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Rügen, Mitte März

Der Strand sieht aus wie frisch gefegt. Erste Märzsonne taucht ihn in wässriges Licht, die Ostsee schimmert matt wie Stahl. Nordwestlicher Wind kämmt Wellen hinein. Am Horizont gleitet still wie ein Schwan ein Containerschiff in Richtung Schweden, als zöge ein Seil daran. Dick vermummt stemmen sich Strandgänger gegen Böen, die im Mund scharf wie Zahnpasta schmecken.

Die Ohren eines Retrievers tanzen vor dem Himmel, im Sprung schnappt er nach einem Ball, krümmt sich wie ein Stier und galoppiert auf eine Welle zu, die er verbellt, bevor ihn ein Gischtschwall zu seinem Herrchen zurücktreibt. Der weicht lachend zurück, während der Hund einen Sprühregen aus Sand und Wasser abschüttelt.

Wie leicht es aussieht, fröhlich und unbeschwert zu sein. Oder liegt das nur an der täglichen Beruhigungstablette, die sie vor dem Frühstück eingenommen hat? Vielleicht ist diese Glücksahnung nichts weiter als das Produkt einer chemischen Formel.

Lilli beobachtet die Strandidylle sehnsüchtig von ihrem Frühstückstisch im Wintergarten der Villa Möwe aus. Die Pension ist ein Puppenheim im Stil der Bäderarchitektur. Geschnitzte Filetspitzen zieren die Holzfassade. Die verglasten Balkone feiern die Belle Époque und lassen Lilli an Damen in Tornürenkleidern und zierlich sich drehende Sonnenschirmchen denken. Manet und Corot haben solche Szenen in Eiscremefarben gemalt.

Und dein Vater!

Lilli seufzt und zerrupft ein Brötchen. Du hast deinen Job hier bislang tadellos erledigt, beschwichtigt sie sich und die Sehnsucht. Alles läuft bemerkenswert glatt. Der Hauptteil der Sammlung Sammering ist bereits in Sicherheit gebracht. Zurück nach Köln expediert, in die Galerie, wo sie hingehört.

Du musst nur noch ein Gemälde – ein wertvolles Gartenbild von Alfred Sisley – in die Finger bekommen, dann ist alles gut und vorbei. Selbst Clemens scheint seine albernen Pläne in Sachen verschollene Schätze aufgegeben zu haben, sie hat seit dem Treffen in Köln nichts von ihm gehört.

Sie atmet still durch die Nase ein und gründlich durch den Mund aus. Yoga. Und am besten noch eine Tablette. Sie kramt eine aus der Handtasche, legt sie auf die Zunge, schluckt.

Leider ziert sich Alida Sammering allerdings bei der Herausgabe des letzten Bildes. Sie kann sich noch immer nicht an den Gedanken gewöhnen, dass die teuren Bilder nicht ihr gehören, und brütet – wie Lilli argwöhnt – über einem Plan, wenigstens diesen Sisley für sich zu behalten oder auf krummen Wegen zu Geld zu machen. Kann sein, dass Clemens dahintersteckt. Verfluchter Kerl, sie wird ihn einfach nicht los. Tief einatmen, langsam ausatmen. Einatmen. Meine Güte, Yoga ist lästig.

Nein, Clemens.

Interessiert mich nicht. Das ist vorbei, alles vorbei.

Tatsächlich?

Zur Hölle mit diesen blöden Gefühlen. Man kann das Leben auch ohne sie genießen. Gerade hier auf Rügen.

Lillis Blick kehrt zurück an den Strand, aber der Zauber ist dahin. Von wegen malerisch. Ist er sicher nie gewesen. Nach 1900, zur Zeit von Binz’ Entstehung, waren Tornüren aus der Mode und die seebadenden Damen wahrscheinlich neureiche Fabrikantengattinen, die die Ostsee als »schneidige Pfütze« zu titulieren pflegten. Kurze Zeit später dominierten Heinrich-Zille-Szenen in schwarzweißgeringelten Badetrikots, die nicht nach Lillis Geschmack sind.

Die Rüganer hatten stets nehmen müssen, was übers Meer kam: dänische, schwedische und französische Eroberer, gierige Gutsherren, später die von Nazis zu »Kraft durch Freude« verdonnerten Badegäste, dann landverschickte Kinder, ab 1945 Flüchtlingstrecks und Sowjetsoldaten. Nach der Enteignung folgten graugesichtige Chemiearbeiter, die in F D G B-Heimen nach Sättigungsbeilagen und Fassbrause Schlange stehen mussten. Heute überschwemmen im Sommer mallorcamüde Touristen die Insel, die Sangria am Ostseestrand und Busverbindungen zum Gipfel der deutschen Romantik in Form der Kreidefelsen verlangen.

Der Eigenbrötler Caspar David Friedrich hätte sein Stubbenkammerbild, das Rügens Steilküste zur Nationalikone gemacht hat, sicher verbrannt, hätte er geahnt, welchen Rummel er auslösen würde. Würstchen kauende Kreidefelstouristen, die sich im Sommer um einen Platz auf der Aussichtsplattform drängen, verstellen sich den Blick auf das, was sie sehen wollen: erhabene Einsamkeit und Natur.

»Trotzdem«, begehrt Lilli verärgert gegen ihr verächtliches Alter Ego auf, Urlaub müsste man hier machen. Jetzt. Ihr geht es so viel besser, seit sie auf Rügen ist und in der Villa Möwe. Seit sie hier ist, ist sie beinahe entspannt. Sie schickt ihren Blick zurück ans Meer. Verschont von Bäderbahnen, Strandanimation, Budenrummel und Badeaccessoires aus grellbuntem Plastik, entfaltet Deutschlands größte Insel vor Saisonbeginn eine Magie der Stille, die keine Vergnügungsindustrie braucht.

»Was hast du gegen harmlose Vergnügungen? Du bist ein schlimmerer Snob als dein Vater«, tadelt sich Lilli und greift nach ihrer Kaffeetasse.

Im Geiste nimmt Leopold ihr gegenüber Platz. Er schüttelt widerwillig seine graugesträhnte Löwenmähne: »Binz ist Talmi, mein Kind, eine Illusionsfabrik für Banausen. So viel alte Bäderarchitektur wie heute hat es dort nie zuvor gegeben.«

Na und?

Als wäre ihr Vater nicht selbst ein Meister des falschen Scheins. Lilli seufzt. Sie könnte Urlaub wirklich gebrauchen. Am besten von sich selbst. Nein, am liebsten mit Charlotte, die sie mit jedem Tag mehr vermisst. Gott sei Dank verbringt sie nur die Wochenenden bei Clemens, da ist Lilli hart geblieben.

Sie lächelt weich und streichelt den orangefarbenen Ring aus Glaskeramik, den Charlotte ihr zum Abschied auf dem Kölner Bahnhof gekauft hat. Bei Nanu Nana, einem Teenagershop, der keine Mädchenwünsche offen lässt: Wünsche nach Duftkerzen, Tagebüchern in Seidenhüllen, Aromatees, Fensterkristallen, Windlichtern, Dekoblumen, Dekokissen, Dekogläsern, Dekosand, Deko-dies und Deko-das.

»Schrecklicher Krempel, was findet das weibliche Geschlecht nur an solchen Staubfängern? Die Dinge, mit denen man sich umgibt, sollten entweder schön oder nützlich sein, was auf nichts hier zutrifft«, hat Leopold geschnaubt, während Charlotte einem Entzückungsanfall nach dem nächsten erlag und das schlechte Gewissen von Lilli nach Kräften auszunutzen wusste.

»Kaufst du mir das gelb-rote Teeglas-Set, Mom?«

»Du trinkst doch gar keinen Tee!«

»Mom, biiiiiitte, meine Gäste könnten Tee trinken.«

»Du hast nie Gäste außer Karla, und die trinkt ausschließlich Diätcola. Literweise. Ich muss es wissen, schließlich habe ich die Pfandflaschen am Leib.«

»Sie will schlank werden.«

»Dann sollte sie die Maxi-Marsriegel zur Cola weglassen.«

»Sie kann doch nix dafür, dass sie dick ist. Ihre Oldies sind voll die Katastrophe zurzeit, so wie du und... Na ja, da braucht sie was auf den Rippen. Dickes Fell und so.«

Lilli hat sich auf die Lippen gebissen. Charlotte ist eine rührende Mischung aus frühpubertärer Egozentrik und grenzenloser Fürsorglichkeit, die sie schon als kleines Mädchen an den Tag gelegt hat. Wie so viele Kinder, die nur einen Elternteil haben und zu schnell gewissenhaft und erwachsen werden, weil sie Mama oder Papa helfen wollen.

Lilli kennt das, schließlich ist sie ohne Mutter aufgewachsen und war Papas begeisterter kleiner Helfer. Gefährlich begeistert. Wie Charlotte.

»Tee wäre eine prima Alternative für Karla! Vielleicht gibt es ja welchen mit Colageschmack. Mom, ich brauche dieses Tee-Set. Ich soll mich bei meinem Dad doch heimisch fühlen, wenn ich ihn besuche – oder? Ein Tee-Set ist sooo gemütlich.«

»Dein Vater ist kein Teetrinker.«

»Kann er aber noch werden, oder?« Sicher nicht.

Trotzdem hat Charlotte das Tee-Set bekommen und Teefilter, Teelichter und Teelöffel dazu. Zum Dank hat sie Lilli dann den Keramikring geschenkt – von ihrem Taschengeld. Allen aufkeimenden Teeniemarotten zum Trotz ist Charlotte ein Seelchen.

»Damit du mich auf Rügen nicht vergisst, Mama.« Mama hat sie gesagt. Nicht dieses saublöde Mom, das Charlotte kürzlich aus amerikanischen Teenagerserien übernommen hat.

Als ob Lilli ihre Tochter jemals vergessen könnte! Sie muss ein paar Tränen wegblinzeln und schnieft in eine Papierserviette. Charlotte ist der Mittelpunkt ihres Lebens, seit sie nach der Geburt als winziges Bündel auf ihrem Bauch gelegen hat, Haut auf Haut und Herz an Herz. Das Gefühl kann ihr niemand nehmen, das gehört ihr.

Ihr Kind hat Lilli mit Dimensionen von Liebe und Furcht bekannt gemacht, von denen sie vorher nicht ahnte, dass sie existieren. Nervös greift sie nach einem Croissant. Wenn Clemens seine, nein ihre, Tochter in seine Tricksereien hineinzieht, wird sie ihn umbringen. Zur Not mit dem Marmeladenstreichmesser vor ihr. Sie umklammert es so grimmig und entschlossen, dass die Knöchel ihrer Finger weiß hervortreten.

»Möchten Sie noch etwas Kaffee?«, unterbricht die Pensionswirtin, die aus dem Nichts auftaucht, ihre Gedanken. In der linken Hand hält sie einen Strauß Stiefmütterchen aus ihrem Garten. Lilli lässt das Messer fallen und schaut auf. Sie mag die silbernen Augen und das Damengesicht der Wirtin, das stets von einem rosigen Schimmer überhaucht ist. Oder handelt es sich einfach um Couperose?

Sie sollte ihre Brille auch privat tragen, um nicht noch einmal Opfer ihrer eigenen Illusionskünste zu werden, aber ohne Brille sind die Welt und ihre Bewohner liebenswerter. Kurzsichtigkeit kann ein Segen sein.

»Nein, vielen Dank, Frau Tressewitz, ich muss los.«

Die Wirtin macht sich daran, einen Frühstückstisch einzudecken, ordnet die Blumen in einer kleinen Glasvase an. Sie hat Geschick für Details, denkt Lilli. Der Tisch und die Stiefmütterchen vor dem Verandafenster ergäben eine ansprechende Pastellskizze, wenn man alles so verschwommen malen würde, wie sie es jetzt sieht. Mehr Gefühl als Abbildung. Schon wieder denkt sie in Bildern! Nein, sogar ans Malen. War wohl eine Tablette zu viel.

Rasch schiebt Lilli mit den Knien den Korbstuhl nach hinten. Raue Halme strecken Krallen nach ihren Nylonstrümpfen aus.

Hastig untersucht sie die Strümpfe nach einer Laufmasche und ihren marineblauen Etuirock nach Krümeln. Dass sie aber auch für ihre Gutachterjobs immer diese schachtelartigen Kostüme tragen muss, die jede Bewegung uniformieren und einen zwicken, wenn man sich – wie jetzt – nach seiner Tasche bückt.

Lieber trüge Lilli Kleidung, die sie verschwinden ließe. Ihr Körper geht die Menschen genauso wenig an wie ihr Seelenleben. Dabei ist er biegsam und an angebrachten Stellen üppig, aber ihr Körper ist ihr so fremd geworden wie sie sich selbst. Sie haust in ihm, statt ihn lustvoll zu beleben.

Als sie noch gemalt oder Bilder restauriert hat, hat sie weite T-Shirts getragen und sich schüchtern genossen. Sie wollte sich spüren. Die Kraft und Lust, die sich mit jedem Pinselstrich auf die Leinwand übertrugen, um verdoppelt auf sie zurückzuströmen, wenn ihre Fantasien eine Gestalt annahmen, die fremd, aufregend und vertraut zugleich war. Das war Leidenschaft. Gelebte Sehnsucht. Lilli erschrickt, zuckt vor sich selbst zurück. Aber es stimmt, damals hatte sie diese Vorahnung, wie es sein kann, lustvoll dem Fremden zu begegnen, der verlorenen Hälfte, dem Seelenzwilling.

Clemens?

Nein, nicht Clemens.

Wer dann?

Niemand. Nie. Sie braucht keine Ergänzung und schon gar keine Sehnsucht.

Frau Tressewitz kehrt an ihren Tisch zurück.

»Haben Sie heute wieder mit den Bildern auf Gut Seelitz zu tun?«

Lilli schaut wie ertappt auf. Noch mehr als das Gesicht der Wirtin hat sie deren bislang beiläufige Neugier geschätzt. Doch die Schonfrist scheint vorbei. Die sanfte Wirtin Wündermild verstellt ihr den Weg zur Diele und der Garderobenleiste. Ihr Blick ist in die Ferne gerichtet, als suche sie Schwedens Küstenlinie. In Wahrheit ist Hermine Tressewitz noch weiter weg.

»Ich habe meine Kindheit auf dem Gut verbracht.« Sie hält kurz inne, um Erinnerungen nachzuschmecken wie einem Sahnebonbon. »Damals lebte Malte von Seelitz noch. Kunst war seine Leidenschaft. Er hat später sogar selbst gemalt und uns Kindern Zeichenunterricht gegeben.« So viel haben ihr Hänsel und Gretel inzwischen verraten. »Über der Kredenz im Speisesaal hängt ein Werk von ihm. Was halten Sie davon?«

Lillis Blick irrt ins Dunkel des angrenzenden Raumes. Schwach erinnert sie sich an eine Gouache in wie im Zorn hingepinselter Wasserfarbe. Der Rahmen ist hübsch, aber das Bild? Ein tristes Seestück, wie im Zorn gemalt und im Stil – ja, in welchem Stil? Dem eines dilettantischen Schmierfinks. Basta.

Du klingst wie dein Vater!

»Ich hatte noch keine Gelegenheit, es zu betrachten«, lügt sie. Sie will Frau Tressewitz nicht wehtun, die mit hellem Kinderblick auf ein Urteil wartet.

»Das müsste Sie doch interessieren. Malte hat für die Kunst gelebt, glauben Sie mir.«

Nein! Bitte keine Geschichten über Kunst und Leidenschaft, fleht Lilli stumm und greift nach dem Riemen ihrer Schultertasche, als handele es sich um eine Rettungsleine. Sie hat hier nur einen Job zu erledigen. Frau Tressewitz scheint zu begreifen und kehrt ohne Umschweife in die Gegenwart – leider Lillis Gegenwart – zurück. Dabei lächelt sie freundlich.

»Was für einen interessanten Beruf Sie haben. Kunstgutachterin, das klingt für mich wie eine Belohnung. Den ganzen Tag Bilder zu betrachten. Mit Kennerblick.«

»Ich habe es nicht oft mit einer Sammlung von Meisterwerken zu tun, sondern meist mit Menschen, die ein grauenvolles Ahnenporträt für einen verkannten Rembrandt halten, den sie teuer versichern lassen wollen.«

Sie beißt sich auf die Zunge, verdammt, hoffentlich bezieht die Wirtin Tressewitz das nicht auf sich und das Seebild. Tut sie nicht.

»Aber mit der Sammlung Sammering ist das doch anders! Was man darüber so hört... Leider hat sie hier nie jemand zu Gesicht bekommen. Die Sammerings haben keine Besucher vorgelassen.«

Lilli lässt weich die Luft aus ihrem Mund strömen. Dem Himmel sei Dank!

»Wir Rüganer hätten es zu schätzen gewusst, wenn der alte Herr das Gut der Öffentlichkeit zugänglich gemacht hätte. Rügen hatte immer einen Ruf als Künstlerinsel. Carus und Feininger, alle haben die Insel gemalt – und natürlich Caspar David Friedrich.« Sie macht eine Pause. Lilli schließt kurz die Augen. Der Name geht ihr auf die Nerven. Hermine Tressewitz bemerkt es nicht.

»Es ist ein Jammer, dass Sammering kein Museum wollte und nun alles den Tierheimen seiner Frau vermacht hat. Die Kunst sozusagen den Hunden zum Fraß vorzuwerfen, das ist doch...«

Ein Segen, denkt Lilli, während sich ihr Puls beschleunigt, weil Frau Tressewitz die Stellung hält und mit schlankem Zeigefinger Krümel von der Tischdecke tupft. Lilli räuspert sich.

»Vor dem Verkauf wird die Sammlung einen Monat auf Gut Seelitz gezeigt. Das ist eine Attraktion, die internationales Aufsehen erregen wird, Frau Tressewitz. Das tut sie schon jetzt.«

Die ersten Meldungen über den Verkauf der Sammlung sind in der Fachpresse erschienen, und Anfragen nach Listen und Katalogen überschwemmen die Galerie Leopold Wandler. Nach ihrer Rückkehr von Rügen wird sie sich darum kümmern. Dann, wenn die richtigen Bilder problemlos der Öffentlichkeit und echten Kennern präsentiert werden können.

Frau Tressewitz zeigt sich mäßig beeindruckt. »Ja, sicher. Wir freuen uns auch darauf, aber...«

»Verzeihung, ich muss wirklich los.« Lilli schultert ihre Tasche, als handele es sich um einen Karabiner. Die Wirtin hält die Stellung.

»Eine Zeichnung von Picasso soll Sammering gehabt haben.«

Er hatte sogar zwei.

Nur was für welche! Lillis Puls beginnt zu jagen, in ihren Ohren scheint die Ostsee zu rauschen. Unweigerlich wird sie in einen Strudel der Erinnerung herabgerissen und hat Angst zu ertrinken. Aber in Wohnzimmern ertrinkt man nicht.

Bei den Picassos hat sie ihr Bestes gegeben. Mit neunzehn Jahren. Die Zeichnungen waren Teil ihrer Meisterprüfung als Restauratorin. Leopold Wandler hat sie für die Kopien in höchsten Tönen gelobt.

»Meine Liebe, du hast Picasso nicht nachgeahmt, sondern nachempfunden. Ist das nicht äußerst befriedigend? So hochtalentiert, wie du bist, werden sich die Museen in aller Welt um deine Mitarbeit reißen, man wird dir die größten Meister anvertrauen. Du wirst sie sozusagen ganz für dich haben. Wenigstens auf Zeit. Beneidenswert. So weit hätte ich es nie gebracht.«

Sie war so froh über sein überschwängliches Lob gewesen, dass sie ihm die Zeichnungen geschenkt hat. Auch deshalb, weil sie nicht vorhatte, weiter als Restauratorin zu arbeiten, sondern sich an der Kunstakademie zu bewerben. Die Kopien sollten ein Trost für Leopold sein, ihr Abschied aus seiner Welt der Imitationen, hin zu sich selbst.

Papas kleiner Helfer hat doch nicht ahnen können, was er mit ihren Kopien und den beiden Originalen, die er für Sammerings Geld erworben hatte, tatsächlich vorhatte.

Nämlich sie auszutauschen, um die Originale für sich zu behalten.

Soso, und du hast nichts geahnt, murmelt Lilli Dummchens Alter Ego.

Es waren meine einzigen Arbeiten für ihn, verteidigt sich Lilli gegen sich selbst.

Du hast also doch etwas geahnt?

NEIN.

Ihr Alter Ego muss in einem früheren Leben mit der spanischen Inquisition betraut gewesen sein. Verflixte Tabletten, so hartnäckig hat ihr Seelenspion bislang nicht um Aufklärung gerungen. Und Lilli Dummchen ganz bestimmt nicht. Schließlich liebt sie ihren Vater. Ihr Alter Ego schweigt. Verdammt, sie liebt ihn wirklich. So sehr, dass es wehtut wie jetzt.

Keine Gegenstimme.

»Ich liebe Picasso«, schwärmt hingegen Frau Tressewitz, »und dann dieses impressionistische Gartenbild von Sisley, das Ihr Vater ersteigert haben soll! Gärten sind meine schwache Stelle, daher kenne ich Sisley. Ein zweiter Monet!«

Die Stimme der Wirtin klingt ehrfürchtig, ihre Gesichtsfarbe ist jetzt eine Studie in Pink. »Ich würde es zu gerne einmal im Original sehen. Werden Sie sich das Bild heute anschauen?«

»Nein, erst morgen«, sagt Lilli schroff und zieht den Bauch ein, um sich an Frau Tressewitz vorbeizuschlängeln, die aufrecht wie ein Zinnsoldat vor ihr verharrt.

»Ihr Vater scheint sich wirklich auszukennen mit großer Kunst.«

Lillis Herz setzt einen Takt aus, dann keimt Wut in ihr hoch. Sie drängt sich an Frau Tressewitz’ schmaler Hüfte vorbei und schubst die Wirtin dabei gegen die Tischkante. Das Geschirr klappert vorwurfsvoll.

Lilli wirft den Kopf zurück und steuert über den schwarzweiß gefliesten Steinboden des Speisesaals vorbei an der Nussbaumkredenz und dem Seestück darüber die Diele an. Wer solche Bilder aufhängt, kann nichts von Kunst verstehen. Lilli greift nach ihrem Wollmantel.

»Und mit was«, ruft Frau Tressewitz ihr hinterher, »befassen Sie sich heute dann?« Pause.

»Einem Caspar David Friedrich vielleicht?«

Drei Frauen auf Rügen

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