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Chapter Two – The Dark Knight

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Als Bea am Abend das Rathaus verließ, schwirrte ihr der Kopf. Sie war nicht mehr fähig gewesen, sich auf die Arbeit zu konzentrieren, und hatte Maya stattdessen über Charlie und seine Biker-Gang ausgequetscht. Sie konnte nicht fassen, dass er ein Outlaw geworden war. Damit war er das exakte Gegenteil von ihr; das Gegenteil von dem, was sie befürchtet hatte, zu werden, wenn sie in Wolfville geblieben wäre. Einmal mehr war sie froh, rechtzeitig den Absprung geschafft zu haben.

Die leise Stimme, die ihr zuflüsterte, dass sie abermals hier – und pleite war, weil sie in New York mit dem Gesetz in Konflikt geraten war, ignorierte sie geflissentlich. Diese Episode war nur ein winziger Stolperstein auf ihrem Weg zu dem perfekten Leben, das sie sich ausgemalt und geplant hatte. Bald hätte sie diesen Rückschlag überwunden, könnte von hier verschwinden und ein anständiges Leben führen.

Anders als Charlie. Er hatte den entgegengesetzten Weg gewählt; den, der offensichtlich nach unten führte …

Maya konnte Bea leider nicht erklären, wie es zu seiner Entscheidung gekommen war. Es musste jedenfalls in Vegas begonnen haben, wo Charlie und sein bester Freund Chris ein paar Jahre nach der High School Arbeit gefunden hatten. Bea erinnerte sich gut an Chris, den Frauenschwarm mit den abstehenden Ohren. Chris war furchtbar schlecht in der Schule gewesen, aber weil er immer schon groß und stark gewesen war, war er der geborene Sportlertyp. Bea war sicher, er hätte sehr viel mehr aus sich machen, ja sogar ein Sportstipendium erhalten können, wenn er sich nicht immer mit Charlie und ihr abgegeben hätte.

Bei den affigen Footballspielern und den arroganten Cheerleadern, mit denen vor allem Bea nicht ausgekommen war, machte er sich jedenfalls nicht durch seine Freundschaft zu ihnen beliebt, was sich wiederum auf das Verhalten seiner Teamkollegen in den Spielen auswirkte. Und dass er bei jedem Mist mitgemacht hatte, den sie anstellten, verärgerte nicht nur seinen Coach, sondern auch den Direktor – beide hielten Charlie und Bea für einen schlechten Umgang und pures Gift für das ach so große Potential ihres Supersportlers. Doch Chris war das immer egal gewesen. Es überraschte Bea daher nicht im Geringsten, dass die beiden Jungs zusammen in den Abgrund gerutscht waren.

Laut Maya war das mit den Bikern erst lange nachdem Bea die Stadt verlassen hatte, passiert. Anscheinend hatte man zwei Jahre lang nichts von Charlie und Chris gehört, bis sie urplötzlich mit Kutten, Bikes und einigen zwielichtigen Gestalten im Schlepptau nach Wolfville zurückgekehrt waren, ein altes Farmhaus an der Stadtgrenze gekauft und dort ein Chapter des landesweiten Motorradclubs Satan’s Advocates gegründet hatten. Zack – einfach so. So schien es zumindest.

Kurz darauf kursierten auch schon haufenweise Gerüchte in der Stadt. Drogen-, Waffen- und Frauenhandel klangen recht glaubhaft, und Bea stellten sich die Nackenhaare auf, als Maya von Auftragsmorden und Partnerschaften mit mexikanischen Kartellen und der Russenmafia erzählte. Sie hoffte, dass wie bei den meisten Gerüchten nur ein Bruchteil davon wahr war.

Offiziell besaßen die Advocates in der Gegend ›nur‹ einige Bordelle, Stripclubs und Spielhallen, was im Staate Nevada zwar nicht illegal war, Bea aber dennoch anekelte – wenn auch nicht annähernd so sehr wie die Gerüchte, dass Polizei und County Sheriffs bei den Outlaws gerne mal ein Auge zudrückten, weil sie dafür Jahreskarten im Puff ihrer Wahl bekamen. Das fiel Bea ausnehmend leicht zu glauben. Denn Wolfville war für sie schlichtweg verkommen und hatte immer schon etwas Höllenartiges an sich gehabt. Aus diesem Grund hatte Bea so verzweifelt hier weg gewollt und sich deshalb im letzten High School Jahr einen Freund mit Footballstipendium gesucht, mit dem sie wenig später nach LA fliehen konnte. Leider hatte sich Jared recht schnell als fatale Enttäuschung entpuppt – und war damit der Erste einer Reihe von frustrierenden Liebschaften gewesen …

Ein knatterndes Motorengeräusch riss Bea aus ihren Gedanken, als sie gerade in den Pick-up stieg. Wie automatisch schaute sie zur Straße hinüber. Ein dicker Kerl mit schulterlangen Locken, der selbstzufrieden wie ein Pascha auf seiner Harley saß, fuhr gemächlich an ihr vorbei. Diese Typen schienen zu glauben, ihnen gehörte diese Stadt.

Kopfschüttelnd lehnte sich Bea in den Sitz zurück und schaute in den wolkenlosen Himmel, sah dabei allerdings nur Charlies Gesicht vor sich.

In der ersten Zeit, nachdem sie fortgegangen war, hatte sie oft an ihn gedacht. Bis sie es endlich geschafft hatte, die Erinnerungen in den hintersten Winkel ihres Bewusstseins zu schieben – direkt neben die Gefühle. Nun hatte sich all das wieder befreit, und sie sah den dünnen Jungen mit dem gequälten silbergrauen Blick glasklar vor sich.

Es zerriss ihr das Herz, zu erfahren, wie falsch sie gelegen hatte. Die Gedanken an Charlie zu verdrängen war ihr nur gelungen, weil sie sich immer vorgestellt hatte, dass er ebenfalls aus Wolfville abgehauen war. Indem sie sich einredete, er hätte es rausgeschafft, bevor seine beschissene Vergangenheit ihn auffressen oder sein Adoptivvater ihn brechen konnte. Aber das war nicht geschehen. Im Gegenteil. Charlie war jetzt ein Outlaw. Und sein Adoptivvater, Rektor Brown, war vor einiger Zeit auf mysteriöse Weise verschwunden, wie man hörte. Bea wehrte sich gegen die Vermutung, die sich ihr in diesem Zusammenhang zwangsläufig aufdrängte. Ohnehin wollte sie nicht über Charlie nachdenken.

Die alten Schuldgefühle konnte sie momentan genauso wenig brauchen wie die längst vergrabenen Emotionen einer ersten Liebe. Sie waren heute andere Menschen, sie beide. Sie hatten sich in unterschiedliche Richtungen entwickelt, sich für verschiedene Leben entschieden. Nichts verband sie mehr. Selbstredend tat es ihr leid für den Jungen von damals, für den es offenbar zu spät war, aber mehr als ein leises Bedauern durfte sich Bea nicht erlauben. Denn für sie war der Weg noch nicht zu Ende. Und wenn sie sich auf ihren Plan konzentrierte, wäre sie bald wieder in der richtigen Spur.

Zunächst musste sie dringend ihre Schulden bei Jacob abbezahlen und ein weiteres Mal reumütig um Verzeihung bitten. Dann wäre er eventuell so nachsichtig, die Anzeige wegen Körperverletzung zurückzuziehen. Ihr Ex war zurecht sauer auf sie, denn als sie ihn in flagranti mit dieser Latina erwischt hatte, war die alte Bea in ihr durchgebrochen. Es war falsch gewesen, ihn zu schlagen, das war ihr vollkommen klar. Es tat ihr zwar nicht besonders leid, aber es war nicht richtig, zudem hatte sie sich fest vorgenommen, so etwas nie mehr zu tun. Diesen wütenden Teil von sich konnte sie zwischenzeitlich immer besser unterdrücken, und irgendwann wäre sie lediglich ein respektabler Mensch, der ein rechtschaffenes Leben führte. Das war alles, was sie immer gewollt hatte. Und nach der Begegnung mit Charlie war sie noch entschlossener.

Wolfville formte die bösesten Kreaturen, da war sie sicher. Deshalb musste sie so schnell wie möglich hier weg und durfte nicht zurückblicken.

Bea beschloss, die Rocker links liegen zu lassen und zu akzeptieren, dass der Junge, den sie einmal gekannt hatte, nicht mehr existierte. Der Mann, zu dem er geworden war, versprach nur Ärger, und Ärger wollte sie unter allen Umständen aus dem Weg gehen. Charlie erschien ihr wie das sprichwörtliche Fenster, das der Teufel öffnete, wenn Gott eine Tür schloss – die Versuchung, die sie auf den falschen Weg führen sollte.

Also wieso sich weiterhin damit auseinandersetzen? Wahrscheinlich hatte er sie nicht einmal erkannt. Feierlich nickte sie sich im Rückspiegel zu, dann startete sie den Motor und fuhr in Richtung ihres Elternhauses durch den Ort.

Es war derselbe Weg, den sie heute Morgen genommen hatte, und doch schien er sich total verändert zu haben. Mit einem Mal war er voll von Erinnerungen: Hier waren sie oft zusammen entlanggegangen, da vorne in Fred’s Laden hatten sie sich immer mit Schnaps eingedeckt, und im Diner auf der anderen Seite waren sie stundenlang gesessen und hatten das eine Bier, das sie sich leisten konnten, so lange hin und hergeschoben, bis es warm geworden war. Hauptsache, sie waren zusammen …

Bea schüttelte den Kopf und richtete den Blick stur auf die Fahrbahn. Es gab nicht nur gute, sondern ebenso unzählige böse Erinnerungen, und auf die sollte sie sich konzentrieren. Denn sie würde sich nicht von einem irrationalen Anflug aus Sentimentalität und Schwäche von ihrem Weg abbringen lassen. Dafür hatte sie zu hart an sich und für ihr Leben gearbeitet. An all die Streits sollte sie denken, an all die Besäufnisse und die Schlägereien, all das Chaos und den Zorn. Sie sollte sich daran erinnern, warum sie diesem staubigen Höllenloch für immer den Rücken kehren wollte. Doch als sie an ihrem Elternhaus ankam und sich eine der bösen Erinnerungen mit der Gegenwart vermischte, fiel es ihr mit einem Mal gar nicht mehr schwer, sich an all das Schlechte zu erinnern …

Bea stieg aus dem Wagen, ging auf die Haustür zu und kramte dabei in ihrer Handtasche nach den Schlüsseln. Mist. Sie musste sie im Büro liegengelassen haben. Seufzend rüttelte sie an der Klinke, aber die Tür war verschlossen. Aus Gewohnheit hatte sie abgeschlossen, als sie heute Morgen zur Arbeit gegangen war, ohne daran zu denken, dass noch jemand in diesem Haus lebte: ihre Mutter, die heute anscheinend den ganzen Tag nicht draußen gewesen war.

Bea schaute durch das Fenster ins Wohnzimmer und sah das Licht des Fernsehers, das ins Rauminnere strahlte und stetig die Farbe veränderte, wodurch es wirkte, als blitzte es im Inneren. Durch den gelblich-grauen Vorhang nahm sie die liegende Gestalt auf dem Sofa nur verschwommen war, erkannte aber genug, um zu wissen, dass sich Rosemary mal wieder ins Whiskykoma versetzt hatte.

Der Anblick war alles andere als neu. Und die Situation, vor verschlossenen Türen zu stehen, war Bea ebenfalls nicht fremd. In ihrer Jugendzeit hatte ihre Mutter sie des Öfteren an die Luft gesetzt.

Fluchend marschierte sie ums Haus zur Küche. Glücklicherweise lag auf der Fensterbank noch immer das kleine Metallblättchen, das sie früher schon zum Aufhebeln des Fensters benutzt hatte. Zwar sah es verwitterter und rostiger aus, aber es war nach all den Jahren noch hier – als wäre die Zeit einfach stehen geblieben, während sie fort gewesen war.

Wie damals fuhr Bea mit dem dünnen Blättchen zwischen die Verriegelung, die nicht mehr vollständig schloss und schob das Fenster mit Leichtigkeit auf. Daraufhin zog sie sich hoch und schwang sich mit den Füßen voran ins Haus. Sie warf einen Blumentopf mit vertrockneten Kräutern um und rutschte mit einem Fuß in die Spüle ab, schaffte es jedoch, hinein zu klettern.

»Das ging schon mal besser«, murmelte sie, als sie von der Küchenarbeitsplatte kletterte.

Naserümpfend betrachtete sie die Krümel und Essensreste, die überall verstreut lagen und darauf hinwiesen, dass ihre Mutter versucht hatte, sich ein Sandwich zu machen. Die umgeworfenen Bierdosen auf dem Küchentisch und die herb stinkenden Pfützen auf dem Boden ließen vermuten, dass sie dabei nicht sonderlich erfolgreich gewesen war. Bea war erst seit zwei Tagen zurück, fühlte sich aber schon wie das Hausmädchen einer Horde Wilden.

Seufzend ging sie an dem Saustall vorbei in Richtung Wohnzimmer.

So oft sie dieses Bild bereits gesehen hatte, und wenn auch noch so viel zwischen Bea und ihrer Mutter stand, dieser Anblick versetzte ihr jedes Mal aufs Neue einen gewaltigen Stich mitten ins Herz: Ihre Mutter lag bäuchlings auf der braunen Cordcouch und war vollständig weggetreten. Ihre Haltung sah ziemlich unbequem aus. Das Kissen lag zerknautscht unter ihrem Hals, wodurch ihr Kopf nach vorne hin absank. Ihr Gesicht war größtenteils von zerzaustem, dunkelblonden Haar verdeckt, und einer ihrer viel zu dünnen Arme hing an der Seite hinab, sodass ihre Finger den Fußboden streiften. Im Aschenbecher glomm noch eine halb gerauchte Zigarette vor sich hin, und aus der umgefallenen Whiskyflasche tropfte ein letzter Rest des billigen Fusels stetig auf den versifften, braunen Teppich.

Bea musste für einen Moment die Augen schließen. Allerdings half es nicht. Dieses traurige Bild einer Frau, der alles scheißegal war, hatte sich schon vor Jahren in ihr Gedächtnis eingebrannt.

Sie trottete den restlichen Weg zur Couch hinüber, drückte die Kippe aus und ging neben ihrer Mutter in die Hocke. Daraufhin zog sie das Kissen zurecht, damit Rosemarys Nacken nicht mehr so schief abknickte, und strich ihr ein paar verklebte Haarsträhnen aus dem Gesicht.

»Mom?« Sie wusste im Voraus, dass der Versuch zwecklos war, rüttelte aber trotzdem an ihrem Arm. »Mom, wach auf. Dein freies Wochenende ist vorbei, du musst zur Arbeit!«

Bea spürte, dass ihr Herz schneller schlug, als keine Reaktion kam. Sie schüttelte ihre Mutter ein wenig fester und war erleichtert, dass diese ein undefinierbares Grunzen von sich gab und sich von ihrer Tochter wegdrehte. Es war immerhin noch nicht bedenklich genug, um einen Arzt rufen zu müssen.

War es schlimmer geworden, seit sie allein war? Oder war Bea den Anblick nur nicht mehr gewohnt? Bei ihrer Ankunft hatte sie noch den Eindruck gehabt, dass sich ihre Mutter im Griff hatte.

Bea war von jeher der Überzeugung gewesen, Rosemary hatte nur angefangen zu trinken, um ihrem Ehemann etwas zu beweisen. Beas Vater Frank war ein mieser Säufer und Frauenfeind gewesen, im Laufe der Jahre war er im Suff immer aggressiver und brutaler geworden. In nüchternem Zustand war er zwar streng und launisch gewesen, hatte sich aber zu jeder Zeit unter Kontrolle gehabt. Bea war nicht sicher, ob er gelogen hatte, aber er gab ständig vor, sich nicht an die Vorfälle erinnern zu können. Er glaubte seiner Frau und seiner Tochter nicht, dass er sich derart wüst verhalten würde, wenn er sich – wie er es nannte – ein Bierchen genehmigte. Und auch sonst glaubte den beiden kaum jemand, denn Frank Kramer, der aufrechte Beamte im Dienste der städtischen Baubehörde, war ein derart korrekter und pedantischer Mensch, dass die Außenwelt nur den ordentlichen Schein wahrnahm. Rosemary und Bea hatten es schließlich aufgegeben, Hilfe zu erwarten, und sich aus eigener Kraft gewehrt, so gut sie konnten.

Bea sah zu, dass sie sich so wenig wie möglich zu Hause aufhielt, und Rosemary wusste sich irgendwann nicht mehr anders zu helfen, als sich ebenfalls zu betrinken. Oft griff sie ihn im Suff an, weil sie wollte, dass er sah, wie ekelhaft ein Mensch werden konnte, der sich nicht unter Kontrolle hatte. In Beas letztem High School-Jahr begannen dann die körperlichen Auseinandersetzungen zwischen ihren Eltern, und auch die Streits zwischen Bea und ihrer Mutter wurden immer heftiger.

Ihr Verhältnis war nie das harmonischste gewesen, sie hatten sich bereits früher oft gestritten, aber je mehr sie trank, desto schlimmer wurde es. Für Rosemary war ihre Tochter irgendwann nur noch das ›undankbare Gör‹ gewesen, das ihr auf der Tasche lag und immer eine Versagerin bleiben würde. So oft hatte sie sie aus dem Haus geworfen, sie angebrüllt, sie solle verschwinden und ihnen allen damit das Leben leichter machen. Bea hatte letztlich auf ihre Mutter gehört und dieses Höllenloch hinter sich gelassen. Sie hatte nicht einmal zurückgeblickt, als ihr Vater kurze Zeit später gestorben war. Hin und wieder schoss ihr die Frage durch den Kopf, ob ihre Mutter nach seinem Magendurchbruch absichtlich zu spät den Krankenwagen gerufen hatte. So falsch das gewesen wäre, sie könnte es ihr nicht verübeln. Ebenso wenig wie ihr Verhalten Bea gegenüber. Denn dieses ergab auf eine verdrehte Weise sogar Sinn.

Obwohl Rosemary ständig vorgab, nichts für ihre missratene Tochter übrig zu haben, glaubte Bea manchmal, ihre Mutter hatte es ihr nur leicht machen wollen. War es vielleicht so, dass sie sie aus der Stadt vertreiben wollte, weil Bea nur dadurch eine reelle Chance gehabt hatte, es in der Welt zu etwas zu bringen? Das war es doch, was Mütter taten, oder nicht? Sie schützten ihre Kinder. Auch vor sich selbst, wenn es sein musste.

»Vielleicht war ich aber schon so lange unter anständigen Leuten, dass es mir schwerfällt zu glauben, wie böse die Menschen sein können und ich mit meiner gesamten Fantasie nach Erklärungen suche«, sagte Bea, ehe sie sich erhob und zurück in die Küche ging.

Irgendwo in dieser Müllhalde musste doch ein Hinweis darauf zu finden sein, wie die Bar hieß, in der Rosemary arbeitete, damit sie sie im Telefonbuch finden konnte. Bea wollte ihre Mutter wenigstens krankmelden. Denn wenn sie noch genauso unzuverlässig war wie früher, war Rosemary dort wahrscheinlich nur noch beschäftigt, weil der Boss Mitleid mit der armen Säuferin hatte. Und wenn sich dann erst herumgesprochen hatte, dass Bea wieder in der Stadt war, konnte der Barbesitzer leicht auf den Gedanken kommen, sie sorge jetzt für ihre Mutter. Wenn das kein Grund war, sie ohne schlechtes Gewissen rauszuwerfen.

Es war natürlich nur Spekulation, aber Bea wollte das Risiko auf keinen Fall eingehen. Denn mit ihrem mickrigen Gehalt konnte sie es sich keinesfalls leisten, Rosemary auszuhalten. Nicht, wenn sie ihre Schulden abbezahlen wollte.

Sie durchwühlte die Schubladen, in denen sie von Kugelschreibern über Kochlöffel bis hin zu Kondomverpackungen alles vorfand, nur keinen Hinweis auf die Arbeitsstelle. Fieberhaft überlegte sie, was Rosemary über die Bar erzählt hatte. Der Name hatte – passenderweise – irgendetwas mit Dämonen zu tun, an so viel erinnerte sich Bea noch. Und der Schuppen lag am Ortsende in Richtung Pahrump.

Wenn sie keine Nummer fand, musste sie wohl vorbeifahren und ihre Mutter persönlich entschuldigen. Ob ihr jemand glaubte, wenn sie sagte, Rosemary sei krank geworden? Bis sie vor dem Barbesitzer stand, sollte ihr eine bessere Geschichte einfallen, sonst kam er am Ende noch auf die Idee, sie könnte für ihre Mutter einspringen.

Mit einem entnervten Schnauben gab Bea die Suche auf. Sie marschierte in den Flur und kramte die Schlüssel aus der Handtasche ihrer Mutter. Dann verließ sie das Haus.

Als sie in den Pick-up einstieg und losfuhr, packte sie ein merkwürdiges Gefühl. Ihr Herz schlug heftiger, und ihre Handflächen wurden feucht, als wäre sie im Begriff, etwas Dummes zu tun. Bea konnte sich diese seltsame Besorgnis nicht erklären. Also schüttelte sie sie ab und konzentrierte sich auf die Straße.

Am Ortsende angekommen, musste sie nicht lange suchen – die Bar war nicht zu übersehen. Auf dem riesigen, schwarz angestrichenen Holzschuppen prangten in dicken roten Lettern die Worte ›The Demon’s Courtroom‹. Rosemary arbeitete also im Gerichtssaal der Dämonen. Bea schmunzelte unwillkürlich.

Sie stellte den Pick-up auf dem fast leeren Parkplatz ab und ging zur Eingangstür, auf die eine dämonische Fratze gemalt war. Die scheußliche Grimasse sah tatsächlich so aus, als sei sie eben der Hölle entsprungen. Bea lief bei dem Anblick ein kalter Schauder über den Rücken. Ihre Hand zitterte, als sie sie nach der Klinke ausstreckte. Wieso nur machte dieser Ort sie derart nervös?

Sie atmete tief durch, dann betrat sie die Bar. Im Inneren des Schuppens war es überraschend sauber und die Atmosphäre sehr viel einladender, als es von außen den Eindruck machte. Ein dezenter Geruch nach Zitruspolitur, Zigarettenrauch und Bier wehte Bea um die Nase, während sie an der robusten Holztheke entlangging. Sie betrachtete die kultigen Blechschilder an den Wänden, die ordentlich aufgereihten Schnapsflaschen, die kopfüber an ihren Halterungen hinter dem Tresen hingen und die sauber polierten Gläser in den Regalen. Aus den Boxen über ihr scholl »The House Of The Rising Sun«; noch etwas, das Bea als sehr passend empfand.

Im hinteren Teil der Bar saß eine Gruppe älterer Herren. Sie rauchten, spielten Karten und hoben nur müde den Blick. Bea blieb unschlüssig an der Theke stehen, da stürmte eine Frau mit einigen Wodkaflaschen im Arm aus einer offenstehenden Tür heraus und trat diese schwungvoll zu. Sie war etwas größer als Bea, schätzungsweise um die einen Meter siebzig. In dem kurzen Jeansrock wirkten ihre Beine ewig lang. Das Top mit Spitze an Dekolleté und den Seiten betonte den oberen Teil ihres kurvigen Körpers genauso optimal wie der Rock den unteren, und eine blonde, wellige Mähne fiel locker über ihre Schultern bis zur Taille. Selbst Bea musste zugeben, dass diese Frau verdammt sexy war – ohne sich groß dafür anstrengen zu müssen.

Im Gegensatz zu Bea, die eher schmal und zierlich war, passte diese Frau perfekt an die Theke einer solchen Bar. Bestimmt machte sie einen hervorragenden Umsatz.

Die Blondine stutzte, und ein fragendes Lächeln formte sich auf ihren Lippen, als sie Bea und vor allem deren Outfit musterte. Zugegeben, in ihrer feinen Stoffhose, dem Blazer und den schicken Pumps passte sie nicht unbedingt hier her.

»Hi, setz dich doch, ich bin gleich bei dir«, sagte die Kellnerin und machte eine unbestimmte Geste mit einer Flasche durch den Raum, wodurch ein kleines Tattoo an der Innenseite ihres Handgelenks aufblitzte. Ein Vogel, wenn Bea richtig gesehen hatte.

»Nein, danke, ich bleibe nicht. Ich bin wegen meiner Mutter hier, Rosemary Kramer. Sie arbeitet in dieser Bar, richtig?«

Die Blondine blieb abrupt stehen, stellte die Flaschen auf der Theke ab und drehte sich mit neugierig erhobenen Brauen zu Bea um. »Du bist Rosies Tochter?« Ihr Tonfall ließ vermuten, dass sie mehr wusste, als Bea lieb war. »Das ist ja ’n Ding …« Ganz langsam verschränkte sie die Arme vor der Brust, während sie Bea von oben bis unten beäugte.

»Tja, also … Jedenfalls kann sie heute leider nicht zur Arbeit erscheinen. Ich … wollte sie krank melden.« Im Grunde war Bea eine gute Lügnerin, aber unter dem wissenden Blick von Rosemarys Kollegin erschien es ihr schlicht sinnlos, eine Geschichte zu erfinden.

Die Frau sog die Unterlippe ein und nickte mit mitfühlender Miene. »An manchen Tagen ist es richtig schlimm. Was haben wir nicht alles versucht. Aber sie verliert leider oft einfach den Willen, durchzuhalten«, sagte sie, bevor sie wieder lächelte. »Ich bin Emma.«

»Bea.«

»Weiß ich …« Emma wies auf einen Barhocker. »Ich gebe dir Rosies Scheck mit; Freitag war Zahltag. Setz dich doch solange an die Bar. Und du willst bestimmt nichts trinken?«

»Nein. Ganz sicher nicht.«

Bea ließ sich auf einem der Hocker nieder und schaute der Blondine nach, die erneut durch die Tür ins Hinterzimmer verschwand. Diese Emma schien nett zu sein, trotz des merkwürdigen Untertons, den sie angeschlagen hatte. Wahrscheinlich hatte sie die alten Geschichten über Bea gehört, kein Wunder also, dass sie die ›verlorene Tochter‹ zunächst misstrauisch beäugte. Komisch war allerdings, dass sie weder überrascht noch wütend war, weil Rosemary an diesem Abend nicht zur Arbeit erscheinen würde. Vermutlich war Emma es gewohnt, was wieder einmal die Frage aufwarf, wieso Beas Mutter hier noch einen Scheck bekam.

Bea ließ den Blick über einige Whisky-Fässer schweifen, die an der Wand vor dem Hinterzimmer in Regalen standen, und blieb an einer Malerei der inzwischen so vertrauten dämonischen Fratze über der Tür hängen. Über dem Bild erkannte sie drei blutrote Lettern: ›SAW‹. Das gleiche Symbol sowie die Buchstaben fanden sich auf Gläsern, Aschenbechern und sogar sorgfältig eingeritzt in der Holztheke wieder. Bea spürte, wie ihre Handflächen feucht wurden. Mit einem Mal wusste sie, warum sie dieser Ort derart nervös machte. SAW bedeutete Satan’s Advocates Wolfville. Das hier war eine Bikerbar. Die Bikerbar des Clubs, dem Charlie angehörte.

Ein lautstarkes Knattern auf dem Parkplatz bestätigte ihre Annahme nur eine Sekunde später. Es mussten mehrere Motorräder vorgefahren sein, denn das Geräusch wurde zuerst leiser, bevor es verebbte. Mist. Davor hatte ihr Unterbewusstsein sie also warnen wollen. Tief in sich hatte sie anscheinend geahnt, dass sie ihn hier treffen würde.

Bea wandte der Tür den Rücken zu, trommelte mit den Fingern auf der Theke und versuchte, Emma per Gedankenübertragung zur Eile anzutreiben. Wenig später ging die Tür auf, und Schritte erklangen. Es waren zwei Personen; vier donnernde Sohlen auf dem Holzfußboden.

Bea schüttelte sich die Haare wie einen Vorhang vors Gesicht und zwang sich, in Richtung der Tür zu schauen, aus der Emma just in diesem Moment trat. Sie begrüßte die Männer mit einem lasziven Lächeln, das so ganz anders war, als das, mit dem sie sie zuvor bedacht hatte. Bea sah noch, wie es in Emmas Augen aufblitzte, da trat Charlie in ihr Blickfeld. Er legte der Frau eine Hand an die Hüfte, küsste sie flüchtig auf die Lippen und sagte etwas, das Bea aus der Entfernung nicht verstehen konnte.

Die Berührungen, die Blicke, der gesamte Umgang miteinander wirkte derart vertraut und intim, dass Bea am liebsten weggeschaut hätte, weil sie sich wie ein Eindringling fühlte. Aber sie konnte nicht. Sie konnte ihn nur anstarren, während sie damit beschäftigt war, das irrationale Gefühl der Eifersucht in sich zu unterdrücken.

Hatte sie Emma vorhin wirklich als sexy bezeichnet? Neben Charlie sah sie klein und zierlich aus, fast schon unscheinbar. Vielleicht lag es daran, dass sie soeben einige Sprossen in Beas Sympathieleiter hinabgestürzt war. Oder es kam daher, dass Charlie alle Aufmerksamkeit auf sich zog. Dieser attraktive Kerl mit dem kurzgeschorenen Haar, der Lederkutte, den massigen Ringen an Mittel- und Ringfinger und den bulligen Bikerboots machte gehörig Eindruck. Das musste Bea zugeben.

Charlie trat zurück, damit Emma seinen Begleiter begrüßen konnte; einen dürren Riesen mit unzähligen Falten im Gesicht. Er sah aus wie einer dieser verknitterten Hunde, ein Shar-Pei. Bei seinem verlebtem Anblick gruselte es Bea förmlich, weshalb sie den Blick auf seine Kutte senkte, von der ihr die hässliche Fratze einmal mehr entgegen grinste. Außerdem kreuzten sich hinter dem Dämon eine Sense und ein Richterhammer. Ah ja, verstanden. Nun gab der Name der Bar ebenfalls Sinn. Diese Spaßvögel hielten sich für das Gesetz, für Richter und Henker in einem.

Bea überlegte, wie sie den Courtroom nun unbemerkt verlassen konnte, da deutete Emma plötzlich auf sie und sagte ein paar Worte. Augenblicklich drehte sich Charlie zu ihr um. Als sich ihre Blicke trafen, fuhr es wie ein elektrischer Schlag durch Beas Körper.

Nur für den Bruchteil einer Sekunde huschte eine Emotion über sein Gesicht, zu schnell, um sie deuten zu können, aber lange genug, um Bea an diesen verdammten Hocker zu fesseln.

Ohne sie aus den Augen zu lassen, nahm Charlie das rechteckige Stück Papier, das Emma in der Hand hielt, an sich, und kam quälend langsam auf Bea zu. Seine Miene war unergründlich, seine silbergrauen Augen wie zwei dicke Betonmauern, die jegliche Gedanken und Gefühle hinter sich verbargen. Bea konnte nicht einmal raten, was er dabei empfand, sie wiederzusehen – oder ob er sie überhaupt erkannte.

Als er bei ihr ankam, lehnte er sich mit einem Arm auf die Theke, schob den Scheck zu ihr herüber und musterte sie einen Moment lang abwägend. Es wirkte, als suchte er etwas in ihrem Gesicht.

»Wie geht’s?«, fragte er mit einer angenehm ruhigen, rauchigen Stimme, die Bea geradezu auf ihrer Haut spüren konnte.

Sie hoffte nur, dass sie nicht so verstört aussah, wie sie sich fühlte. Zur Sicherheit straffte sie die Schultern und blickte ihn kühl an, wodurch sich das Schmunzeln, das eben noch auf seinen Lippen entstehen wollte, sofort verflüchtigte.

»Bestens.« Sie wunderte sich selbst über ihren schnippischen Tonfall. Und warum war ihre Stimme so unnatürlich hoch? »Danke.«

Sie faltete den Scheck und steckte ihn hastig in die Innentasche ihres Blazers, damit ihm nicht auffiel, dass ihre Finger zitterten. Was war denn nur los mit ihr?

Charlies Blick wanderte von ihrem Gesicht über ihren gesamten Körper und hinterließ ein samtweiches Pulsieren unter ihrer Haut. Er ließ Beas Herz schneller schlagen. Vielleicht war es aber nicht sein Blick, sondern die Fragen, die ihr überraschend stark auf der Seele brannten, sodass es schmerzte. Sie wollte ihn am liebsten anbrüllen: Erkennst du mich nicht? Hast du mich denn wirklich vergessen?

Sie ballte ihre zitternden Finger zu Fäusten und biss sich auf die Lippen. Konnte es sein, dass er sie gerade einfach nur plump abcheckte? Wie einen Baraufriss? Und das vor seiner Freundin? Bea war überrascht, wie wütend sie urplötzlich auf ihn war. Auf diesen Mann, den sie im Grunde gar nicht mehr kannte.

Sie riss sich von seinem Anblick los und schaute stattdessen auf die Patches auf seiner Brust. Satan’s Advocates und Wolfville stand auf der linken, V. President auf der rechten Seite. Sie stieß ein leises Schnauben aus.

»Willst du was trinken?«, fragte er nach einer gefühlten Ewigkeit. »Geht aufs Haus.«

Willst du mich verarschen?, hätte sie am liebsten gebrüllt, riss sich jedoch zusammen. Sie war sich nicht sicher, wieso sie derart sauer war. Weil er sie ganz offensichtlich nicht wiedererkannte? Weil er sich aufspielte wie Casanova in einer Lederkutte? Weil er so tat, als gehörte ihm dieser Laden? Oder weil er die sexy Kellnerin geküsst hatte? Wahrscheinlich war es von allem ein bisschen.

Am meisten aber ärgerte sie sich über sich selbst. Es war kaum eine Stunde her, dass sie beschlossen hatte, sich von dem Outlaw fernzuhalten und sich nicht von längst vergessenen Gefühlen verwirren zu lassen. Und nun saß sie hier, wusste nicht, ob sie ihn lieber ohrfeigen oder den Jungen von damals in die Arme nehmen wollte.

Das war aber nicht mehr der Junge von damals, erinnerte sie sich. Er war ein erwachsener Mann, der dachte, er sei so unwiderstehlich, dass die Frauen bei einem Wort oder einem Lächeln von ihm in Ohnmacht fielen. Aber dieser Bad Boy-Charme zog bei ihr nicht. Von diesem Typ Mann ließen sich doch nur langweilige Kirchenchor-Mäuschen einwickeln, die sich einmal im Leben wie eine entführte Prinzessin fühlen wollten. Bea wusste es besser.

»Nein, danke.« Sie setzte ein überhebliches Lächeln auf, das er garantiert als das verstand, was es ausdrücken sollte: Er, seine kleine Kellnerin und sein mieses Gedächtnis waren ihr scheißegal. »Ich bin in der Lage, selbst für meine Drinks zu bezahlen.«

Charlie nickte, hob einen Mundwinkel und lachte leise auf. »Na, dann … Willkommen zurück, Bea.« Er zwinkerte ihr zu, ehe er sich einfach umdrehte und davonmarschierte.

Okay, damit hatte sie nicht gerechnet. Bea benötigte alle Willenskraft, um ihren Kiefer am Herunterklappen zu hindern. Gewaltsam riss sie den Blick von Charlies Hinterkopf los und starrte stattdessen auf den Dämon im Aschenbecher vor ihr.

Er hatte sie erkannt. Bea spürte, wie ihr die Röte in die Wangen schoss, als sie das kurze Gespräch in Gedanken wiederholte. Sie war ziemlich unfair gewesen. Aber wahrscheinlich war es besser so.

Seit acht Jahren versuchte sie nun schon, ein anständiges Leben zu führen, es zu etwas zu bringen und sich von Ärger fernzuhalten. Sie wollte niemals enden wie ihre Mutter oder die blonde Kellnerin. Und wenn sie Charlie ansah, dann spulte sich genau die Zukunft in ihrem Kopf ab, vor der sie damals davongelaufen war: Schmerz, Gewalt, Alkohol, Knast … Der Werdegang eines Outlaws – und der Grund, weshalb es besser war, sich gar nicht erst auf ein Gespräch mit ihm einzulassen.

Seufzend griff Bea nach dem Aschenbecher und drehte ihn in den Händen. Warum hatte Charlie nicht Banker werden können, wie sein Adoptivvater es für ihn geplant hatte? Warum musste er stattdessen auf diese Weise leben?

Er hatte Bea immer schwach gemacht und ihre schlechteste Seite zum Vorschein gebracht. Wenn sie nur daran dachte, was sie mit Rektor Browns Auto angestellt hatte, nachdem dieser seinem Adoptivsohn mal wieder ein blaues Auge verpasst hatte. Umgerechnet auf die heutigen Verhältnisse wollte sie gar nicht wissen, zu was sie fähig wäre. Daher ignorierte sie die Freude, die sie insgeheim empfand, weil er sie wiedererkannt hatte, geflissentlich. Genauso wie den Drang, ihren alten Freund zu begrüßen.

»Na, willst du jetzt doch was trinken?« Emma stand mit einem Mal gegenüber von ihr hinter der Theke und blickte sie fragend an.

Bea zog die Brauen zusammen. Wieso saß sie immer noch hier wie festgetackert? Wieso war sie nicht längst aufgestanden und gegangen? Und wieso war ihr nicht vorher aufgefallen, dass diese Emma etwas Arrogantes und abgrundtief Böses im Blick hatte? Sie wollte aufstehen, aber ihre Beine gehorchten ihr nicht.

Die Tür ging auf, und eine größere Gruppe von Leuten betrat die Bar. Es waren hauptsächlich Männer, die laut redeten, lachten und sich irgendwo hinter Bea niederließen. Obwohl sich der Schuppen allmählich füllte, spürte sie genau, wo Charlie war. Er saß an dem Tisch links hinter ihr.

»Bea?«, riss Emma ihre Aufmerksamkeit an sich.

»Wodka«, antwortete sie, bevor sie wusste, was sie da sagte. »Einen doppelten.«

»Pur?«

»Mit Eis.«

Seufzend drehte sich die Blondine um, nahm ein Glas zur Hand und füllte es. »Wieso wundert mich das nicht?«, murmelte sie.

Bea massierte sich die Stirn. »Wie bitte?«

»Cheers.« Emma stellte das Glas mit einem merkwürdig bedauernden Lächeln vor ihrem Gast ab. Dann griff sie nach einem Block und marschierte zu einem der Tische.

Bea drehte das Glas mit dem grinsenden Dämon auf der Vorderseite in den Händen und starrte auf die durchsichtige Flüssigkeit. Sie trank nicht oft. Ab und zu ein Glas Wein oder ein wenig Champagner zu besonderen Anlässen, aber niemals härtere Drinks. Das hatte sie sich in der wahren Welt, der Welt außerhalb von Wolfville, schnell abgewöhnt, denn sie wusste, wie der Alkohol sie veränderte.

Aber jetzt, zurück an diesem Ort, bei ihrer Mutter, bei Charlie, da sagte eine leise Stimme in ihr, dass sie diesen Drink dringend brauchte. Dass sie damit den Schmerz und die Gefühle betäuben konnte. Wie damals …

Bea schüttelte den Kopf, schob das Glas von sich und stand auf. Sie durfte nicht zulassen, dass ihre Vergangenheit sie einholte und sie erneut zu der Person machte, die sie nicht mehr sein wollte. Sie kramte in ihrer Hosentasche nach ein paar Dollar, als sich jemand auf den Hocker neben ihr setzte.

»Beatrice Kramer! Du bist es wirklich«, sagte der Kerl. »Das ist ja der Hammer!«

Bea drehte sich um und musterte ihn mit zusammengezogenen Brauen. Er kam ihr bekannt vor, irgendwie, aber sie hatte nicht den blassesten Schimmer, wer der Typ war.

»Joshua«, sagte er und legte eine Hand auf seine Brust. »Joshua Dixon. Erinnerst du dich? Wir hatten Mathe zusammen.«

»Ach, natürlich.« Sie erinnerte sich nicht. Mathematik war eines der wenigen Fächer, in denen Bea richtig gut gewesen war, das einzige Fach, das ihr logisch vorkam, weshalb sie sich dort tatsächlich auf den Unterricht konzentriert hatte. »Schön, dich wiedergesehen zu haben.«

Sie machte einen Schritt zur Seite, aber Joshua hielt sie auf, indem er ihr freundschaftlich den Arm drückte. »Und wie! Dass ich dich noch einmal treffen würde, hätte ich nie gedacht. Mensch, schau dich nur an. Wow!« Er strahlte sie derart freudig an, dass sie automatisch mitlächelte. »Muss ja richtig gut für dich gelaufen sein. Sag mal, willst du etwa schon gehen? Das solltest du nicht.«

»Ach, und wieso nicht?«

Bea musterte ihn neugierig. Er war ein absoluter Durchschnittsmensch, mittelmäßig attraktiv, normal gebaut und eher unauffällig gekleidet. Er war so unscheinbar, dass sich Bea nicht weiter wunderte, wieso sie ihn nicht wiedererkannte. Allerdings schaute er sie mit einer solchen Begeisterung, schon beinahe ehrfürchtig an, dass sie sich nicht einfach von ihm abwenden konnte. Sein Gesichtsausdruck sagte ganz klar: Du hast es geschafft. Du bist ein besserer Mensch geworden und gehörst hier nicht mehr her. Und genau das war es, was sie gerade brauchte.

Hinter ihr erklang ein hohes Kichern, und obwohl sie es besser wissen sollte, warf Bea einen kurzen Blick über die Schulter. Dabei erkannte sie eine hübsche Schwarzhaarige, die das filigrane Tattoo über ihrem Hintern deutlich zur Schau stellte und eine Hand auf Charlies Brust gelegt hatte. Sie flüsterte ihm irgendetwas ins Ohr, und Bea biss die Zähne zusammen, als sich ein Schmunzeln auf seinen Lippen ausbreitete.

»Zum einen hast du deinen Grey Goose noch nicht angerührt«, antwortete Joshua gut gelaunt. »Das wäre eine absolute Verschwendung. Und zum anderen würde ich mir auf ewig Vorwürfe machen, wenn ich nicht wenigstens versucht hätte, eine so bezaubernde Frau wie dich aufzuhalten. Ernsthaft, Bea, ich würde gerne erfahren, wie es dir ergangen ist, bevor du in dein glamouröses Leben zurückkehrst und uns Hinterwäldler wieder vergisst.«

Bea lachte unwillkürlich auf. Im Vergleich zu dem kriminellen Rocker am Tisch hinter ihr war Joshua zwar recht farblos, aber er sagte eindeutig die richtigeren Dinge. Außerdem war er charmanter. Wobei man ein schnödes ›wie geht’s?‹ nicht wirklich zum Vergleich stellen konnte.

Bea unterdrückte die Wut, die erneut in ihr hochkriechen wollte, und setzte sich zurück auf ihren Hocker. Sie hatte das Gefühl, ein Gespräch mit jemandem wie Joshua täte ihr gut und erinnerte sie daran, wer sie wirklich war. Wer sie jetzt war. Warum sie dem Kerl sanft eine Hand auf den Arm legte und ihm zuraunte, dass sie dann natürlich bleiben würde, konnte sie sich allerdings auch nicht erklären. Wollte sie Charlie etwas beweisen? Oder sich selbst? Und was genau?

Joshua hob das Bierglas, das er an die Theke mitgebracht hatte, und wartete, bis Bea mit ihm anstieß. Als sie einen kräftigen Schluck von dem Wodka nahm, spürte sie sofort, wie ihr der Alkohol ins Blut stieg und ihre Glieder wärmte.

»Wie kommt es, dass du hiergeblieben bist?«, fragte sie. »Wolltest du nie fort aus diesem beschissenen Kaff?«

»Natürlich. Aber leider sind nicht alle von uns für ein besseres Leben bestimmt.«

Es stellte sich heraus, dass Joshua überaus gerne redete. Über sich selbst, wenn möglich. Was erstaunlich war, wenn man bedachte, dass er sich kurz zuvor noch sehr an Bea und ihrem Leben interessiert gezeigt hatte.

Bea erfuhr in der nächsten Stunde nicht nur, dass er hauptberuflich Glückspielautomaten reparierte, sondern auch, dass er ein langweiliger, nervöser Kleinstadtcasanova war. So erging es eben den Leuten, die hierblieben. Trotzdem versuchte sie, das Gespräch am Laufen und ihr Lächeln aufrecht zu erhalten, denn die gesamte Zeit über spürte sie Charlies Blick auf sich, heiß und prickelnd, als drückte ihr jemand ein Heizkissen in den Nacken. Oder bildete sie sich das ein? Immerhin hatte er in dieser Bar genügend Frauen, an jedem Finger eine würde sie mal vermuten, wieso sollte er sich also dafür interessieren, mit wem sich Bea unterhielt?

Der Gedanke versetzte ihr einen überraschend heftigen Stich, weshalb sie sich ein zweites Glas Wodka bestellte. Es half. Der Alkohol schien alles in ihr weicher zu machen, als würden ihre Gedanken mit Watte umwickelt. Allerdings war ihr etwas schwummrig. Das allerdings konnte an Joshua liegen, der sie allmählich schwindlig redete.

Irgendwann, sie hatte die Zeit vergessen, schaute sie sich in der Bar um, die inzwischen gut gefüllt war, hauptsächlich mit Kuttenträgern. Einer davon, ein hübscher, großer Kerl mit schwarzem Haar, Kinnbart und einem schelmischen Lächeln auf den Lippen, schlenderte wie selbstverständlich hinter die Theke, wo er Emma herzlich in seine Arme zog.

»Dein Retter ist hier«, sagte er mit irischem Akzent und lachte. »Gib mir eine Schürze und ein Geschirrtuch, und ich spiele den Barkeeper für dich.«

»Du sollst nicht spielen, Pat, du sollst mir helfen.« Emma knuffte ihn liebevoll gegen die Schulter, dann deutete sie auf die Theke, an der kein einziger Hocker mehr frei war. »Du hier – ich die Tische.«

Grinsend schaute er der Blondine nach. »Aye, Ma’am.«

Das war dann wohl die Aushilfe für Rosemary. Bea konnte nicht umhin, den Iren anzustarren. Er wirkte auf sie einfach nicht wie ein böser Rocker. Allerdings fragte sie sich gleichzeitig, wie er denn aussehen müsste, um dem Klischee zu entsprechen.

»Na, Süße, willst du noch einen?« Pat deutete auf ihr Glas, bevor er mit den Brauen wackelte. »Oder hast du etwas anderes gesehen, das dir gefällt?«

Bea warf einen Blick auf ihr Glas, dann auf Joshua. Mit einem Mal fühlte sie sich, als verbrannte sie innerlich.

»Nein, ich …« Sie schüttelte den Kopf. »Ich muss kurz an die Luft.«

»Ich begleite dich.« Joshua sprang auf, streckte ihr den Arm hin, damit sie sich einhaken konnte, und führte sie daraufhin zum Ausgang. Erst jetzt merkte Bea, wie wacklig ihre Knie waren.

Tief durchatmend lehnte sie sich neben dem Eingang an den Schuppen und schloss für einen Moment die Augen. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, den harten Stoff derart runterzukippen? Sie spürte, wie der Taumel in ihrem Kopf langsam nachließ; dafür trat ihr der Schweiß aus allen Poren. Obwohl es seit dem Sonnenuntergang um einiges abgekühlt hatte, war ihr heiß, als stünde sie direkt in der Mittagssonne.

»Was für eine Hitze«, murmelte sie, bevor sie Joshua, der sie besorgt beäugte, anlächelte. »Nett von dir, dass du mich begleitet hast.«

»Ehrensache«, meinte er, lehnte sich neben ihr an die Wand und musterte sie neugierig. »Verzeih mir die Frage, aber … wie bist du wieder hier gelandet, Bea?«

Sie zuckte betont unbekümmert mit den Schultern. »Eine Mischung aus Pech, schlechten Entscheidungen und unklugen Handlungen, würde ich sagen. Aber Wolfville ist nur eine Zwischenstation, eine unbedeutende Umleitung wegen einer kleinen Baustelle auf meinem Lebensweg.« Das war vielleicht eine sehr verharmloste Version von ihren Schulden und den aktuellsten Schwierigkeiten mit dem Gesetz, aber eines stand fest: »Ich werde mir mein Ticket nach draußen schnell verdienen.«

»Davon bin ich überzeugt«, sagte er und brachte sie einmal mehr zum Lächeln. »Du warst immer eine starke Frau, die weiß, was sie will. Und sich das einfach nimmt.« Er stieß sich von der Wand ab, stellte sich vor sie und stützte die Hände zu beiden Seiten ihres Gesichts ab. »Das habe ich stets an dir bewundert.«

Ohne Vorwarnung lehnte er sich vor und drückte seinen Mund auf ihren. Bea konnte vor Überraschung überhaupt nicht reagieren.

»Ich war damals schon scharf auf dich«, murmelte er an ihren Lippen. »Aber früher war kein Rankommen an dich. Jetzt sollten wir allerdings das Beste aus deiner Rückkehr machen, findest du nicht?«

Blitzschnell zog er Bea an der Taille zu sich und stieß seine Zunge grob zwischen ihre Lippen. Sie fühlte sich an wie ein lauwarmer Schwamm, der unkoordiniert durch ihren Mund wischte. Bea zog den Kopf zurück, drückte die Hände gegen seine Brust und versuchte, ihn von sich zu schieben. Aber er war stärker, als er aussah.

»Lass mich gefälligst los.«

»Ist das ein Spiel?«, raunte er und verstärkte seinen Griff um ihre Taille. »Magst du es lieber ein bisschen härter?«

»Bist du irre? Nimm deine Hände von mir!« Bea holte mit dem Knie aus, war jedoch derart zwischen Joshua und der Wand eingeklemmt, dass sie nicht richtig traf und lediglich seinen Oberschenkel streifte.

Diese halbherzige Aktion veränderte seine Miene schlagartig. Er schien mit einem Mal richtig wütend zu sein. »Den ganzen Abend machst du mich heiß, und jetzt willst du dich zieren? Nicht mit mir, Miststück.«

Sie hatte ihn heiß gemacht? Bea konnte ihn nur schockiert anblinzeln. Allerdings musste sie zugeben, dass sie ihn vielleicht wirklich zu breit angelächelt, zu oft seinen Arm oder sein Knie mit den Fingern gestreift hatte. Verdammter Charlie!

Wenn sie ehrlich war, hatte sie diesen Idioten nur so nah an sich herangelassen, weil sie Charlie eifersüchtig machen wollte. Weil Charlie es geschafft hatte, sie eifersüchtig zu machen. Das war nicht nur lächerlich und pubertär, es hatte ihn noch nicht einmal interessiert! Und jetzt zahlte sie die Rechnung für ihr bescheuertes Verhalten.

»Hör sofort auf damit«, knurrte sie und krallte ihre Nägel in Joshuas Arme.

Er grinste bloß und presste seinen Körper mit einem leisen Stöhnen enger an sie. Bea konnte die harte Beule in seiner Hose an ihrer Hüfte spüren. Dass ihn ihre Gegenwehr erregte, verursachte ihr eine gewaltige Übelkeit, und seine Lippen, die wie ein Fischmaul an ihrem Hals klebten, ließen sie würgen. So fest wie möglich drückte sie gegen den schweren Körper.

»Lass mich endlich los!«, schrie sie und wollte noch einmal das Knie einsetzen, da war das Gegengewicht plötzlich fort.

Es war Charlie. Er hatte Joshua von ihr weggezogen und stand nun in seiner vollen, einschüchternden Größe vor ihr, hielt den Perversling am Shirtkragen fest und schlug ihm ins Gesicht. Einmal, zweimal, dreimal – jeder Schlag verursachte ein entsetzlich dumpfes Knirschen, das Bea schmerzlich zusammenzucken ließ.

Hastig griff sie nach Charlies Arm. Sie brauchte beide Hände, um die angespannten Muskeln zu umfassen und ihre gesamte Kraft, um ihn zurückzuhalten.

»Hör auf! Du bringst ihn noch um!«, brüllte sie und erschrak beim Blick in Joshuas blutüberströmtes Gesicht. Die linke Hälfte war bereits auf das Doppelte ihrer Größe angeschwollen, und aus seiner Nase quoll unaufhaltsam das Blut.

Augenblicklich ließ Charlie ihn los und trat einen Schritt zurück. Sicherheitshalber hielt Bea ihn weiterhin fest, denn die Muskeln unter dem schwarzen Zip Hoodie waren nach wie vor gefährlich gespannt.

Nachdem er nicht mehr hochgehalten wurde, fiel Joshua wie ein nasser Sack zu Boden. Er wirkte wie benebelt. Abwehrend hob er eine Hand und krabbelte rückwärts von Charlie weg.

»Ich will keinen Ärger, Mann«, beteuerte er und seine Miene zeugte von regelrechter Todesangst. »Hey, ich wusste nicht, dass ihr … Tut mir echt leid!«

»Verpiss dich«, sagte Charlie mit einer Stimme, die viel zu ruhig für das klang, was eben hier los gewesen war. »Du setzt nie wieder einen Fuß in meine Bar, verstanden?«

Bea warf ihm einen Seitenblick zu. Der Courtroom war seine Bar? Er spielte sich also nicht nur so auf, als ob sie ihm gehörte, sie gehörte ihm tatsächlich.

»Okay, geht klar, kein Problem.« Joshua hievte sich hoch, wirbelte herum und rannte davon, als wäre der Teufel höchstpersönlich hinter ihm her.

Mit einem Schwall entwich die Luft aus Beas Lungen. Sie schaute Joshua nach, bis er hinter der Tankstelle gegenüber verschwunden war, dann wollte sie sich Charlie zuwenden, aber ihr Blick blieb an seiner geballten Faust hängen. Er hatte außergewöhnlich große Hände, die allerdings überhaupt nicht klobig wirkten. Dazu waren seine Finger zu grazil, beinahe elegant. Weniger elegant wirkte das Blut, das auf seinem Handrücken und den beiden dicken Silberringen klebte. Was Bea am meisten an diesem Anblick faszinierte, war seine Haltung. Charlie schien bereit, jederzeit erneut zuzuschlagen, dennoch zuckte oder bebte er kein bisschen, weder vor Wut noch Anspannung. Diesen Mann schien nichts aus der Ruhe zu bringen.

Im Gegensatz zu Bea. Sie schaffte es nur langsam, ihre steifen Finger von Charlies Oberarm zu lösen. Ein Teil von ihr war furchtbar erschrocken, ein anderer, viel zu großer Teil, war ihm dankbar, und wieder ein anderer Teil war rasend zornig. Das wievielte Mal war sie heute wütend auf ihn? Das vierte? Sie konnte sich nicht erinnern, dass irgendein Kerl sie in den letzten Jahren derart in Rage gebracht hätte. Oder überhaupt seit … Charlie. Und dabei wusste sie nicht einmal, woher diese übermächtige Wut kam.

»Hast du den Verstand verloren?«, brüllte sie in die Stille.

Er drehte sich zu ihr um und sah aus, als frage er sich das selbst.

»Was sollte das, Charlie?«

Er kniff die Brauen zusammen. Dann legte er den Kopf schief, und einer seiner Mundwinkel hob sich zu einem halben Lächeln.

Bea boxte ihm frustriert gegen den Oberarm. »Was ist daran lustig?«

»So hat mich lange keiner mehr genannt«, meinte er.

»Oh, entschuldige, bitte. Du heißt ja jetzt Blaze

»Nein, Charlie ist schon in Ordnung.« Das Lächeln erreichte nun auch seinen anderen Mundwinkel. »Das gefällt mir.«

Bea wandte schnell den Blick ab, damit sie nicht noch auf die Idee kam, mitzulächeln. Verwirrt schüttelte sie den Kopf. »Wie auch immer. Es war jedenfalls nicht nötig, Rambo zu spielen. Ich hatte alles unter Kontrolle.«

Schmunzelnd hob er die Brauen. »Ja, hab ich gesehen.«

»Komm mal wieder runter von deinem hohen Ross«, raunte sie und zielte mit dem Finger auf ihn. »Das passt nicht zu dir. Genauso wenig wie die Rolle des edlen Retters. Wer bist du? Der dunkle Ritter?«

»Woher willst du wissen, was zu mir passt?« Er sprach noch immer in dieser ruhigen Tonlage, doch da der amüsierte Ausdruck schlagartig aus seinem Gesicht gewichen war, klang er umso bedrohlicher. »Du hast mich vor acht Jahren aus deinem Gedächtnis gelöscht.« Er zuckte mit den Schultern. Offenbar wollte er ihn verstecken, aber Bea konnte den Schmerz deutlich in seinen silbergrauen Augen sehen. »Oder sind etwa all deine Karten und Briefe in der Post verloren gegangen?«

Bea hatte nie mehr an ihren letzten Abend in Wolfville denken wollen, aber jetzt traf sie die Erinnerung wie ein Schlag in den Magen.

Einige ihrer Schulkameraden hatten ein High School-Abschlussfest für diesen Tag organisiert. Dass sie nicht eingeladen war, hatte Bea nicht davon abhalten können, dort aufzukreuzen, sich zu betrinken und diesen arroganten Musterschülern und aufgeblasenen Cheerleeder-Tussen zu sagen, was sie von ihnen hielt. Nachdem sie die Typen ausreichend beschimpft und beleidigt hatte, war sie zu Charlie gefahren. Sie hatte die erste und letzte Nacht mit ihrem besten Freund verbracht – und war dann im Morgengrauen davongeschlichen, um mit Jared, dem Footballstar, nach LA abzuhauen. Es stimmte. Danach hatte sie sich nie mehr gemeldet.

Ihr Abgang war nicht die feine Art gewesen und sie würde sich garantiert bis in alle Ewigkeit für ihr Verhalten schämen. Aber sie war nicht der alleinige Bösewicht in dieser Geschichte. Charlie hatte ebenfalls Fehler gemacht.

Bea erinnerte sich, wie sie in dieser Nacht in seinen Armen gelegen hatte. Er musste gedacht haben, sie schlafe, aber sie hatte seine geflüsterten Worte klar und deutlich verstanden: Du wirst mir fehlen. Er hatte gewusst, dass sie fortgehen würde – und sie nicht aufgehalten.

Und just in diesem Moment erkannte sie es. Das war er. Das war der eigentliche Grund, weshalb sie derart wütend auf ihn war. Sie schob die irrationalen Gefühle beiseite und konzentrierte sich wieder aufs Hier und Jetzt. Sie straffte die Schultern und musterte ihn von seiner Kutte bis zu den Stiefeln.

»Ich muss dich nicht kennen, um zu sehen, was du bist«, meinte sie. »Oder meinst du, ich kann einen ungehobelten Outlaw nicht erkennen, wenn ich einem begegne?«

Er verschränkte die Arme vor der Brust und schaute amüsiert auf sie herab. »Gerade du müsstest vorsichtig damit sein, die Leute vorschnell in Schubladen zu stopfen.«

»Gerade ich? Was soll das heißen?«

»Na, meinst du, diese New Yorker Schickimicki-Hochglanz-Fassade kann darüber hinwegtäuschen, dass du im Grunde ein unkultiviertes Landei bist?« Als sie empört nach Luft schnappte, formte sich ein Schmunzeln auf seinen Lippen. »Deine Großstadtfreunde haben sich wahrscheinlich ausgemalt, du seist in der Einöde aufgewachsen, unter Kühen und mit Sporen an den Stiefeln. Aber die Typen sind zu fein, um es laut zu sagen und tuscheln nur hinter deinem Rücken, Cowgirl.«

Bea schnaubte. »Das ist vollkommen lächerlich.«

Charlie verzog die Lippen und blickte nachdenklich in den Himmel, bevor er den Kopf schüttelte. »Nein. Das geschwollene Gequatsche täuscht niemanden.«

»Du kannst mich mal, Hanson!«, entfuhr es ihr, was Charlies Grinsen noch breiter machte.

»Oha, da kommt doch nicht etwa die alte Provinzlerin durch, Kramer?«

Wollte dieser Kerl sie etwa noch wütender machen, als sie es ohnehin schon war? Sie funkelte ihn feindselig an.

Charlie sagte das Falsche – und gleichzeitig das Richtige. So sehr sich Bea nach anderen Worten sehnte, sie war heilfroh, dass sie sich stattdessen stritten. Denn sie wusste schlichtweg nicht, was sie tun würde, wenn er ihr sagen würde, dass sie ihm gefehlt hatte. Sie schwankte jetzt schon zwischen dem Drang, sich in seine Arme zu werfen und ihm eine reinzuhauen. Es war mehr als verwirrend, so nah vor ihm zu stehen und gleichzeitig so weit von ihm entfernt zu sein.

»Denk doch, was du willst«, brummte Bea, wandte sich ab und marschierte auf den Pick-up zu.

»Was soll das werden?« Charlies schwere Schritte knirschten hinter ihr im Kies.

»Nach was sieht es denn aus? Ich fahre nach Hause.«

In der nächsten Sekunde hatte er sie eingeholt und nahm ihr die Schlüssel aus der Hand, die sie eben aus der Tasche gezogen hatte. »Du fährst nirgendwohin. Du hast getrunken.«

Schnaubend wirbelte sie zu ihm herum. »Willst du mich verarschen?«

»Entweder du fährst mit mir oder du gehst zu Fuß.« Er zuckte mit den Schultern. »Deine Entscheidung.«

Damit marschierte er zu einem der Motorräder, setzte sich auf den Sitz und zog eine Zigarettenschachtel aus der Brusttasche seiner Kutte. Ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen, zündete er sich eine Kippe an und beobachtete die Straße.

Bea lehnte sich an die Fahrertür des Pick-ups, verschränkte die Arme vor der Brust und schüttelte den Kopf.

Charlies leibliche Eltern waren umgekommen, als ein besoffener Lkw-Fahrer ungebremst in ihren Wagen gerast war. Verständlich, dass er bei diesem Thema sensibel war. Aber das ging zu weit. Bea spürte rein gar nichts mehr von den zwei Gläsern Wodka, als wäre der Alkohol in ihrem heißen Zorn einfach verdampft.

»Das glaub ich jetzt echt nicht«, murmelte sie.

Es fühlte sich unwirklich an, hier zu stehen, nur wenige Meter von Charlie entfernt, und zu fühlen, was längst tot und begraben worden war. Es musste ein Nachhall ihrer damaligen Gefühle sein – ausgelöst durch all die Erinnerungen, die sie verdrängt und die dieser Mann schlagartig in ihr wachgerufen hatte. Sie hatten nie einen Schlussstrich gezogen, sich nie verabschiedet, sich nie ausgesprochen; da war es nur logisch, dass ihr Aufeinandertreffen heftig verlief.

Bea hatte zwar darauf vertraut, ihn nie wiederzusehen, aber jetzt, da es so gekommen war, musste sie vernünftig sein und diesen Abschluss nachholen.

Unauffällig schielte sie zu ihrer Jugendliebe hinüber. Er zog an seiner Zigarette und blies langsam den Rauch in die Luft. Groß und gefährlich sah er aus mit seiner Lederkutte und den Gangabzeichen, doch die Gesichtszüge und die Augen waren dieselben wie die des Jungen, dem sie einmal blind vertraut hatte. Der immer auf sie aufgepasst hatte. Der sie vor miesen Perverslingen beschützte …

Bea schüttelte den Kopf. Es war genug für heute. Definitiv. Sie war nicht nur völlig verwirrt, sondern auch hundemüde. Jetzt wollte sie nur noch ins Bett und in einen schönen, schwarzen Schlaf fallen, in dem sie nichts mehr fühlen und nicht mehr nachdenken musste. Und morgen früh, wenn ihr Kopf frei und ihre Gefühle geklärt waren, würde sie diesen Abend abhaken und sich wieder auf ihren Plan konzentrieren. Für heute jedoch kapitulierte sie.

Tief durchatmend stieß sie sich vom Wagen ab, dann ging sie zu Charlie hinüber. Er blickte auf, und sein rechter Mundwinkel hob sich wie von selbst zu einem halben Lächeln.

»Abgeregt?«, fragte er.

»Und selbst?«

Sie nahm den Helm, den er ihr reichte, setzte ihn auf und schwang sich, nachdem er den Ständer hochgeklappt hatte, hinter ihm auf den Sitz. Als hätte sie das schon ein dutzend Mal getan.

»Was ist mit meinem Wagen?«, hakte sie nach, während er den Motor der Harley startete.

»Steht morgen früh vor deiner Tür«, erwiderte er, griff nach ihren Händen und zog sie vor seinen Bauch. Ihr blieb gar nichts anderes übrig blieb, sie musste ihren Oberkörper an seinen Rücken pressen, um sich festhalten zu können. »Ich schicke einen der Prospects

»Einen der was? Hast du Diener, oder wie?«

Er schmunzelte. »So ähnlich.«

Langsam fuhr er vom Kiesplatz auf die Straße, wo er Gas gab.

Bea schaute über seine Schulter und konzentrierte sich auf die Fahrbahn. Es war zu merkwürdig, ihm nach all der Zeit derart nahe zu sein, das Spiel seiner Rückenmuskulatur zu spüren und die Hände an seinen flachen Bauch zu legen.

Bea konnte verstehen, wieso die Leute Respekt vor ihm hatten. Selbst durch den Hoodie spürte sie, wie muskulös er war. Dazu seine Größe von knapp einem Meter neunzig, die kurzgeschorenen Haare und der betonharte Blick aus silbergrauen Augen. Bereits ohne Bike und Gangabzeichen würde er gefährlich wirken. Und gefährlich war er, so viel war sicher. Immerhin hatte Bea vorhin selbst erlebt, dass er nicht lange fackelte und problemlos einen Mann umhauen konnte. Sie hatte seine Kraft gespürt, als sie seinen Arm umklammerte und sie wusste, er hatte freiwillig aufgehört, weil sie ihn darum gebeten hatte. Denn wenn er ernsthaft ausholte, dann konnte ihn garantiert keiner zurückhalten.

Er hätte Joshua vorhin zu Brei geschlagen. Weil er sie angefasst hatte. Es war in mehr als einer Hinsicht falsch, dass sie beim Gedanken daran eine Wärme in der Brust fühlte, wie lange nicht mehr.

Bevor sie es sich versah, schloss sie die Augen und atmete seinen herben Duft ein. Unter seiner körpereignen Note lag ein Hauch von Leder und Benzin. Leicht entflammbar, schoss ihr durch den Kopf. Und es schien ihr passend.

Bea erlaubte sich, es zu genießen, bei ihm zu sein, mit ihm durch die Nacht zu fahren, ihn in den Armen zu halten. Nur für diesen Augenblick. Nur aus Sentimentalität. Sobald sie von diesem Motorrad stieg, würde sie ihn loslassen. Für immer.

Viel zu schnell bog er in die Einfahrt ein und hielt an. Bea löste langsam ihre Hände von seinem Körper, dann stieg sie ab und reichte ihm den Helm. Statt ihn selbst aufzusetzen, hängte er ihn an den Lenker und stellte den Motor ab. Dann begleitete er sie zur Haustür.

»Also, es war«, er räusperte sich, während er offenbar nach den richtigen Worten suchte, »merkwürdig, dich wiederzusehen.«

Bea lachte unwillkürlich auf. »Merkwürdig, allerdings. Das trifft es genau.«

Als sie an der Tür ankamen, streckte sie die Handfläche aus, damit er ihr endlich ihre Schlüssel zurückgab. Stattdessen griff er aber nach ihrer Hand, umschloss sie mit seinen warmen Fingern und schaute ihr dabei so tief in die Augen, dass sie ein Schauder überlief.

»Wir sollten uns das nächste Mal absichtlich über den Weg laufen«, meinte er. »Vielleicht können wir uns dann in Ruhe unterhalten.«

Bea musste kurz die Augen schließen und sich sammeln, bevor sie seinen Blick mit der nötigen Bestimmtheit erwidern konnte. »Ich denke nicht, dass das eine gute Idee ist, Charlie. Wir sollten nicht versuchen, an etwas anzuknüpfen, das in ferner Vergangenheit begraben liegt. Wir sind heute andere Menschen.« Ihr Blick glitt zu dem V. President-Patch auf seiner Brust, und sie konnte sich nicht verkneifen, hinzuzufügen: »Offensichtlich.«

»Aha.« Er nickte, ehe er ihre Hand freigab und die Arme vor der Brust verschränkte. »Ich würde gerne erfahren, wer ich bin. Erzähl es mir.«

Bea seufzte. Wieso machte er es ihr nur so schwer? Es musste ihm doch klar sein, dass er sich im Gegensatz zu ihr für ein Leben außerhalb der Gesellschaft entschieden hatte. »Charlie …«

»Merkst du denn nicht, dass du eine beschissene Menschenkenntnis hast?«

»Was?« Sie blinzelte ihn fragend an.

»Na, Dixon. Du erinnerst dich? Der Typ aus der Bar? Mit dem du stundenlang geflirtet hast?«

Bea lachte humorlos auf. »Stundenlang? Übertreib nicht. Er war eben charmant.« Ein bisschen kleinlaut fügte sie hinzu: »Er schien anständig zu sein.«

»Die Dinge sind oft nicht so, wie sie scheinen.« Charlie kam einen Schritt näher, wodurch sie weit zu ihm aufsehen musste. »Was hast du damit überhaupt bezweckt? Was wolltest du von diesem Clown?«

»Wieso interessiert dich das?«

Er stützte sich mit einer Hand an der Hauswand neben ihr ab und stand plötzlich so dicht bei ihr, dass sie nur noch sein Gesicht sah. Der Rest der Welt lag verschwommen im Hintergrund.

Bea widerstand dem Drang zurückzuweichen. Es machte ohnehin keinen Sinn; sie stand bereits mit dem Rücken am Fliegengitter.

»Wenn du mal wieder ordentlich geküsst werden wolltest, hättest du nur etwas sagen müssen.«

Obwohl ihr Herzschlag sich rapide beschleunigte, setzte sie ein sarkastisches Lächeln auf und schaute ihm kühl in die Augen. »Sorry, aber dieses Bad Boy-Gehabe zieht bei mir nicht. Ich würde mich niemals auf einen Outlaw einlassen.«

»Ist das so?«, raunte er mit heiserer Stimme, die Bea die feinen Härchen an den Armen aufstellte. In seinen Augen blitzte heißes Verlangen auf.

»Ja«, hauchte sie, musste jedoch selbst zugeben, dass diese Antwort nicht sehr überzeugend klang.

Beinahe gleichzeitig überwanden sie den Abstand zueinander. Charlie vergrub eine Hand in ihrem Haar, und Bea fuhr mit den Fingern unter seine Kutte, krallte sich an seinem Pullover fest und zog ihn an sich. Ihre Lippen fanden sich und verschmolzen zu einem Kuss, der in ihrem gesamten Körper nachhallte.

Bea spürte Charlies Hand an ihrem Rücken. Die langen, kräftigen Finger, die alles im Griff hatten. Er wanderte damit ihren Rücken entlang und hinterließ ein prickelndes Pulsieren überall dort, wo er sie berührte.

Als ihr ein leises Stöhnen entwischte, drängte er sich noch enger an sie. Sie öffnete die Lippen, und seine Zunge fand den Weg in ihren Mund. Er küsste sie so begierig, so leidenschaftlich, dass Beas Verstand nach kürzester Zeit taub wurde und sie nur noch aus Gefühlen bestand.

Sie wollte ihn nie mehr loslassen, blendete alles aus: Die Gedanken daran, was es bedeutete und welche Schwierigkeiten sie sich einbrockte. Sie konnte nicht anders. Er hatte Teile von ihr erweckt, die sie für abgestorben gehalten hatte und die jetzt einer Feuersbrunst gleich zum Leben erwachten.

Es schien eine Ewigkeit vergangen zu sein, als er sich von ihr löste. Kalte Luft nahm seinen Platz ein und ließ Bea frösteln. Schwer atmend sah sie zu ihm auf und zwang sich, ihre Finger von ihm zu lösen.

Sein Blick klärte sich nur langsam, doch schließlich hob er wieder den einen Mundwinkel. »Ich wusste, du redest nur Bullshit.«

»Das war der Abschiedskuss, den ich dir geschuldet habe«, meinte sie, konnte ihm dabei allerdings kaum in die Augen sehen. »Damit trennen sich unsere Wege. Ich bin ohnehin bald wieder weg.«

Ein Schatten huschte über sein Gesicht. »Dieses Mal werde ich es dir nicht so leicht machen, vor dir selbst zu fliehen.«

Er machte den Wagenschlüssel vom Schlüsselbund ab, bevor er ihr die restlichen Schlüssel zuwarf. Dann wirbelte er herum, schwang sich auf sein Bike und fuhr davon.

Biker Tales - Gesamtausgabe

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