Читать книгу Biker Tales - Gesamtausgabe - Sandra Binder - Страница 19
Chapter Seven – One Big Family
ОглавлениеBea legte das Kinn auf dem Lenkrad ab und beobachtete das Treiben vor dem Farmhaus auf der anderen Straßenseite. Sie war seit zehn Minuten da, konnte sich aber nicht durchringen, auszusteigen. Sie hoffte noch immer, Charlie würde gleich vorfahren; dabei hatte er am Telefon gesagt, dass er sich noch um etwas kümmerte und nicht wusste, wie lange es dauern würde. Er wollte direkt zur Party fahren und hatte vorgeschlagen, Bea solle vorgehen. Und sie hatte zugestimmt. Sie musste verrückt gewesen sein. Vermutlich hätte er sie in diesem Moment um alles bitten können – sie vermisste ihn so schmerzlich, dass sie allem zustimmen würde, was dazu führte, ihn schneller wiederzusehen.
Es waren drei Tage gewesen, doch es fühlte sich an wie ein halbes Leben. Bea wunderte sich ernsthaft, wie sie es damals geschafft hatte, ihn zu verlassen. An der These, dass Teenager anders liebten als Erwachsene, musste etwas dran sein. Je älter man wurde, desto mehr verschloss man sein Herz, baute Mauern um seine Seele und wägte genau ab, wen man durchließ. Doch hatte es ein Mensch geschafft, sich in das halb verhungerte Herz zu schleichen, entstand eine Liebe, so tief und rein, dass sie beinahe weh tat.
Allerdings erinnerte sich Bea, dass es bereits als Teenager nicht leicht gewesen war, von ihm getrennt zu sein. Wie oft hatte sie in LA wachgelegen, die Augen verquollen, das Herz wund, und darüber nachgedacht, was er wohl gerade tat und wie es ihm ging. Wie oft hatte sie sich eingeredet, dass er jetzt, da sie weg war, nicht mehr so sehr unter seinem Adoptivvater leiden musste, weil der Unruhepol fehlte. Sie hatte genau gewusst, dass das nur eine Lüge war, um sich selbst besser zu fühlen.
Rektor Brown war auch ohne sie ein herzloser und überstrenger Sadist gewesen. Zusätzlich zur Schule und den Privatstunden hatte Charlie jede Woche zwei Bücher lesen und sonntags ein Referat darüber halten müssen. Wenn er etwas Verkehrtes sagte, bekam er mit dem Lineal auf die Finger; ebenso, wenn er sein Bett falsch machte oder die Wäsche nicht genau nach Maß zusammenlegte. Handfeste Prügel waren ihm sicher, wenn er Brown nicht ›Sir‹ nannte, wenn er Bea nur ansah und wenn er sich auf sonst eine Weise widersetzte. Nicht weiter verwunderlich, dass Charlie ein Problem mit Autoritäten hatte. Aber dass er nach all dem Terror ein derart liebevoller Mann geworden war, das war ein Wunder.
Er hatte seine Vergangenheit überlebt und war darüber hinweggekommen. Vielleicht würde Bea das ebenfalls schaffen. An seiner Seite. Mit seiner Hilfe. Und irgendwann würde auch sie sich ein paar symbolische Kreise auf den Rippenbogen tätowieren lassen können.
Deswegen und weil sie schlichtweg zu schwach war, ihn noch einmal zu verlassen, musste sie den Advocates eine Chance geben. Wenn sie nach drei Tagen schon beinahe vor Sehnsucht zerging, wollte sie nicht herausfinden, wie es ihr ein Leben lang ergehen würde.
Und es sah doch gar nicht so furchbar aus, wie sie erwartet hatte. Vor dem Farmhaus waren Biertischgarnituren aufgebaut, ein Advocate stand in Kutte und Schürze an einem großen Barbecue-Grill, was wirklich witzig aussah, und auf einem Campinghocker saß der Typ mit den unzähligen Falten im Gesicht, den sie von ihrem ersten Besuch im Courtroom kannte, und klimperte auf einer Gitarre. Kinder und sogar ein Basset rannten über den Hof; die Ohren des dicken Hundes flatterten im Wind, als er hinter einem kleinen Mädchen im weißen Sommerkleidchen herjagte, das fröhlich quietschte.
Überall saßen und standen Grüppchen von Leuten herum, unterhielten sich, lachten und tranken. Nicht alle von ihnen trugen Lederkutten; manche sahen aus wie völlig normale Leute, die man überall auf der Straße treffen konnte. Es war ein bunt zusammengewürfelter Haufen, was ein wenig den Eindruck eines Familienfestes erweckte. Nur, dass diese Familie riesig war.
Die Tür zum Clubhaus stand offen, und einige Mädels gingen gerade mit Schüsseln hinein. Seufzend schaute Bea zu dem Kuchen auf dem Beifahrersitz. Sie hatte einen Käsekuchen gebacken, nach dem Rezept ihrer deutschen Großmutter. Sie war keine Küchenfee, und wie immer musste sie zwei Kuchen backen, damit ihr einer gelang. Aber dabei hatte sie einmal mehr festgestellt, wie sehr sie den Duft von Frischgebackenem liebte.
Bea hatte eben auch keine normale Kindheit gehabt. Sie erinnerte sich nur an ein paar Mal Geburtstagsmuffins, die ihre Mutter für sie gemacht hatte. Das war allerdings eine Ewigkeit her. Der Duft von Käsekuchen jedoch weckte frühe Erinnerungen an eine Zeit, als Beas Großmutter noch gelebt hatte. Es waren lediglich Gedankenfetzen, Gerüche und Gefühle, doch sie bewiesen, dass Bea einmal eine liebevolle Grandma gehabt hatte. Wenigstens eine Person in der Familie zu wissen, die nicht abgrundtief böse war, machte Hoffnung, dass es nicht an den kramer’schen Genen lag, sondern nur die Umstände aus Menschen Teufel machen konnten.
Bea atmete noch einmal tief durch, dann griff sie nach dem Kuchen, stieg aus dem Wagen und marschierte über die Straße. Unwillkürlich zog sie den Kopf ein und versuchte, niemanden direkt anzusehen. Sie wusste selbst nicht, was das bringen sollte. Schließlich konnte sie sich nicht in irgendeine Ecke stellen und unsichtbar werden. Irgendwann musste sie auf einen dieser Leute zugehen.
»Hi, Bea!« Kaum hatte sie das Grundstück betreten, wurde sie von einer jungen Brünetten im engen Tanktop begrüßt, die sie noch nie zuvor gesehen hatte. »Wieso parkst du denn da drüben?«
Bea runzelte die Stirn. »Wieso nicht?«
Die Frau deutete auf eine Reihe Autos neben dem Gebäude. »Dein Platz ist doch dort.«
Sollte das bedeuten, sie hatte einen eigenen Parkplatz? Obwohl sie noch nie hier gewesen war?
»Ach, ist schon gut.« Sie musterte die hübsche Brünette, die sie ohne den geringsten Argwohn in der Miene anlächelte. »Ähm, sorry, wie …?«
»Everly«, half sie aus.
»Everly, danke.« Sie lächelte die Frau zögerlich an. „Wo soll ich den hinbringen?«, fragte sie und deutete mit dem Kinn auf den Käsekuchen.
»Du kennst Emma? Sie ist im Clubhaus. Gib ihn einfach bei ihr ab.«
»Okay, danke.«
Bea lächelte Everly erneut zu, ehe sie den Blick auf die Tür des Clubhauses richtete und zielstrebig darauf zu ging. Die meisten Leute nickten ihr zu oder lächelten sie an, und sie erwiderte diese Höflichkeiten, kam sich dabei aber merkwürdig beobachtet vor.
Sie war fast an der Veranda angekommen, da stupste sie von hinten jemand an den Arm. Sie stoppte und drehte sich um. Beinahe wäre sie zurückgewichen, als sie sich dem Glatzkopf gegenüber sah. Allerdings wirkte er heute weit weniger bedrohlich, was nicht nur an seinem reumütigen Blick liegen mochte, sondern größtenteils daran, dass er einen Pappteller mit Burgern in den Händen hielt statt einer Knarre.
»Das war nicht so gemeint, letztes Mal, du weißt schon … Blöde Verwechslung«, sagte Smitty leise und sah dabei aus wie ein Schuljunge, den ein Erwachsener gezwungen hatte, sich für einen dummen Streich zu entschuldigen. »Kommt nicht wieder vor.«
Bea musste automatisch schmunzeln. »Okay.«
Sie nickten sich zu, woraufhin er sich umdrehte und zu einer älteren Frau ging, die in einem Gartenstuhl am Biertisch neben ihnen saß.
»Hey Ma, willst du Salat zu deinem Burger?«, fragte er und legte eine Hand auf ihre knochige Schulter, die die Dame mütterlich tätschelte, während sie ihm antwortete.
Es war merkwürdig zu sehen, dass auch die Glatze nur ein Mensch war.
Bea ging die Stufen zur Veranda hoch und schaute sich noch einmal um. In der Nähe des Grills stand der Dicke mit den Ringellöckchen, Don unterhielt sich mit einer Blondine, und sein Mitarbeiter mit der gruseligen Narbe im Gesicht schleppte ein Bierfass durch die Gegend – alle, an die sich Bea erinnern konnte, waren hier. Es schienen nur Charlie und der Ire zu fehlen. Was sie wohl noch zu erledigen hatten?
»Bea! Wie schön, dass du gekommen bist.« Emma erschien urplötzlich neben ihr auf der Veranda und drückte ihr freundschaftlich den Arm. »Und du hast einen Kuchen mitgebracht. Sieht lecker aus.«
Bea hob eine Braue. Wo waren die Distanz und das Misstrauen der Blondine hin? Wieso waren alle so nett zu ihr?
»Komm, ich zeig dir alles.« Sie nahm ihr den Kuchen ab, und ihr Blick fiel auf die andere Straßenseite. »Wieso parkst du am Arsch der Welt?«
»Ich wollte nicht im Weg stehen«, erwiderte sie und beantwortete Emmas irritierten Blick mit einem lässigen Abwinken.
»Gut, dann komm mal mit.«
Bea folgte ihr ins Clubhaus, wo Emma den Kuchen an einem üppigen Salat- und Nachtischbuffet abstellte. Erst jetzt konnte sie den Raum genauer anschauen.
Charlie hatte recht gehabt, das Clubhaus war wie eine Mischung aus Bar und Wohnzimmer. Wenn man eintrat, stand man sofort im großen Hauptraum, der durch die Holzwände einen Hauch von Wärme und Gemütlichkeit ausstrahlte. Der rechte Bereich war von einer langen Holztheke, Fässern und Flaschen an Halterungen geprägt, was stark an den Courtroom erinnerte. Auf der anderen Seite standen Sessel, eine Couch, ein Billardtisch und ein paar Spielautomaten. An den Wänden hingen dutzende Fotos, und in einem Regal standen Erinnerungsstücke und Pokale, vermutlich von irgendwelchen Motorradshows. Zugegeben, es war … heimelig.
»Zur Orientierung:«, Emma deutete mit den Händen in verschiedene Richtungen, »Es gibt Toiletten im hinteren und im vorderen Teil des Hauses. Der Raum hier rechts und das Dachgeschoss sind für Nicht-Mitglieder tabu, also geh da bitte nicht rein. Wenn du Hunger hast, wende dich an Bennie – das ist der Typ am Grill, der ein bisschen aussieht wie der Sänger von Metallica. Und um den Durst kümmern sich die Prospects.« Sie holte Luft und schaute sich kurz um. »Ich glaube, das war alles fürs Erste. Was willst du trinken?«
»Eine Cola«, sagte Bea, gedanklich noch damit beschäftigt, sich alles einzuprägen.
»Du hast es gehört, Woods«, rief sie dem dicken Kerl hinter der Theke zu.
»Ja, Ma’am.«
»Nenn mich nicht Ma’am.« Sie warf ihm einen tadelnden Blick zu, ehe sie sich wieder an Bea wandte. »Da komme ich mir vor wie meine eigene Großmutter. Wo ist eigentlich deine Mom?«
»Sie hat noch irgendetwas im Courtroom zu tun.« Bea zuckte mit den Schultern. »Irgendein Bekannter wollte sie später hierher mitnehmen.«
»Ach, vermutlich holt sie mit Rudy die restlichen Bierfässer.« Emma bedachte sie mit einem mitfühlenden Blick. »Es muss hart für dich gewesen sein, zurückzukommen und zu sehen, wie es um sie steht.«
Bea atmete tief durch. »An meinem ersten Tag kam es mir gar nicht so schlimm vor.«
»Es gab auch schon deutlich bessere Zeiten. Natürlich hatte sie immer mal wieder Rückfälle, vor allem, als sie eine Weile lang mit Bob zusammen war. Na ja, das ist glücklicherweise vorbei. Danach hat sie sich sogar Hilfe suchen wollen. Im vergangenen Jahr habe ich schon gedacht, sie würde endlich von der Scheiße wegkommen. Aber seit … einiger Zeit …« Emma biss sich auf die Lippen, doch Bea ahnte, was sie sich verkniff: Rosemary war wegen des Auftauchens ihrer Tochter wieder in ein Loch gefallen. »Ich kann mir nicht vorstellen, wie schlimm es für dich sein muss, wenn es mir schon wehtut, Rosie derart verfallen zu sehen. Wenn du irgendetwas brauchen solltest, meldest du dich, ja?«
Bea spürte einen heftigen Stich im Herzen. Wieso nur machte ihre Anwesenheit ihre Mutter derart unglücklich? Sie verstand es einfach nicht. Aber es tat verdammt weh, sehr viel mehr, als sie zugeben wollte. Daher wechselte sie rasch das Thema.
»Okay«, antwortete Bea schließlich. Sie lehnte sich mit einem Arm an die Theke und musterte Emma neugierig. »Wieso bist auf einmal du so nett zu mir?«
»Du bist Blaze’ old Lady. Damit gehörst du zur Familie und hast allen Respekt verdient.« Sie legte eine Hand auf Beas Arm und bedachte sie mit einem todernsten Blick. »Ich bin nicht dein Feind, Bea, keiner hier ist das. Dieses Chapter ist Bs Zuhause und somit auch deins. Je schneller du das erkennst, umso besser.«
Bea runzelte die Stirn. Sie hatte keinen Zweifel, dass Emma es genauso meinte, wie sie sagte, allerdings schien noch mehr dahinter zu stecken; ihre Stimme klang beinahe flehentlich. Nun, vielleicht bildete sie sich das auch nur ein, nachdem sie beide einen eher schlechten Start miteinander gehabt hatten.
Letztendlich nickte Bea bloß und schob die Gedanken beiseite. Sie hatte sich vorgenommen, weniger misstrauisch zu sein, was den Club betraf. Da half es bestimmt nicht, alles, was man zu ihr sagte, zu sezieren und neu zu interpretieren.
»Was hat es eigentlich mit dieser Bezeichnung ›old Lady‹ auf sich?«, hakte sie nach. »Jedes Mal, wenn mich jemand so nennt, habe ich vor Augen, wie ich meinen Freund in Schürze und Kopftuch und mit einem Teigroller in der Hand begrüße.«
Emma kicherte. »So nennt man bei uns die feste Freundin oder die Ehefrau eines Member. Es bedeutet, dass du offiziell zur Familie gehörst und unter dem Schutz der Advocates stehst.«
Das klang doch erheblich besser als die alte Hausfrau, die Bea sich vorgestellt hatte. Und es fühlte sich auch besser an.
»Ma’am«, sagte der Prospect hinter der Theke und hielt Bea eine Cola mit Eis hin.
»Danke.« Sie zog die Brauen zusammen, nahm ihm das Glas ab und nippte an dem eiskalten Getränk, ehe sie sich Emma zuwandte. »Du hast recht, da kommt man sich uralt vor.«
Emma lachte auf, so hell und ehrlich, dass Bea einfach mitlachen musste.
»Komm mit«, die Blondine führte sie am Ellbogen aus dem Clubhaus, »ich stelle dir ein paar Leute vor.«
Bea unterdrückte ein Brummen. »Du weißt nicht zufällig, wann Charlie zurückkommt?«
Sie kicherte. »Ich muss mich noch an diesen Namen gewöhnen – Charlie klingt so harmlos. Aber nein, keine Ahnung. Ich frage nicht nach.«
»Aha.«
So handhabte man es hier anscheinend: Die Männer kümmerten sich um die Clubangelegenheiten und die Frauen fragten nicht nach. Aber Bea würde auf jeden Fall nachfragen. Und eine Antwort erhalten, so viel war klar.
Sie spazierte mit Emma über den Hof und versuchte sich zu merken, wer wie hieß und wer zu wem gehörte. Das erinnerte ebenfalls an ein Familientreffen; allerdings hatten die Leute hier zusätzlich noch so etwas wie Dienstbezeichnungen, die sie sich merken musste. Zum Beispiel war Lenny, der Dicke mit den Ringellöckchen, der Secretary, also Schriftführer des Chapters; Moses, der wilde Grizzlybär, den sie an ihrem ersten Tag in Wolfville erlebt hatte, war Treasurer, Schatzmeister; und Pat, der Ire, durfte sich Sergeant-at-Arms auf die Kutte schreiben. Sein Posten hatte irgendetwas mit der Sicherheit der Member zu tun – Emma war hier ein bisschen ins Stammeln geraten.
Gerade durch diese Stellungen schien es klare Hierarchien im Club zu geben, die selbstredend mit dem President begannen und irgendwo beim Prospect, dem ›Mädchen für alles‹ endeten. Es gab außerdem Typen, die Hangarounds genannt wurden, aber die hatten nicht viel zu melden und waren wohl nur Freunde. Sie trugen nicht einmal Kutten.
Bea blickte noch nicht ganz durch. Teilweise hatte sie das Gefühl, diese Leute sprachen eine völlig andere Sprache als sie, vor allem, wenn sie anfingen, über ihre Bikes zu reden. Aber eines verstand sie allmählich: Das hier war nicht nur der bunt zusammengewürfelte Haufen, nach dem es aussah, es war eine einträchtige Gemeinschaft Gleichgesinnter. Brüder, kam Bea in den Sinn. So hatte Charlie sich ausgedrückt, und es gab kein passenderes Wort dafür. Denn sie waren zwar manchmal grob zueinander, beschimpften sich oder rivalisierten miteinander, aber der Zusammenhalt, die Zuneigung und die Verbundenheit waren in jeder Sekunde spürbar. Das hier sah nicht nur so aus, es war eine große Familie. Und diese konnte zweifellos eine tiefe Leere bei Menschen füllen, die niemals Teil einer richtigen, harmonischen Familie gewesen waren. So wie Charlie.
Und so wie Bea.
Es war bereits dunkel, ein kleines Lagerfeuer und einige Fackeln brannten auf dem Hof, da holten sich Bea und Emma zwei Burger vom Grill und setzten sich zum Essen an einen Biertisch. Auf der Veranda tanzten einige Mädels, die Lulu, die chinesisch-stämmige Nachtclubmanagerin, die überaus gerne redete, zur Unterhaltung mitgebracht hatte. An ihrem Tisch diskutierten Don und seine Immer-mal-wieder-old-Lady Darlene über ein neues EDV-System für Don’s Werkstatt. Don war dagegen. Er stand auf Kriegsfuß mit Computern und wurde nicht müde, über selbige zu schimpfen, was Bea des Öfteren zum Kichern brachte.
»Hey, was machst du denn da, Kyle?« Emmas Stimme lenkte Bea auf den kleinen Jungen, der neben Don saß.
»Igitt, Grünzeug«, sagte er, streckte die Zunge raus und versuchte, Salatblätter, Gurken und Tomaten von seinem Burger zu kratzen.
Emma haute ihm sanft auf die Finger. »Das wird gegessen, Freundchen, nicht immer nur Fleisch und Brötchen.«
Das blonde Kerlchen stöhnte, legte allerdings den Brötchendeckel wieder drauf und biss folgsam von dem Burger ab.
Emmas Mundwinkel hoben sich, als sie ihm mit liebevollem Blick dabei zusah. »Ist er B nicht wie aus dem Gesicht geschnitten?«, fragte sie selig.
Bea verschluckte sich an ihrem Burger und hustete.
»Ich verarsch dich nur.« Emma klopfte ihr lachend auf den Rücken. »Dieser Prachtkerl gehört zu Darlene und Don.«
Bea nickte röchelnd, beäugte den Jungen mit der Stupsnase und den Grübchen in den Wangen dennoch skeptisch. Sie war noch nicht in dieser Welt angekommen, verstand sie noch nicht – wer wusste schon, ob bei Rockern nicht Polygamie herrschte?
»Papa, kann ich mit Dylan spielen?« Kyle zupfte an Dons Kutte.
»Du musst erst aufessen, Kumpel.«
»Keinen Hunger mehr.«
Don nahm den angeknabberten Burger vom Teller seines Sohnes und legte ihn auf seinen eigenen, dann hielt er den Zeigefinger vor die Lippen und schielte zu Darlene hinüber, die in ein Gespräch mit einer anderen Frau vertieft war. »Aber verrat es Mama nicht.«
Er lachte sein Hyänenlachen, woraufhin der Kleine eifrig nickte, von der Bierbank hüpfte und zu den anderen Kindern rannte.
»Du ebenfalls nicht, Mäuschen.« Don zielte grinsend mit einem Finger auf Bea.
Sie antwortete mit einer Schlüsselbewegung an ihren Lippen und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Kyle hatte ungefähr dreißig Onkels und Tanten, die auf ihn aufpassten, und eine ganze Menge Geschwister, mit denen er spielen konnte. Es musste schön sein, so aufzuwachsen.
In diesem Moment hörte Bea das lang ersehnte Motorengeräusch. Es waren viele Motorräder vorgefahren, seit sie hier war, aber dieses Mal war es endlich Charlie. Instinktiv sprang sie auf und marschierte an allen vorbei zu der Reihe Harleys, die nun durch zwei weitere Maschinen ergänzt wurde.
Sie ließ ihn gerade noch absteigen und den Helm abnehmen, dann warf sie sich in seine Arme, schlang die Hände um seinen Nacken und küsste ihn. So tief und hungrig, dass die Leute um sie herum anfingen zu applaudieren und zu johlen.
Sie löste sich nur so weit von Charlie, dass sie sich umsehen konnte. Tatsächlich schauten plötzlich alle in ihre Richtung und jubelten ihnen zu. Eine leichte Röte stieg in Beas Wangen, doch beim Anblick der vergnügten Gesichter um sie herum musste sie einfach grinsen. Charlie ging es offenbar ebenso.
»Wieso werde ich hier nie so begrüßt?«, beschwerte sich Pat neben ihr.
»Na, komm, Süßer, ich übernehm das«, antwortete eine tiefe Stimme.
Bea und Charlie mussten beide lachen. Noch lauter, als sie sahen, wie ein bärtiger Advocate mit gewaltigem Bierbauch auf Pat zutänzelte und einen Kussmund zog.
»Bleib mir bloß vom Hals, du hässliches Ding«, sagte Pat, halb panisch, halb lachend.
Er wich seinem Bruder aus und versuchte, sich hinter Emma zu verstecken, was noch mehr Gejohle und Applaus von den Umstehenden einbrachte.
Bea wandte der Szene den Rücken zu, um in die silbergrauen Augen zu blicken, die sie so sehr vermisst hatte. »Du hast mir gefehlt.«
»Du mir auch.« Charlie streichelte über ihre Wange und hauchte ihr einen sanften Kuss auf die Lippen, der ihr Herz zum Flattern brachte. »Und? War hier alles klar? Oder hat dich jemand gefressen?«
»Nein. Waren alle außerordentlich brav.«
»Na, siehst du.« Er legte einen Arm um ihre Schultern, küsste sie auf die Schläfe und führte sie von den Motorrädern weg. »Endlich wieder normale Leute.«
»Sagst du mir jetzt, wo du warst?« Als seine Mundwinkel zuckten, runzelte sie die Stirn. »Was ist so witzig?«
»Das werde ich dir gleich erzählen.« Er deutete mit dem Kinn auf ein ruhiges Eckchen auf der Veranda. »Da drüben.«
Er begrüßte einige Leute im Vorbeigehen, darunter auch Emma und eine rothaarige Frau, die neben ihr stand, mit einem Kuss auf die Wange. Bea konnte ein Augenrollen nur mit Mühe unterdrücken, als sie den Augenaufschlag der Rothaarigen bemerkte und drückte sich noch enger an Charlie.
»Hey, B, müssen wir noch was klären, bevor unser Ehrengast kommt?«, fragte Pat, der ebenfalls zu Emma gegangen war.
Diese gab ihm einen Klaps auf den Arm. »Jetzt lass den beiden wenigstens fünf Minuten Ruhe, sie haben sich tagelang nicht gesehen.« Sie winkte ab. »Ach, du verstehst sowieso nicht, wovon ich rede.«
»Ich verstehe sehr wohl, dass Verliebte ihre Privatsphäre brauchen.«
»Warst du denn jemals verliebt?«
»Ständig.« Grinsend schlang er einen Arm um Emma und raunte ihr zu: »Heute Nacht verliebe ich mich vielleicht in dich, wie wär das?«
Sie knuffte ihn zur Antwort mit dem Ellbogen in die Rippen, konnte sich ein Kichern aber offenbar nicht verkneifen.
»Wir unterhalten uns, wenn Syd da ist.« Charlie klopfte ihm grinsend auf die Schulter. »Lass uns erstmal ankommen, Bro.«
Damit ging er weiter und führte Bea auf die Veranda, wo sie sich auf der kitschigen Hollywoodschaukel niederließen.
»Alle anderen sind gestern zurückgekommen, habe ich gehört«, sagte Bea und versuchte sich in dem Ding so zu drehen, dass sie ihn direkt ansehen konnte. »Was habt ihr beiden gemacht?«
Wieder zuckten seine Mundwinkel. »Wir haben uns in Phoenix mit einem Anwalt getroffen. Du kennst ihn vielleicht. Er heißt Jacob Wainwright.«
Bea blinzelte ihn ungläubig an. »Du hast dich mit meinem Ex getroffen? Wieso?«
»Ein Vögelchen hat mir gezwitschert, dass meine old Lady immer noch Verpflichtungen bei einem New Yorker Arschloch hat.« Er hob tadelnd die Brauen. »Wieso hast du mir nichts von deinen Schulden erzählt?«
»Weil das mein Problem ist.« Sie zuckte mit den Schultern. »Außerdem ist das keine große Sache. Ich bin dabei, sie abzubezahlen.«
»20.000 Dollar sind keine große Sache?« Er nahm ihre Hände und warf ihr einen eindringlichen Blick zu. »Hör mir mal gut zu, Bea. Du – und alles, was dich betrifft – ist sehr wohl mein Problem. Du gehörst zu mir. Und ich will nicht, dass dich noch irgendetwas an dieses beschissene New Yorker Leben bindet, verstanden? Deshalb habe ich die Sache geregelt.«
War es in Ordnung, dass ihr Herz bei dieser besitzergreifenden Ansprache einen Hopser machte? »Moment mal! Was heißt bitte, du hast die Sache geregelt?«
Völlig ernst sah er sie an. »Ich habe ihn in der Wüste vergraben; den Penner findet keiner mehr.«
Bea spürte förmlich, wie sie blass wurde. »Du hast was?«
Sein rechter Mundwinkel hob sich. »Keine Sorge, ich habe ihm kein Härchen gekrümmt. Ich bin schließlich nicht so hart wie du, Kramer.«
Sie schluckte. Mist, jetzt kehrte das Blut auf einen Schlag in ihre Wangen zurück.
»Selbstjustiz ist illegal, wusstest du das, Miss Gesetzestreu?«
Er lachte, als sie peinlich berührt das Gesicht in den Händen vergrub. Nach den großen Reden, die sie vor ihm geschwungen hatte, war es nur fair, dass er diesen Moment bis ins Letzte auskostete.
Charlie nahm ihre Hände von ihrem Gesicht und bedachte sie wieder mit diesem besonderen Blick, liebevoll, leicht anzüglich und einen Hauch überheblich zugleich. »Die Nasenkorrektur geschah dem Typen ganz recht. Außerdem finde ich es gut, wenn du für dich einstehst – du forderst viel zu selten Respekt für dich ein.« Er küsste ihre Fingerknöchel. »Dabei hast du es mehr als verdient.«
Wie aus einem Reflex heraus lächelte sie ihn an, bis ihr wieder einfiel, worüber sie gesprochen hatten. »Und wie hast du es dann geregelt?«
»Der Club hat deine Schulden übernommen.«
»Aber wieso …?«
»Was? Wieso? Woher? Weshalb?« Charlie seufzte. »Sag einfach danke und freu dich, dass du das Arschloch los bist. Du kannst es uns zurückzahlen, wenn du wieder flüssig bist – so läuft das eben in einer Familie, man ist füreinander da. Ich musste das auch erst lernen. Jetzt denk einfach nicht mehr daran und gib mir einen Kuss, weil ich so anständig war, dem arroganten Wichser keine reinzuhauen. Im Gegensatz zu dir besitze ich nämlich echte Selbstbeherrschung.«
Sie knuffte ihn gegen die Schulter. »Halt die Klappe.«
Er beugte sich zu ihr vor, aber Bea hob einen Finger und wich zurück. »Eins noch.«
»Ich werde immer ganz kribbelig, wenn du das sagst.«
»So wie ich, wenn du ›Clubangelegenheit‹ sagst?« Sie überlegte kurz, wie sie es am besten formulieren sollte, entschied sich jedoch für den direkten Weg. »Was ist mit den anderen Frauen?«
Er runzelte die Stirn. »Welche anderen Frauen?«
Sie dachte an die Blicke, die die sexy Rockermädels ihm zuwarfen; an den Abend, an dem sie ihn mit Emma beobachtet hatte; an Pat, der sich ›ständig‹ verliebte …
»Ich sehe, wie sie dich ansehen. Aber ich könnte es nicht ertragen, wenn du mit anderen schläfst.«
»Wie kommst du nur immer auf solche Sachen? Es gibt keine anderen Frauen.« Er tippte mit dem Zeigefinger gegen ihre Stirn. »Du musst endlich aufhören, mich in die Klischee-Rocker-Schublade stopfen zu wollen. Da passe ich nicht rein. Das bin ich nicht.«
»Und wer bist du dann?«
»Ich bin der Mann, der dich liebt. Nicht mehr und nicht weniger. Kannst du damit leben?«
Sie lächelte unwillkürlich. »Denke schon.« Behutsam legte sie eine Hand an seine Wange und küsste ihn auf die Lippen. »Ich liebe dich auch.«
»Das will ich hoffen.« Er wackelte mit den Brauen. »Ich habe dir heute 20.000 Gefallen getan, die es wiedergutzumachen gilt.«
Bea konnte sich das Lachen nicht verkneifen. »Ich wusste doch, es gibt einen Haken. Aber Wiedergutmachung bin ich dir wohl schuldig.« Sie seufzte übertrieben, ehe sie ihm zuzwinkerte. »Sobald wir hier verschwinden können, fange ich damit an.«
Er knurrte. »Fuck, Syd, wo bleibst du? Ich muss los …«
Seine Finger vergruben sich in ihrem Haar, und seine Lippen pressten sich gierig auf ihre. Keine Ahnung, wie es in dieser Hollywoodschaukel geendet hätte, wenn nicht just in diesem Moment ein Motorrad vorgefahren wäre und Charlies Aufmerksamkeit erregt hätte. Automatisch schauten sie beide zum Parkplatz hinüber.
»Was für ein Timing!« Er sprang auf und reichte ihr die Hand. »Komm mit. Den willst du garantiert begrüßen.«
Bea warf ihm einen irritierten Blick zu, ließ sich jedoch von ihm zu den Harleys führen. Etwas anderes blieb ihr ohnehin nicht übrig. Charlie rannte beinahe so auf den Neuankömmling zu, wie sie zuvor auf ihn. Als sie näher kamen, verstand sie allerdings auch, wieso: Es war Chris.
Sie war derart mit Charlie beschäftigt gewesen, dass sie seinen besten Freund völlig vergessen hatte. Chris stieg von der Maschine, setzte den Helm ab und grinste Charlie an. Er hatte sich kaum verändert, war immer noch groß und kräftig, und er hatte noch dieselben Segelohren. Nur der Bart an seinem Kinn und die Narbe über der linken Braue waren neu.
Die Freunde begrüßten sich mit einer herzlichen Umarmung, bei der sie sich geräuschvoll auf den Rücken klopften, wie Kerle es eben taten.
»Ich wusste nicht, ob du es rechtzeitig schaffst, Bro«, sagte Charlie und löste sich von Chris.
»Pres’ Entlassung lass ich mir auf gar keinen Fall entgehen, Mann! Außerdem bin ich jetzt fertig in Provo. Ab jetzt musst du mich wieder jeden Tag ertragen.«
Charlie stöhnte entnervt, konnte sich das Grinsen aber nicht verkneifen. »Tut gut, dich zu sehen.«
Chris nickte und drückte ihm freundschaftlich den Arm, ehe er sich Bea zuwandte. »Ist das eine Fata Morgana? Bist du es wirklich, Kramer?«
»Live und in Farbe, Tanner.«
Lachend nahm er sie in die Arme, und Bea quietschte erschrocken auf, als er sie kurz anhob. »Sie haben gesagt, du wärst zurück in Wolfville, aber ich dachte, die verarschen mich. Mann, auf die Geschichte bin ich echt gespannt.«
»Ja, die erzähle ich dir mal über ein langes Wochenende«, scherzte Bea, legte die Hände an seine Schultern und drückte ihm einen dicken Kuss auf die Wange. »Es ist so schön, dich wiederzusehen!«
»Verrückt, aber sehr cool, ja,« Er grinste sein freches Grinsen, das sie noch von der High School kannte, dann wandte er sich Charlie zu und deutete mit dem Daumen auf Bea. »Ich weiß gar nicht, was du hast. Sie ist doch ganz umgänglich.«
»Ja, jetzt. Nachdem ich das Drama abgefangen habe.« Charlie verschränkte die Arme vor der Brust und schaute gespielt beleidigt auf sie herab. »Wieso wurde ich nicht so begrüßt? Findest du das fair, Kramer?«
Bea winkte ab und lächelte stattdessen Chris an. »Du hast dich kaum verändert, verblüffend. Wie geht es dir?«
»Nachdem ich jetzt wieder hier bin, hervorragend.« Er nickte in Richtung Hof. »Ich begrüße den Rest von diesem Sauhaufen und hol mir ein Bier, dann unterhalten wir uns, okay?«
»Klar, gern.«
Bea schaute ihm nach, wodurch sie im Augenwinkel wahrnahm, wie Emma aus dem Clubhaus kam. Die Blondine hielt abrupt inne, als ihr Blick auf Chris fiel, und ihr Gesicht wurde kreidebleich. Dann wirbelte sie blitzschnell herum und verschwand wieder im Farmhaus. Scar, der Prospect mit der Narbe, folgte ihr direkt.
Merkwürdig. Ob da irgendetwas zwischen Emma und Chris lief?
»Ich will jetzt endlich einen von Bennies erstklassigen Burgern«, meinte Charlie und riss sie damit aus ihren Gedanken. »Setzen wir uns da drüben hin?«
»Okay.«
Während sich Charlie etwas zu essen organisierte, besorgte Bea ein Bier und eine Cola. Sie wunderte sich, dass sie im Clubhaus nicht auf Emma traf, aber sobald sie bei Charlie saß und sich Chris nach einer Weile dazugesellte, dachte sie nicht mehr darüber nach. Es war zu schön, mit ihren alten Freunden zusammenzusitzen – wie eine längst überfällige Wiedervereinigung.
Sie erfuhr, dass Chris ein halbes Jahr in Utah gewesen war, weil der Club ihn an ein anderes Chapter ›ausgeliehen‹ hatte. Bea entschied, am heutigen Abend nicht weiter nachzuhaken und einfach das Wiedersehen zu genießen. Sie zog ihn lieber damit auf, dass er jetzt Chick genannt wurde. Allerdings nicht, weil er ein feiges Hühnchen war, sondern weil ihm die Chicks scharenweise verfielen. Seine Worte, nicht ihre. Das wunderte Bea jedoch nicht. Mit seiner offenen und frechen Art war er bei den Mädels immer schon gut angekommen.
Irgendwann gesellte sich Misha zu ihnen an den Tisch und verlangte ein paar Anekdoten der drei von früher. Die Jungs ließen sich nicht lange bitten und packten allerhand Storys aus, an die sich Bea überhaupt nicht erinnern konnte. Unglaublich, wie viel sie drei zusammen erlebt hatten, so einiges, das ihr das Herz wärmte und über das sie sich heute amüsieren konnte. Wie hatte sie diese Erinnerungen nur so weit in ihr Unterbewusstsein drängen und sie mit Bösem überschatten können? Sie hatte das Gefühl, eine Ewigkeit nicht mehr so viel gelacht zu haben.
Hin und wieder schielte sie zu ihrer Mutter hinüber, die an einem Tisch schräg gegenüber von ihr saß. Bea hatte sie eine Ewigkeit nicht mehr so entspannt gesehen. Sie schien sich hier aufgehoben zu fühlen, geborgen – offenbar war der Club auch ihre zweite Familie. Dennoch warf sie ihrer Tochter des Öfteren seltsam traurige Blicke zu. Bea konnte sich nicht erklären, wieso es ihre Mutter unglücklich machte, wenn sich Bea hier wohl fühlte, wollte die Stimmung aber auch nicht dadurch ruinieren, dass sie Rosemary darauf ansprach. Das hätte bloß einen neuerlichen Streit zur Folge.
Irgendwann, so nahm sich Bea vor, würde sie ihre Mutter darauf ansprechen, sie fragen, wieso sie ihre Tochter partout nicht um sich haben wollte. Aber wenn sie ehrlich war, hatte sie Angst vor der Antwort.
Inzwischen war es reichlich spät geworden, als plötzlich ein schwarzer SUV vorfuhr. Bea traute ihren Augen kaum: Syd Bellamy wurde stilecht von zwei Bundesagenten am Clubhaus abgeliefert. Er lud die beiden sogar frech grinsend zu einem Bier ein, was diese allerdings wenig überraschend ablehnten. Sobald Syd die Tür des Wagens zugeknallt hatte, gab der Fahrer so stark Gas, dass die Reifen eine riesige Staubwolke aufwirbelten.
Misha begrüßte ihren Mann als Erste. Es war nicht so filmreif wie zuvor bei Bea und Charlie, aber man spürte den Respekt und die Liebe, die die beiden füreinander empfanden. Vermutlich kam die richtige Begrüßung ohnehin erst nach der Party.
Die anderen hielten respektvollen Abstand, bis sich Syd von seiner Frau löste und in die Runde schaute. Dann erst kamen seine Brüder auf ihn zu. Seine Kutte, eine Jeansweste mit Fransen an den Schultern und goldenen Abzeichen auf der Brust, wurde ihm gebracht, und das freudige Gegröle wurde lauter, als der Pres sie überstreifte.
Syd Bellamy war kein großer Mann, aber er war massig. Er besaß Schultern wie ein Pitbull, und wenn er lächelte, entblößte er eine Reihe ungewöhnlich spitzer Zähne. Der Blick aus seinen türkisgrünen Augen wirkte messerscharf, wie der eines Raubtiers. Sein schulterlanges Haar und der Vollbart waren bereits komplett ergraut, obwohl er schätzungsweise erst um die vierzig war, was ihm aber einen souveränen Touch verlieh. Bea musste zugeben, dass Syd ein ziemlich imposanter Mann war.
Sie hielt sich bei Charlie im Hintergrund, während sie beobachtete, wie Syd seine Leute begrüßte – Männer kräftig umarmte, Frauen küsste. Es war eine Stimmung wie auf dem roten Teppich, wenn der Star des Abends ankam oder als würde ein geachteter und geliebter König nach einem erfolgreichen Feldzug nach Hause zurückkehren. Und die Königin, Misha, ging aufrecht und mit stolzem Blick hinter ihm her.
Bea wurde von der überschwänglichen Atmosphäre derart angesteckt, dass ihr Herz flatterte, als der Pres bei ihr und Charlie ankam.
Die beiden Männer grinsten sich einen Moment lang an, als führten sie eine besonders lustige mentale Unterhaltung.
»Mein VP«, sagte Syd schließlich mit rauer, dunkler Stimme, nahm Charlie in die Arme und klopfte ihm kräftig auf den Rücken. »Hast ein paar gute Entscheidungen getroffen, während ich fort war, Bruder.«
Charlie nickte und hob gleichzeitig einen Mundwinkel. Seine gesamte Haltung hatte sich mit einem Schlag verändert, und man konnte deutlich den Respekt in seinen Augen schimmern sehen. Er strahlte so viel Hochachtung und Zuneigung für seinen Pres aus, wie Bea es noch nie bei ihm gesehen hatte. Nachdem sein Vater gestorben und sein Adoptivvater ein Arschloch gewesen war, hatte Syd anscheinend die Rolle der starken Vaterfigur eingenommen. Es war merkwürdig, aber wunderschön zu sehen, dass Charlie, der unheimlich viel Pech mit den Menschen in seinem Leben gehabt hatte, endlich zu jemandem aufsehen konnte. Bea war derart fasziniert von dem Anblick, dass sie kaum mitbekam, wie Syd sich ihr zuwandte.
»Und du musst Bea sein.« Als sein türkisblauer Blick sie traf, schlug ihr Herz ein wenig schneller. »Ich habe einiges von dir gehört.«
»Vermutlich nicht viel Gutes.« Bea ergriff die große Hand, die er ihr reichte, und lächelte unsicher.
»Kann sein, aber damit passt du hervorragend zu diesem Haufen.« Grinsend zwinkerte er ihr zu. »Willkommen in meiner Familie.«
Sie konnte nicht anders, sie musste sein Lächeln erwidern. »Danke.«
»Und du dachtest, ich könnte nicht nett sein.« Er klopfte Charlie auf die Schulter.
»Unheimlich. Du machst mir fast ein bisschen Angst«, antwortete dieser und hob eine Braue.
Syd lachte laut auf, was sich ein bisschen so anhörte, wie das Bellen eines sehr großer Hundes. Daraufhin drehte er sich zu Emma um, die, wie Bea in diesem Moment erst bemerkte, direkt neben ihr stand.
»Emma, Emma, meine liebste Emma.« Er nahm sie so vorsichtig in die Arme, als sei sie aus Porzellan. »Bitte sag mir, dass du diese kleinen Zimtdinger gemacht hast. Von denen habe ich im Knast geträumt.«
»Natürlich. Ich weiß doch, wie gern du die hast.«
»Ah – könnte dieser Abend noch perfekter werden?« Er nahm ihre Finger und küsste mit einem Zwinkern ihren Handrücken, ehe er sich wieder zu Charlie umdrehte und ihn zu sich winkte. »Zuallererst will ich meinen VP und meinen Sergeant-at-Arms am Tisch sehen. Wir haben einiges zu besprechen, bevor wir uns den angenehmen Dingen des Lebens widmen können. Wo ist Pat?«
»Hier.« Pat drückte sich zu seinem Pres durch und nickte ihm ernst zu. Mit einem Mal schien er hochkonzentriert, und von dem lustigen Iren mit dem Schmunzeln auf den Lippen war nichts mehr zu sehen.
Syd beugte sich zu den beiden hinüber und senkte die Stimme, aber Bea konnte ihn immer noch verstehen. »Bringt mich auf den neuesten Stand. Ich will alles zu den zwei Ratten, den Bohnenfressern und unseren russischen Ladys erfahren.« Damit machte er auf dem Absatz kehrt und marschierte zum Clubhaus.
Charlie küsste Bea flüchtig auf die Wange, dann folgte er Syd und Pat ins Clubhaus. Verwirrt schaute sie ihm hinterher.
Bea hatte das merkwürdige Gefühl, stolz auf ihren Freund sein zu dürfen. Auch wenn sie das alles nicht wirklich verstand …
»Wieso hast du Charlie von der Sache im Supermarkt erzählt?«, fragte sie Misha, die neben ihr stehen geblieben war und ihrem Mann ebenfalls nachschaute.
»Das war ich«, mischte sich Emma ein und zuckte mit den Schultern, als sei nichts dabei.
Bea runzelte die Stirn. »Warum?«
»Damit du siehst, wie die Dinge bei uns laufen. Damit du verstehst, dass wir füreinander da sind.« Sie schielte zu Misha, bevor sie Bea mit durchdringendem Blick musterte. »Ich sagte es dir schon: Wir sind jetzt deine Familie, Bea. Dein Zuhause ist das Chapter.«
»Zucker statt Essig«, raunte Misha und bedachte Emma mit einem merkwürdig abschätzigen Blick.
Diese straffte die Schultern. »Ganz genau.«
Bea hatte zwar keine Ahnung, was das bedeuten sollte, aber irgendetwas sagte ihr, dass Emma ihr damit einen Gefallen getan hatte.
»Das könnte eine Weile dauern.« Misha deutete mit dem Kinn aufs Clubhaus. »Lasst uns was trinken, Mädels.«