenkt hat. Nach Berlin. In die Reichskanzlei.« Traurig stößt sie ihre Hände tiefer in die Manteltaschen. Hat ihre Mutter ihr deshalb nie etwas gesagt? Nie, niemals hätte sie über Malte etwas Schlechtes gesagt, einen Schatten auf seine Person, seinen Charakter geworfen. Aber Berlin und so wertvolle Geschenke, das muss schließlich bedeuten... es heißt... dass Malte... doch ein Freund... der damaligen Machthaber... Hermine bricht ab. Nein, das kann nicht sein. Das darf nicht sein.
»Verschenkt, ha!« Stine schnaubt verächtlich und vermummt sich tief in ihrem Schal. »Das war eine scheußliche Angelegenheit«, brummt sie schließlich, während sie in ihrer Manteltasche nach einer Tüte mit Brotkrumen kramt.
Sie zieht sie hervor und beginnt die Möwen zu füttern. »Ist zwar verboten«, sagt sie, während die Möwen in Bewegung geraten, »aber die Tiere warten auf mich. Ich mag Möwen, egal, was die Leute sagen. Und nach zwei Diktaturen in meinem Leben lasse ich mir gar nichts mehr verbieten. Schon gar nicht das Möwenfüttern.«
»Eine traurige Geschichte? Wie genau meinst du das?«, hakt Hermine entschlossen nach.
Stine zieht die Augenbrauen zusammen.
»Willst du wirklich darüber reden? Halte dich lieber an deine schönen Erinnerungen, Kleines.«
Kleines! Nun ja, dreiundzwanzig Jahre Altersunterschied rechtfertigen diese Anrede aus Kindertagen wahrscheinlich. Stine hat Hermine früher auf dem Schoß geschaukelt und als Hoppereiter in den Graben plumpsen lassen. Diese Erinnerung scheint bei ihr sehr präsent zu sein.
»Ich möchte wirklich mehr darüber wissen.«
Stine wirft Brot in die Luft. »Mmmh. Na ja, schaden kann’s wohl heute nicht mehr viel. Damals wollten wir nicht, dass du was mitkriegst. Warst schließlich ein sehr wissbegieriges Kind, und Kindermund tut Wahrheit kund. Kannst du dir das vorstellen? Wir hatten Angst vor unseren eigenen Kindern. Davor, dass sie was ausplappern könnten, das uns oder Malte zum Verhängnis würde.«
Hermine runzelt verwirrt die Stirn. »Über die Gemälde?«
»Das auch. Aber vor allem über die anderen Kinder, die bei uns lebten und alles, was Malte so über die Herrschaften aus Berlin zu sagen hatte.«
»Erzähl mir alles, bitte.«
Stine zuckt die Achseln, was eine enorme Kraftanstrengung sein muss, denn unter dem Mantel trägt sie noch einen Anorak.
»Na, du weißt doch, dass wir immer mal Besuch von diesen Herrschaften aus Berlin bekamen. Maltes alte Fliegerkameraden, die im braunen Hemd Karriere gemacht haben. Denen musste er schöntun, egal wie hart ihn das später ankam. Und einer von denen kam auf die Idee, dass Malte seine Liebe zu Führer und Vaterland doch mal mit einem Geschenk beweisen könne. Der wollte sich selbst ganz oben einschmieren. Geschenk! Dass ich nicht lache.«
Sie macht eine Pause, atmet die kalte Luft tief ein. Hermine wartet ab.
»Als ob der Herr von Seelitz freiwillig seine Grünwald-Madonna an das braune Pack hergegeben hätte. Für die Sammlung vom Reichsmarschall. Pah. Aufgeblasener Heini. Hat genau hier mal mit seiner Staatsjacht angelegt und für Riesenwirbel gesorgt, samt Fackelzug und Blumenmädchen. Richtiger Operettenauftritt.«
Stine schüttelt missbilligend den Kopf und ist in ihren Erinnerungen weitergewandert.
»Die Madonna war wunderschön, habe sie manchmal abgestaubt, wenn es draußen nichts zu tun gab. Eine Schande, dass Malte die hergegeben hat. Hat gehofft, danach wäre Ruhe und er wäre wieder ganz der Herr in seinem Haus. Könnte machen, was er wollte.«
Hermine steckt ihre Hände tiefer in die Taschen und tritt von einem Fuß auf den anderen. Der gleißende Sonnenschein trügt, es ist bitterkalt auf dem Steg.
»Er hat es also für uns alle und die Kinder getan«, sagt sie sehr erleichtert. »Was sind schon ein paar Gemälde gegen das Leben und die Sicherheit von Kindern, Stine. Mit den Bildern hat er sich Freiheiten erkauft, die er sonst nicht gehabt hätte.«
»Trotzdem«, brummt ihre Begleiterin und wirft Brotkrumen in den Himmel, »es war nicht recht, und es hat ihm in der Seele wehgetan, das konnte man sehen. Wenn wieder eine von den flachen Holzkisten abgeholt wurde – in militärischer Begleitung, versteht sich –, hat er sich in die Bibliothek eingeschlossen und ist tagelang nicht wieder rausgekommen. Hat nichts gegessen und keiner von uns in den Po gezwickt, nicht mal Gudrun, deiner Mutter. Er war überhaupt nicht mehr er selbst.«
Hermine muss wider Willen schmunzeln. Das Pozwicken gilt Christine noch immer als natürliches Recht eines Gutsherrn vom Schlage Maltes.
»Aber er hat doch nicht alle Bilder hergegeben, oder? Ich erinnere mich, dass es bis zuletzt einen Caspar David Friedrich gegeben haben muss. Jedenfalls hat Gudrun mir das einmal erzählt. Nun ja, nicht erzählt, aber es ist ihr so herausgerutscht. ›Verdammt, warum gibt er den Friedrich nicht her‹ oder so.«
Stine macht sich entschlossen an den Rückweg. Sie legt ein erstaunliches Tempo vor. Hermine holt sie erst nach einigen Schritten ein.
»Der Friedrich«, murmelt Stine grimmig, »nee, den hat er nicht hergegeben, sondern versteckt, wo ihn keiner sehen konnte. War ein Riesengeheimnis.«
Hermine zieht aufgeregt den Atem ein. »Er hat ihn versteckt? Es gibt ihn also noch?«
Stine schreitet noch rascher aus. »Ich brauche jetzt einen heißen Tee. Und du siehst auch verfroren aus, Kleines.«
Hermine fasst Stine beim Arm und erschrickt ein wenig, als der wattierte Mantelärmel so weit nachgibt, dass man Stines Arm dünn wie einen Vogelknochen spüren kann.
»Ist das Bild noch auf Seelitz?«
Stine schüttelt Hermines Hand ab.
»Interessiert mich nicht. Ich weiß nur, dass dieses dämliche Gemälde ihn das Leben gekostet hat. Hat sich lieber umgebracht, anstatt es herzugeben, als er danach gefragt wurde. Von ganz oben. Da rettet er erst diese Kinder und weiß sich am Ende selbst nicht zu helfen. Versteh einer die Menschen. Ich tu’s nicht. Nicht mal nach neunzig Jahren. Ein Bild war ihm lieber als das eigene Leben.«
Hermine läuft kopfschüttelnd neben Stine her. »Ach, Christine, ich bin sicher, er wollte das Ende so oder so nicht miterleben. Und wahrscheinlich war das besser. Denk doch nur, wie es den Junkern unter den Russen ergangen ist. Er hätte alles verloren, was er geliebt hat. Die Welt, die er kannte. In einer anderen hätte er sich nie zurechtgefunden.«
»Aber er wäre am Leben geblieben.«
»Nicht einmal das ist sicher. Vielleicht hätte man ihm eine Nähe zum Regime unterstellt, schließlich hat er nach außen hin sehr überzeugend so getan, als sei er ein Freund gewisser Machthaber, und seine Verbindungen zum Fliegerkorps waren eng. Von außen gesehen, gehörte er dazu.«
Sie sind am Ende des Stegs angelangt, vor ihnen liegt still die Straße, dahinter in weißem Glanz Lauterbachs ältestes Hotel. Es sieht so unschuldig aus wie zu der Zeit, als Elisabeth von Arnim die Insel bereiste und als romantisches Reiseziel unsterblich machte. Hermine bereut es beim friedlichen Anblick des Hauses, Stine so hartnäckig befragt zu haben.
»Lass uns einen Tee trinken. Ich lade dich ein«, sagt sie versöhnlich.
Stine nickt. Sie überqueren die Straße. Bevor sie die Stufen zur Hotelveranda hochsteigen, sagt Stine: »Ich bin mir sicher, dass es das Bild nicht mehr gibt. Die Russen haben auf Seelitz das Unterste zuoberst gekehrt und alles mitgeschleppt, was zu holen war. Na ja, es gibt zwei Leutchen, die mehr darüber wissen könnten.«
»Wen?«
»Diese beiden Verrückten, Brüderchen und Schwesterchen oder wie immer sie genannt werden.«
Hermine staunt: »Du meinst Hänsel und Gretel?«
Stine nickt. »Genau die. Haben bis zuletzt auf Seelitz ausgeharrt. Treu bis in den Tod. Hatten auch Grund dazu.«
»Warum?«
»Waren Kinder vom Pächter Hermanns. Das war ein guter Arbeiter, aber von seinen acht Kindern waren vier nicht recht gescheit. Die zwei jüngsten, also Hänsel und Gretel, standen 1936 auf der Liste zur Heimunterbringung. Nur dass alle den Braten gerochen haben, als der Überführungsbescheid kam, weil die älteren Kinder schon weg waren ins angebliche Pflegeheim und da verstorben sind. An Herzversagen! Mit sechzehn! Kurzer Brief an die Eltern, dann die Urnen hinterher, und das war’s. Deswegen hat Malte die beiden Jüngsten zu sich genommen. Du musst dich doch an die erinnern, den kleinen Dunklen und...«
»Ich weiß, wen du meinst. Ich treffe sie sogar öfter. Aber was sollten die beiden über den Verbleib des Bildes wissen?«
»Malte hat ihnen mehr anvertraut als irgendeinem Menschen sonst. Wahrscheinlich hat er gedacht, dass bei zwei Irren seine Geheimnisse sicher sind. Mit irgendwem musste er schließlich mal reden. Und wenn du meine Meinung wissen willst, dann sollten die beiden ihre Geheimnisse auch weiterhin für sich behalten. Das Bild hat immer nur Unruhe gestiftet.«
Und das, denkt Hermine, während sie die Tür zum Hotelcafé aufstößt, tut es auch jetzt wieder.
Clemens von Krolow bedrängt sie seit ihrem Vortrag im Hafenmuseum mit Bitten um mehr Informationen. Sein Schwiegervater, behauptet er außerdem, sei ein Experte im Auffinden von Meisterwerken und könne sicher behilflich sein.
Vittorio ist wie elektrisiert von der Vorstellung, den Tourismus in Binz und Umgebung mit der Geschichte vom verschollenen Meisterwerk weiter anzukurbeln.
»Stellen Sie sich vor, Ermine, Sie werden eine Berühmtheit, Ihre Pension wird ausgebucht sein, und vielleicht können wir mit der Geschichte von dem Bild Seelitz davor retten, eine Golfakademie zu werden!«
Kunstmagazine und überregionale Tageszeitungen fragen wegen Interviews bei ihr an, und dann gibt es noch diesen Unbekannten, der sie mit gelegentlichen Anrufen aufstört. Stummen Anrufen. Kaum hebt sie ab, wird der Hörer am anderen Ende aufgelegt. So, als könne sich jemand nicht entschließen, ihr etwas Wichtiges mitzuteilen.
Nur was? Und will sie es wirklich wissen?
Ja. Sie will es wissen.
Schon deshalb, weil ihre Vergangenheit, mit der sie sich Jahre ihres Lebens so allein gefühlt hat, völlig unerwartet in der Gegenwart angekommen ist.
Plötzlich gibt es eine Menge Menschen, die sich für Seelitz interessieren, und das hat sie schließlich gewollt.