Читать книгу Drei Frauen auf Rügen - Sabine Kästner - Страница 5
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ОглавлениеAls Vittorio sich in den Saal drängt, entdeckt er in der hintersten Stuhlreihe zwei Bekannte, die für sich sitzen und Händchen halten. Anders hat er die alten Leutchen nie gesehen, immer Hand in Hand. Und stets für sich. Vielleicht, denkt Vittorio, und sein Herz wird erneut weit und weich, ist das seit achtzig Jahren so.
Das greise Geschwisterpaar gilt als komplett verrückt und ist auf der Insel unter den Spitznamen Hänsel und Gretel bekannt. Was an der Zopffrisur der Frau und dem Knotenstock ihres Bruders liegen kann, an ihren nächtlichen Spaziergängen durch die Wälder von Seelitz oder an ihrer Eigenart, mit Hosenknöpfen zu bezahlen.
Bei Vittorio bekommen sie dafür Spaghetti und Gebäck vom Vortag. Allerdings nicht während der Öffnungszeiten des La Vita. Armenspeisung und Edelgastronomie sind schwerer zu kombinieren als Saubohnen und Kaviar. Seine Großmut hat Grenzen. Das versteht sogar Hermine, die Hänsel und Gretel aus ihren Kindertagen auf dem Gut kennt und gelegentlich mit Kleidung versorgt.
Seelitz muss für die beiden Alten wie für Hermine eine große Bedeutung haben, sonst gingen sie nicht immer wieder hin. Mit träumerischem Blick schauen sie nach vorn und sehen nicht, dass rechts und links von ihnen die Plätze frei bleiben. Wie immer. Vittorio seufzt und beugt sich zu Gretel herab: »Ist der Stuhl neben Ihnen noch frei, Signora?«
Gretel schaut hoch: »Aber certamente, Vittorio! So heißt das doch auf Italienisch, oder?«
Vittorio nickt überwältigt. »Sie sprechen Italienisch?«
Gretel kichert. »Oh, nur ein picco.«
»Un poco«, korrigiert Vittorio nachsichtig, schließlich kennt er die Tücken der Fremdsprache. Dann lässt er sich auf den Stuhl gleiten.
Hänsel beugt sich über Gretels Schoß zu ihm hinüber. »Ihr Japanisch ist besser! Das hat ihr Malte von Seelitz beigebracht. Der war ein Genie.«
Gretel guckt beleidigt. »Mein Japanisch ist Chinesisch, und ich habe es mir selbst beigebracht. Und jetzt sei still, Hermine fängt an.«
Die zwei leben in einer anderen Wirklichkeit als der Rest der Insel und der Menschheit. Aber anscheinend haben sie samt ihrer Narrenfreiheit den Sozialismus vergleichsweise heiter überstanden.
Entspannt lehnt Vittorio sich zurück, während Hermine mit eindringlicher Stimme von der Geschichte Seelitz’ erzählt. Von dem Erbauer, Feldmarschall Arnim von Seelitz, der das Land am Jasmunder Bodden als Lohn für seine Verdienste im Krieg gegen Napoleon erhalten hatte. Sie lässt vergilbte Fotos herumgehen, die das Gutshaus mit seinen Türmen und Säulenportalen zeigen. Dann beschreibt sie den inzwischen verwilderten Park mit seinen australischen Kiefern, Mammutbäumen, japanischen Zierkirschen, heimischen Buchen und Eichen.
»Die Verschwendungslust und Leidenschaft des ersten Besitzers galt der Landschaftsgärtnerei. Die Familie von Seelitz liebte jede Form des ästhetischen Genusses. Der zweite Besitzer investierte vor allem in architektonische Verbesserungen«, erklärt sie. »Der Blick vom Haus auf das Wasser ist einzigartig. Man lebt dort in völliger Abgeschiedenheit. Seelitz ist eine Insel auf der Insel. Die Salzwiesen am Bodden sind eine Oase für seltene Vögel. Kormorane brüten im Schilf. Im Sommer kommen die Kraniche, im Herbst ziehen Wildgänse vorüber und in frostfunkelnden Winternächten...«
»... ist es sterbenslangweilig dort«, mault Alida zwei Reihen vor Vittorio und spielt mit ihren Chopardringen. »Öde wie hier«, setzt sie halblaut hinzu und sucht die Reihen hinter sich nach dem Italiener von eben ab. Sie zwinkert ihm komplizenhaft zu, kichert und erntet tadelndes Räuspern von ihren Stuhlnachbarn.
Hermine lässt den beschaulichen Alltag eines Landadeligen des neunzehnten Jahrhunderts lebendig werden. Sie beschreibt die von Seelitzens als Pachtherren, die früh die Leibeigenschaft abgeschafft und in den Kreideabbau investiert haben und kommt auf ihr liebstes Thema zu sprechen: Malte von Seelitz, letzter Spross der Sippe, der nach militärischer Tradition des Hauses Kampfflieger im Ersten Weltkrieg war und danach vor allem Kunstsammler.
»Womit er die künstlerische Ader seiner Ahnen lebendig hielt. Außerdem war er ein Kinderfreund. Bei Jean Paul heißt es, mit einer glücklichen Kindheit kann man sein Leben lang haushalten. Ich habe dieses Geschenk durch den Gutsherrn Malte erhalten. Meine Mutter war Haushälterin auf dem Gut.
Ich wurde 1938 geboren und durfte meine ersten sechs Lebensjahre bis 1944 auf Seelitz verbringen. Sie denken jetzt vielleicht an Diktatur, den Krieg und seine Schrecken, aber das alles hat uns sehr, sehr spät berührt, was dem Hausherrn zu verdanken war. Wie ein Patriarch behütete er seine Gutsfamilie und ließ sich nicht reinreden. Malte von Seelitz wurde aufgrund einer schweren Verletzung für den Zweiten Weltkrieg auch nicht mehr eingezogen.«
Sie macht eine kurze Pause, denn jetzt kommt ein heikler Teil. »Er hat es geschickt verstanden, sich auf Distanz zum Regime zu halten, hielt zwar Kontakt zu alten Fliegerkameraden, aber nie zur Partei. Malte von Seelitz war ein sanftmütiger Melancholiker, der wusste, dass seine Welt dem Untergang geweiht war.«
Alida hebt flatternd die Augenlider. »Fehlen nur noch schluchzende Geigen zur Untermalung.«
»Silenzio«, zischt Vittorio ernsthaft erbost.
»Hast du deine Geige nicht dabei?«, fragt Gretel flüsternd ihren Bruder.
»Nee, bei Neumond bleiben die Töne im Loch.«
Ein verblüffter Vittorio vergisst seine Bitte um Stille und beteiligt sich am Flüstern der Hinterbank: »Sie spielen Geige?«
Hänsel nickt eifrig. »Das hat Malte mir beigebracht.«
»Jaaa«, sagt Gretel, »und das nächste Mal, wenn wir nach Seelitz gehen, nimmst du die Violine mit. Die Frau da vorne möchte das gern. Ihr ist nämlich so langweilig.«
Hänsel nickt noch eifriger, Umsitzende prusten, Alida wirft mit vernichtenden Blicken um sich. Schlimm genug, dass man sie als derzeitige Besitzerin von Seelitz nicht gebührend begrüßt und in die erste Reihe gebeten hat – dabei ist der Sozialismus doch angeblich tot –, jetzt muss sie sich auch noch von zwei Irren beleidigen lassen, die nachts in ihrem Park herumlungern.
Hermine fährt lächelnd in ihrem Vortrag fort.
»Leider hat Malte nie geheiratet. Sein Haus hat er während des Krieges aber für Kriegswaisen aus ganz Deutschland geöffnet und dabei auch das eine oder andere Kind aufgenommen, das den Krieg sonst nicht überlebt hätte.« Hermine pausiert kurz und lächelt Hänsel und Gretel zu.
»Er hat für uns ein Paradies geschaffen. Ein Paradies inmitten der Hölle. Im Sommer organisierte er mitternächtliche Kutschfahrten zum Königsstuhl oder Picknicks auf der Insel Vilm südlich von Rügen, die einsam wie Robinsons Eiland war und für uns Kinder ebenso geheimnisvoll.«
Ein verträumtes Lächeln umspielt ihren Mund und macht Hermine jung. Ihre eisgrauen Augen blinzeln verschmitzt. Hänsel und Gretel drücken sich die Hände.
»Einmal hat er dort eine Wildkatze ausgesetzt, die den Tiger für uns spielen sollte. Er hat Flöße mit uns gebaut und als Schatz Schokoladentaler vergraben. Es war die köstlichste Schokolade meines Lebens, obwohl es nur mehlige Kriegsersatzware war. Seine andere Leidenschaft war die Kunst. Wie seine Vorfahren, die den Park anlegten und das Haus gestalteten, hegte er eine verschwenderische Neigung zum Schönen. Er...«
»Klingt wie ein entsetzlicher Langeweiler«, kommentiert die Witwe Sammering. Vor und hinter ihr werden Köpfe geschüttelt.
»Bitte«, flüstert Clemens von Krolow und legt eine Hand auf Alidas Arm. Die zieht ihn zurück und schaut den Finanzberater mit koketter Trotzschnute an. Niemand scheint ihr erklärt zu haben, dass nichts so alt macht wie der Versuch, besonders jung zu erscheinen. Von Krolow lächelt dennoch wie angetan.
Alida mault weiter in seine Richtung. »Ist doch wahr! Das Haus war eine Bruchbude, als wir es übernommen haben. Und von wegen Kunst, pah. Einen Kunstnarren hatte ich selbst zum Mann. Ich habe davon die Nase voll. Die verfluchten Bilder und Antiquitäten, die Ihr Schwiegervater ihm aufgeschwatzt hat, haben ihn ein Vermögen gekostet.«
Das du nicht erbst, denkt von Krolow und kann die Wut der Witwe nachvollziehen. Ihre zänkische Stimme fällt ihm allerdings – genau wie dem Rest des Publikums – auf die Nerven.
»Bitte, Frau Sammering«, murmelt der Finanzberater und umschmeichelt sie mit blauen Blicken, »wenn wir es richtig angehen, wird der Verkauf des Gutshauses Sie zu einer sorglosen Frau machen. Auch ohne die Kunstsammlung Ihres Gatten.«
Alida zupft und streichelt nervös an ihrem Pelz herum. Sie erinnert an eine eingesperrte Katze, die sich mit Putzritualen abzulenken versucht.
»Lassen Sie uns essen gehen, Krolow. Das bringt doch nichts hier. Die Zuhörer haben höchstens Geld für eine Schrebergartenlaube, aber niemals für ein Schloss. Und dazu die beiden Bekloppten da hinten. Die lungern ständig in meinem Park herum. Man fühlt sich geradezu verfolgt.«
Alida erhebt sich ohne Rücksicht auf die Zuhörer, denen sie den Blick verstellt. Verächtlich schaut sie sich unter den Männern und Frauen in Fleecepullovern um, die zwischen Fischernetzen und Fotos von Heringstrawlern auf Plastikstühlen hocken. Das hat so gar keinen Schick, nichts Mondänes, wie die ganze blöde Insel eben.
Von wegen, Rügen sei das Sylt des Ostens. Die Qual der Langeweile verdichtet sich in ihr zu einem bohrenden Schmerz. Sie will endlich leben, statt hier zu verrotten. Die Ehe mit Ewald war öde genug. Jäh erhebt sich Alida und zischt auf ihren Sitznachbarn herab.
»Würden Sie mich bitte sofort vorbeilassen?«
»Nur zu gern«, zischt der Angesprochene zurück.
Hermine hält für einen Moment in ihrem Vortrag inne, dann fährt sie mit leichtem Ärger in der Stimme fort.
»Malte von Seelitz’ Gemäldesammlung war einzigartig. Leider hat sie den Krieg nicht überlebt. Es gibt jedoch ein Bild, dessen Verbleib ein Geheimnis ist. Malte hat einen Caspar David Friedrich besessen, den sein Großvater bei dem Maler in Auftrag gegeben haben soll.«
Oje, so schnell hat sie gar nicht darauf zu sprechen kommen wollen. Sie wollte überhaupt nicht davon sprechen, schließlich weiß sie kaum etwas darüber, aber diese Alida ist impertinent.
Erstauntes Gemurmel benetzt den Saal. Ein Friedrichgemälde auf Rügen! Das wäre eine Sensation. Man muss unweigerlich an die Kreidefelsen denken, die der Seifensiedersohn aus Greifswald unsterblich gemacht hat. Die Legende Rügen ist auch eine Erfindung der Romantik. Selbst von Krolow hält in seiner Bewegung inne und lässt Alidas bepelzten Arm los. Endlich kommt die Dame auf den Punkt.
Hermine ist ehrlich entsetzt über die gespannte Aufmerksamkeit im Saal und fühlt sich wie eine Hochstaplerin.
»Freilich gilt das Bild seit dem Krieg als verschollen. Ich selbst habe es nie gesehen. Wahrscheinlich wurde es geraubt oder zerstört wie so viele Kunstschätze damals«, setzt sie eilig hinterher.
Ganz hinten fliegt Hänsels rechter Arm in die Luft. Mit wild schnipsenden Fingern. Gretel zieht ihn am Jackenzipfel zurück auf seinen Stuhl.
Vittorio bewundert Hermines Geduld mit dem Publikum. Sie lächelt bis in die hinterste Reihe hinunter und redet weiter. »Bedauerlicherweise habe ich mich mit sechs Jahren nicht für Meisterwerke der Malerei, sondern für kalbende Kühe und das Fröschefangen interessiert.«
»Wie ekelhaft. Können wir endlich gehen?« Alida spricht in ungedämpfter Zimmerlautstärke. Kälber und Frösche interessieren sie offenkundig noch weniger als verschollene Gemälde.
Diese Abneigung ist unpassend, denkt Vittorio kopfschüttelnd, wo sie doch Schirmherrin mehrerer Tierheime in ganz Europa ist. Und genau diesen Tierheimen hat Ewald von Sammering seine Kunstsammlung vermacht, weil dem Artenschutz angeblich ihre ganze Leidenschaft gilt. Ihr neuer Pelzmantel verrät einen dramatischen Sinneswandel, und das einzige Schoßhündchen, das sie sich noch gönnt, scheint dieser Krolow zu sein, den sie je nach Laune anhimmelt oder herumkommandiert.
Vittorio ist froh, als das Paar sich einen Weg zum Ausgang bahnt. Solche Unhöflichkeit hat Hermine als Letzte verdient. Weshalb Vittorio unauffällig seinen linken Fuß ausstreckt. Die Witwe schaut so hochnäsig geradeaus, dass sie prompt darüber stolpert. Clemens von Krolow fängt sie nicht auf. Mit undamenhaftem Krachen fällt Alida auf einen leeren Plastikstuhl. Schadenfrohes Gelächter wird nicht unterdrückt.
»Oh, Signora, Sie sind auf die Nase gefallen? No, den Hintern! Wie Leid mir es tut! Unverzeihlich. Sie müssen mit mir kommen und auf den Schreck trinken. Una grappa? Bei einem Kollegen von mir nebenan. Oder möchten Sie morgen bei mir in Binz einen Prosecco?«
Man darf ungezogene Millionärinnen zu Fall bringen, findet Vittorio, aber mögliche Geschäftsbeziehungen mit ihnen sollte man sich dadurch nicht verderben.
Gretel bietet Alida ein Butterbrot an, und Hänsel verspricht ihr für demnächst eine Mondscheinsonate auf seiner Geige.
Von Krolow bemerkt von alledem nichts. Gebannt schaut er zu Hermine hinüber, die zum Schluss kommt.
»Im später gesprengten Schloss zu Putbus hat man noch in den fünfziger Jahren versteckte Kunstwerke unter den Fußböden entdeckt, weshalb es natürlich möglich wäre, dass auch Seelitz noch Geheimnisse birgt. Doch auch ohne Kunstschätze ist Seelitz Teil von Rügens Magie und Geschichte. Leider ist es wie der Park der Öffentlichkeit nicht zugänglich.«
Der letzte Satz ist ein Seitenhieb auf Alida, die Hermines Briefe mit ihrer Bitte um eine Besuchserlaubnis für das Gutshaus nie beantwortet hat. Wie ein Einbrecher kommt Hermine sich vor, wenn sie heimlich durch den alten Park zum Bodden spaziert, wo sie sechs Kindersommer erlebt hat, die sie noch heute wärmen. Wie ein Einbrecher! Dabei hätte sie Grund, sich ganz anders zu fühlen. Doch das ist eine Geschichte, die sie für sich behalten will.