Читать книгу Biker Tales - Gesamtausgabe - Sandra Binder - Страница 15

Chapter Four – Irrational

Оглавление

In den nächsten zehn Tagen entwickelte Bea eine angenehme Routine. Ihr Alltag bestand darin, zur Arbeit zu fahren, sich acht Stunden lang von Kotzbrocken Peters herumkommandieren zu lassen, mit Maya und Daniel zu essen und danach zurück zu ihrem Elternhaus zu fahren, wo sie mal mit, mal ohne ihre angetrunkene Mutter auf der Couch vor der Glotze saß. Nebenher beschäftigte sie sich mit einer Aufstellung ihrer Finanzen und arbeitete einen Rückzahlungsplan für ihre Schulden bei Jacob aus.

Wenn alles glatt lief, hatte sie in drei Monaten genügend Geld angespart, um ihrem Ex eine ordentliche Anzahlung schicken und sich eine eigene Wohnung leisten zu können. Schneller ginge es natürlich, wenn sie einen besser bezahlten Job fand. Sie ging jeden Tag akribisch die Stellenanzeigen von ganz Kalifornien durch, hatte bisher jedoch keinen Erfolg bei den großen Unternehmen – was vermutlich mitunter daran lag, dass ihr Lebenslauf aussah wie der einer chronischen Abbrecherin. Sie arbeitete daran.

Bea wollte keinesfalls in Nevada bleiben und hatte sich Kalifornien bereits als ihre neue Heimat ausgeguckt. Am liebsten wäre ihr Sacramento für ihren Neustart. Die Hauptstadt des Staates kam ihr so souverän und aufgeräumt vor. Genau das brauchte sie jetzt.

Bea stürzte sich derart vehement in die Planung ihrer Zukunft, dass sie kaum Zeit für andere Grübeleien hatte. Und jedes Mal, wenn Maya ein Gespräch über Charlie oder die Advocates anstimmte, blockte sie ihre Freundin rigoros ab. Sie wollte nicht über ihn nachdenken, und wenn ihre Gedanken doch in seine Richtung abdrifteten, steckte sie sich Kopfhörer in die Ohren und ließ die Imagine Dragons in voller Lautstärke laufen. Sie konnte die Band zwar nicht ausstehen, aber sie war wenigstens penetrant genug, um ihren Kopf vollständig auszufüllen.

Dass sie sich in Charlies Gegenwart wie ein trotziger Teenager benahm, war für sie Beweis genug, dass er ihr nicht guttat. Es war ihr peinlich, wie pubertär sie sich anstellte, und sie hielt es für unbedingt notwendig, sich von dem Mann fernzuhalten.

Bea war optimistisch, das zu schaffen. Bei der Arbeit und Zuhause lief sie ihm schließlich nicht über den Weg, und die Gedanken an ihn würde sie so schon irgendwann loswerden. Immerhin hatte sie es vor acht Jahren schon einmal geschafft, ihn zu verdrängen. Sie musste bloß ihren Verstand einschalten und durfte sich nicht von Herz und/oder Libido lenken lassen. Erfahrungsgemäß kam nie etwas Gutes dabei heraus, wenn man auf seine Gefühle hörte. Früher hatte Zorn Bea geleitet, und sie hatte sich oftmals für ihre blindwütigen Taten verabscheut. Nicht auf ihren Kopf zu hören, war für sie ein Zeichen von Schwäche. Und sie wollte nie wieder schwach sein. Sie wollte ihr Leben im Griff haben.

Schon als Kind war das ihr größter Wunsch gewesen. Während andere Mädchen davon geträumt hatten, Tierärztin, Kindergärtnerin oder Prinzessin zu werden, wollte Bea nur eines: Kontrolle. Sie erinnerte sich gut daran, wie sie in der Middle School vor ihren Klassenkameraden gestanden und erzählt hatte, dass es ihr Traum war, Buchhalterin zu werden. Die anderen hatten gelacht, aber das konnte Bea nicht umstimmen. Sie liebte Zahlen – damals wie heute. Sie waren greifbar, logisch und unveränderlich. Eine Berechnung ließ sich nicht von Gefühlen beeinflussen, ihr Ergebnis war richtig oder falsch, ohne Alternativmöglichkeiten, ohne Unklarheiten. Das war die pure, unantastbare Ordnung. Eine Ordnung, die Bea immer in ihr Leben bringen wollte …

Ein Outlaw widersprach all dem.

So leid es ihr tat, und so schmerzhaft es damals schon gewesen war, Charlie zu verlassen, er war schlichtweg nicht der richtige Mann für sie. Bea hatte gehofft, dass er es rausschaffen würde, aber am Ende war aus ihm geworden, was sie insgeheim schon immer in ihm gesehen hatte: Ein Krimineller, der sich mit Mördern, Verbrechern und Drogenabhängigen umgab, vielleicht sogar selbst abhängig war, an einer Klippe stand und mit einem Fuß im Abgrund – oder im Knast. Kurz: Er war das Chaos.

Carl Hanson ist das Chaos.

Dieser Satz war zu einem Mantra geworden, das sie aufsagte, wenn alles andere nicht mehr half. Sie sagte sich, dass er sie schwach machte. Und dass sie nicht mehr schwach sein wollte.

Und so dümpelte ihr gewaltsam geordnetes Leben vor sich hin, bis zu einem Freitag, an dem jemand aus Don’s Werkstatt anrief und ihr mitteilte, dass das Ersatzteil für den Pick-up endlich geliefert worden war und sie den Wagen am Abend abholen konnte.

Schade eigentlich. Sie hätte sich an den schnuckligen, eisenfarbenen Volvo, den sie als Leihfahrzeug von Don bekommen hatte, gewöhnen können. Allerdings hatte sie das Gefühl, dass dies kein alltäglicher Service der Werkstatt war, sondern von Charlie initiiert. Mit Rückgabe des Volvos würde sie demnach die letzte Verbindung zu ihm kappen – symbolisch gesprochen.

Nach der Arbeit fuhr Bea zur Werkstatt, parkte den Volvo auf dem Hof und marschierte zum Bürogebäude, einem kleinen Container neben der Werkstatthalle. Über der Tür prangte die altvertraute dämonische Fratze. Bea unterdrückte ein Schnauben, als sie zu dem Dämon aufsah. Die Typen waren wie die Mafia; sie hatten die gesamte Stadt eingenommen. Man konnte nirgendwo hingehen, ohne dieses Symbol oder eine Harley zu sehen oder das unverkennbare Knattern zu hören.

Sie klopfte an die Tür, aber niemand antwortete. Also trat sie zögerlich in den kleinen Büroraum, in dem Don herumtigerte und telefonierte. Sie wollte umdrehen, aber er winkte sie herein und gab ihr ein Zeichen zu warten. Dabei knurrte er wie ein wütender Kojote in den Hörer.

»Das ist mir scheißegal. Sag deinem Arschloch von Ehemann, dass ich ihm den verdammten Auspuff in den Arsch ramme, wenn er mir die Kohle nicht bis morgen früh vorbeibringt.«

Bea verzog schmerzlich das Gesicht, schloss die Tür hinter sich und drehte sich zum Fenster um, damit sie Don nicht weiterhin anstarrte. Obwohl sie ihn nicht kannte, war sie sicher, dass er zu den Kerlen gehörte, die nicht nur leere Drohungen ausstießen. Wenn er sagte, er würde jemandem einen Auspuff irgendwo reinrammen, dann tat er das garantiert auch.

Er war gruselig, dieser hochgewachsene, abgemagerte Typ. Die Falten in seinem Gesicht lebten förmlich, wenn er die Lippen bewegte, und genau in die Mitte seines kahlen Schädels war ein rundes Symbol tätowiert, das ein bisschen aussah wie ein grinsendes Clownsgesicht. Es unterstrich hervorragend Dons irren Blick und sein krummzahniges Grinsen.

Bea war fast zu Tode erschrocken, als sie ihn an dem Abend, an dem der Pick-up nicht mehr angelaufen war, zum ersten Mal gesehen hatte. Es war dunkel gewesen, weshalb Don das Licht im Innenraum des Abschleppwagens eingeschaltet hatte, während er an die Seite gefahren war und das Fenster runtergelassen hatte.

»Na, sind wir liegengeblieben, Mäuschen?«, hatte er sie mit seiner kratzigen Stimme gefragt und daraufhin gelacht wie eine Hyäne.

An dem Tag hatte er offensichtlich bereits Feierabend gehabt, denn er war in seiner Lederkutte vorgefahren. Allerdings wirkte er heute in seinem babyblauen Werkstattoverall nicht weniger bedrohlich. Schon beeindruckend. Ja, Don war ein Mann, den man für voll nehmen sollte, so viel war klar. Bea wollte sich zumindest nicht mit ihm anlegen. Obwohl er ihr gegenüber bisher überaus höflich und kommunikationsfreudig gewesen war, hörte sie gerade selbst, dass er anders sein konnte.

»Es interessiert mich einen Scheiß, woher er das Geld nimmt. Soll er verfickt nochmal eine Bank ausrauben.« Don war vor dem Schreibtisch stehen geblieben, stemmte eine Hand in die Hüfte und starrte auf die Station des Telefons, als wollte er sie gleich auffressen. »Wenn er morgen nicht hier vorbeikommt, dann komme ich zu euch. Und ihr wollt nicht, dass ich zu euch komme, glaub mir.«

Bea glaubte das unbesehen. Sie schaute noch immer durch die Lamellen der Jalousie auf den Hof hinaus, als Don hinter ihr auflegte. Oder vielmehr den Hörer mehrere Male auf die Station schlug und dann beides auf den Boden pfefferte. Der Mann schien ein leichtes Aggressionsproblem zu haben. Allerdings achtete Bea nicht mehr auf ihn, denn etwas viel Interessanteres spielte sich im Hof ab. Dort war eben ein sportlicher Honda Civic vorgefahren, und eine scharfe Blondine schwang sich vom Fahrersitz: Emma. Charlies Freundin …

Emma kam nicht auf das Büro zu, sondern marschierte zielstrebig in Richtung Werkstatthalle und verschwand damit aus Beas Blickfeld. Da konnte sie den Hals noch so verrenken. Aus unerfindlichen Gründen klopfte ihr Herz schneller, und der gewaltige Drang, nachzuschauen, was diese Frau hier wollte, erwachte in ihr. Keine Ahnung, wieso sie derart neugierig war. Weder Emma noch Charlie oder sonst ein Gangmitglied interessierte sie auch nur die Bohne!

»Du willst den alten Ford Pick-up also wieder mitnehmen, Mäuschen?«, fragte Don. Seine Stimme klang samtweich im Vergleich zu vorhin. »An deiner Stelle würd’ ich nach einem neuen Auto schauen. Der macht’s nicht mehr lang.«

»Was anderes ist momentan leider nicht drin.« Bea zuckte mit den Schultern. »Wenn er den Geist aufgibt, muss ich mein Dreirad abstauben.«

Dons Hyänenlachen erfüllte den winzigen Raum. Es war seltsam ansteckend.

Er zog einen verknitterten Lappen aus der Tasche, putzte sich geräuschvoll die Nase und deutete auf den Stuhl, der neben der Tür zur Werkstatt stand. »Setz dich hin. Ich schau, wie weit Scar mit dem Einbau ist.«

Bea runzelte die Stirn, ließ sich auf dem Plastikstuhl nieder und schaute Don nach. Er hatte die Tür einen Spalt offengelassen, weshalb sie einen Teil der Werkstatthalle sehen konnte. Neugierig spähte sie hinein.

Welcher Mensch hieß denn bitte ›Scar‹? Ach ja, der Typ mit der riesigen Narbe im Gesicht wahrscheinlich. Trotz des babyblauen Werkstattoveralls, das gleiche Teil, das Don trug, sah Scar aus wie ein Gothic Punk. Der Eindruck verstärkte sich noch, weil Emma direkt neben ihm stand. Ihre blonde Mähne und die gebräunte Haut waren ein krasser Kontrast zu seinen schwarzen Haaren, dem blassen Gesicht und den hellen Augen, die beinahe zu leuchten schienen.

Don gab ihm einen Klaps auf den Hinterkopf, als er bei den beiden angekommen war. »Du sollst hier nicht rumlabern, sondern arbeiten, du faules Stück. Lässt sich von jedem Rock ablenken, Mannomann …« Er machte eine wischende Handbewegung in Emmas Richtung, dann deutete er auf die Bürotür, weshalb Bea sofort den Kopf einzog. »Warte da drüben, Mäuschen. Ich bring dir gleich das Paket, das Blaze bestellt hat.«

Bea schmunzelte automatisch. Don schien schnell aus der Haut zu fahren, ließ seine Verstimmung aber immer an den Richtigen aus und nie an den ›Mäuschen‹. Moment! Hatte er gerade etwas über Blaze und ein Paket gesagt?

»Entschuldige, Don«, hörte sie Emma sagen. »Ich werde brav im Büro auf dich warten.«

Mist! Bea überschlag die Beine, faltete die Hände im Schoß und versuchte, nicht weiter an die Wörter ›Blaze‹ und ›Paket‹ zu denken. Klappte nicht ganz so gut.

Als Emma durch die Tür trat und Bea entdeckte, blieb sie ruckartig stehen. Sie musterten sich gegenseitig von oben bis unten, und die Blondine machte ein Gesicht, als wäre der Gerichtsvollzieher eben in ihr Haus spaziert.

»Was machst du denn hier?«, wollte sie wissen.

»Hm … Was mache ich in einer Autowerkstatt? Vermutlich lasse ich mir die Haare schneiden, oder?« Bea konnte sich den Sarkasmus nicht verkneifen.

Sobald sie Emma ansah, hatte sie sofort vor Augen, wie Charlie völlig routiniert eine Hand an ihre Hüfte legte und sie küsste. Die Erinnerung wurmte sie. Und dass es sie wurmte, machte sie sauer. Es war ein ewiger Teufelskreis …

Emma gab ein undefinierbares Brummen von sich, ging an ihr vorbei und stellte sich vors Fenster, auf Beas vorigen Platz. Wie damals in der Bar sah sie großartig aus. Der Jeansrock, der am Saum franste, hatte die richtige Länge, um noch nicht nuttig rüberzukommen, die Spitze an dem engen roten Top ließ ihr Outfit verspielter wirken, und die braunen Cowboystiefel gaben ihr einen zarten Hauch Kleinstadtcharme. Ihre blonden Wellen flossen locker und seidig über ihren Rücken, und ihr Gesicht sah von der Seite noch rosiger und die Nase stupsiger aus. Wenn diese Frau nicht der feuchte Traum eines jeden Bikers war … Bea hätte sie am liebsten angeknurrt.

Etwas vibrierte. Das Geräusch kam von Emmas Handy, das sie aus der hinteren Rocktasche zog. Es war eines dieser Klappdinger, die Ganoven in Filmen benutzten. Prepaid wahrscheinlich.

»Hi«, raunte sie ins Telefon und drehte sich augenblicklich von Bea weg. »Ja, ich bin bei Don und hole es ab. Ich komme dann direkt hin.« Sie war einen Moment lang still, vermutlich sprach der Anrufer. »Nein, ich passe gut darauf auf und liefere es sicher ab, versprochen … Okay, bis dann, bye.«

Nachdem sie aufgelegt hatte, schob sie das Telefon zurück in die Rocktasche und schielte abwägend zu Bea hinüber. Sie überlegte wohl, wie viel die andere Frau von dem Gespräch kapiert hatte.

»War das …?«, purzelte aus Beas Mund, bevor sie sich bremsen konnte.

Emma legte den Kopf schief und lächelte sie amüsiert an. Der Blick sollte eindeutig sagen: »Du erwartest nicht wirklich eine Antwort?«

Selbstverständlich war das Charlie am anderen Ende der Leitung gewesen. Es ging schließlich um sein Paket. Gefüllt mit Waffen, Drogen oder Waffen- und Drogengeld.

Bea schüttelte schnaubend den Kopf. Diese Outlaws ließen ihre Frauen gefährliche Botengänge für den MC machen. Im Grunde konnte einem diese Emma leidtun. Wer weiß, was sie noch alles für Charlie und den Club tun musste.

»Da haben wir die wertvolle Fracht, Mäuschen.« Don spazierte mit einem harmlos wirkenden, rechteckigen Karton ins Büro und stellte das braune Päckchen vorsichtig auf dem Schreibtisch ab. Eine Hand ließ er darauf liegen, während er mit der anderen jedes einzelne seiner nächsten Worte unterstrich. »Ganz sachte, klar? B schlachtet uns beide, wenn das Zeug nicht heil bei ihm ankommt.«

»Keine Sorge.« Emma warf Bea einen Seitenblick zu, bevor sie das Paket behutsam anhob und den mageren Automechaniker anlächelte. »Ich mache das nicht zum ersten Mal. Bis später!«

»Bis dann.« Er nickte ihr zu und hob noch einmal mahnend den Finger.

Emma zwinkerte, dann drehte sie sich endlich um und verließ das Büro durch die Vordertür.

Wie automatisch erhob sich Bea von dem unbequemen Plastikstuhl und schaute der Frau nach. Überaus langsam öffnete die Blondine die Beifahrertür des Civic und stellte das Paket auf dem Sitz ab.

»Der Pick-up ist auch fertig, anderes Mäuschen.« Don zog den Autoschlüssel aus seiner Overalltasche und warf ihn Bea zu. »Steht vor dem Werkstatttor.«

Bea blinzelte ihn fragend an. Hatte er gerade ernsthaft ›anderes Mäuschen‹ zu ihr gesagt?

»Ist noch was?«, hakte Don nach, als sie keine Anstalten machte, zu gehen.

»Was schulde ich dir?«

Er winkte ab. »Schon gut.«

»Schon gut? Der Schrotthaufen hat ein Ersatzteil gebraucht und jemand musste es einbauen – wo ich herkomme, ist das nicht kostenlos.«

Don grinste und entblößte damit krumme, gelbe Zähne. »Wo kommst du denn her?«

Bea sog die Unterlippe ein und nickte langsam. »Von hier«, murmelte sie. Der Spruch hatte in New York immer gezogen, wenn sie jemandem klarmachen wollte, dass sie in raueren Gefilden aufgewachsen war und sich nicht so schnell verarschen ließ. In Wolfville musste sie sich etwas anderes einfallen lassen.

»Dann nennen wir es Nachbarschaftshilfe.« Er klopfte ihr auf die Schulter und schob sie gleichzeitig auf die Tür zu.

»Hat das irgendjemand für mich bezahlt, Don? Ich will nämlich keine Almosen, vor allem nicht, wenn sie …«

»Jetzt stell dich nicht an, freu dich lieber, dass du Freunde hast. Ist doch schön, Freunde zu haben.« Er bedachte sie mit einem durchdringenden Blick und tippte mit einem Finger gegen ihr Schlüsselbein. »Freunde braucht man, da, wo du herkommst.«

Damit schob er sie vollends aus dem Büro und schlug die Tür hinter ihr zu.

Bea schnaubte. Was für ein komischer Vogel! Dennoch wurde sie das Gefühl nicht los, dass sie, wenn es hart auf hart kam, auch ihn zur Kategorie ›Freunde‹ zählen konnte. Bei wenigen Leuten in ihrem Leben hatte sie dieses Gefühl bisher gehabt, vor allem nicht so rasch. Wenn sie es auch merkwürdig fand, es fühlte sich schön an. Irgendwie so … sicher.

Sie marschierte zum Pick-up, wobei sie Emma beobachtete, die eben den Motor des Civics gestartet hatte und ihr aus der Windschutzscheibe einen merkwürdig abwägenden Blick zuwarf. Wenig später schaute sie über ihre Schulter, parkte aus und fuhr vom Hof.

Wieso diese Heimlichtuerei? Was – verdammt noch mal – war in diesem beschissenen Paket?

Bevor Bea registrierte, was sie tat, war sie bereits in den Pick-up gesprungen und folgte dem Civic.

Aus diversen Spionagefilmen wusste sie, dass es am unauffälligsten war, wenn sie sich weit hinter ein oder zwei Fahrzeuge zurückfallen ließ. Da Emma die gesamte Zeit über auf der gleichen Straße blieb und kein einziges Mal abbog, verlor Bea sie dabei nicht aus den Augen. An der Ortsgrenze dachte sie schon, der Courtroom sei das Ziel, doch Emma fuhr daran vorbei und verließ die Stadt. Wenig später setzte sie den Blinker und lenkte den Civic in die Einfahrt eines alten Farmhauses, das verlassen mitten in der Pampa stand.

Bea fuhr in angemessenen Tempo weiter, behielt sie aber über den Rückspiegel im Auge. Als genügend Zeit vergangen war, dass Emma ausgestiegen und reingegangen sein konnte, wendete sie den Pick-up und machte sich auf den Weg zurück zum Farmhaus.

Sie parkte den Wagen auf der anderen Straßenseite hinter zwei dicht beieinanderstehenden Teddy Bear Chollas. Die Kakteen vermochten zwar kaum den roten Pick-up zu tarnen, zumal es erst dämmerte, aber wenigstens musste man zwei Mal hinsehen, ehe man ihn bemerkte. Verdammte Wüste! Hier gab es nichts, hinter dem man sich verstecken konnte.

Tief durchatmend schaute Bea zu dem Haus hinüber und ließ den Blick über die Harleys schweifen, die ordentlich davor aufgereiht parkten. Was machte sie hier überhaupt? Sie wusste, dass sie besser zurückfahren sollte, aber ihre Neugier war so unbändig, sie kam nicht dagegen an.

Sie würde nur einen kurzen Blick riskieren, redete sie sich ein. Einfach bloß durchs Fenster spicken und dann wieder verschwinden – da war nichts dabei. Außerdem hätte sie, würde sie den Inhalt des Pakets kennen, einen weiteren Grund, sich von Charlie fernzuhalten. Nicht, dass sie den brauchte … Aber schaden konnte es nicht.

Bevor sie es sich anders überlegen konnte, stieg Bea aus und drückte leise die Fahrertür zu, dann schlich sie über die Straße wie ein Dieb. Wenn jetzt nur einer von denen aus dem Fenster schaute, würde er sie deutlich sehen, das war ihr bewusst, aber das hielt sie nicht auf.

Als sie bei den Bikes angekommen war, ging sie dahinter in Deckung und schaute sich das Haus genauer an: Es war im Stil eines einfachen, einstöckigen Farmhauses gebaut, eine Veranda zog sich um das komplette Gebäude herum, und da stand sogar die typisch klischeehafte Hollywoodschaukel neben der Tür. Das Schindeldach sah neu aus und war bestimmt innen ausgebaut. Das Haus wirkte hübsch und gepflegt, zumindest auf den ersten Blick. Bei näherer Betrachtung erkannte man jedoch, dass die Fenster verspiegelt und die Holzfassade im unteren Drittel mit Stahlplatten verkleidet waren. Komplett zerstört wurde der idyllische Eindruck von den dicken, blutroten Lettern an der Fassade – ›Satan’s Advocates‹ – und der dämonischen Fratze auf der Eingangstür. Obwohl Bea zugeben musste, dass die Malerei zur Abwechslung einmal überraschend filigran und kunstvoll wirkte.

Das war also das Clubhaus der Rocker. Von hier aus leiteten sie ihre illegalen Geschäfte, verkauften Waffen, stellten Crystal Meth her und was auch immer die hier sonst noch trieben. Bea wollte es gar nicht so genau wissen. Sie wunderte sich ernsthaft, warum sie immer noch den Drang verspürte, darauf zu statt davon weg zu laufen.

Vor einigen Tagen war sie zufällig auf eine Dokumentation gestoßen, die von den sogenannten Outlaw Motorcycle Gangs handelte; daher wusste sie, dass Rocker keine Fremden in ihrem Territorium duldeten. Einige Member eines Clubs namens Night Devils hatten ein Kamerateam bei den Aufnahmen aufs derbste beschimpft und bedroht und außerdem Teile des Equipments beschädigt. Das Erschreckende daran war, dass die Polizei direkt daneben gestanden und nicht eingegriffen hatte, als die Fernsehleute fortgejagt wurden.

Die Advocates waren ebenfalls in der Dokumentation erwähnt worden. Kein Wunder, denn immerhin zählten sie zu den größten Motorradclubs weltweit. Sie hatten Chapter, so nannten sie ihre Niederlassungen, in zwanzig US-Bundesstaaten, zehn europäischen Ländern und sogar in Australien. Den Staat Nevada ›teilten‹ sie sich mit ihren On-Off-Feinden, den Los Bribons, einem weiteren international agierenden Motorradclub.

Was die Reporter erzählt hatten, klang, als spielten ein paar Jungs mit Anpassungsproblemen Cowboy und Indianer in einem selbsternannten Königreich. Nur hundert Mal gefährlicher und ohne Rücksicht auf Verluste.

Bea schlich an den glänzenden Harleys entlang und hielt kurz inne, als sie am ersten Bike der Reihe angekommen war. Der Tank war mit Airbrush-Farbe verziert; es war der Dämon in voller Montur zu erkennen, mit Sense und Richterhammer und umgeben von Nebel. Der Farbverlauf war fein, die Konturen derart klar, dass sich das filigrane Motiv wunderschön vom schwarzen Untergrund abhob. Bea konnte nicht anders, als mit den Fingern darüber zu streichen. Allmählich fing sie an, die unterschwellige Schönheit in dem Dämon zu sehen.

Sie schüttelte den Gedanken ab, atmete tief durch und huschte dann geduckt auf die Veranda und zum ersten Fenster neben der Tür. Derjenige, der die Fensterfolie angebracht hatte, war nicht sehr genau gewesen, denn Bea konnte an der Seite durch einen Spalt hindurchlinsen und ins Innere schauen. Der Raum sah aus wie der Schankraum einer Bar – mit Theke, Tischen und Stühlen, einer Couchgarnitur sowie einem Billardtisch und blinkenden Dartautomaten. Machte fast einen gemütlichen Eindruck. Wenn man auf diesen leicht heruntergekommen Rockerlook stand …

Bea konnte zwar nur den linken Teil des Raumes sehen, aber es schien nicht, als befanden sich Charlie und Emma darin. Also duckte sie sich unter das Fenster und schlich weiter ums Haus.

Sie musste in drei andere Fenster spicken, ehe sie fand, was sie suchte. Da das Fenster im hinteren Teil des Hauses einen Spalt aufgeschoben war, kniete sich Bea auf die Veranda, drückte sich an die Wand und linste durch die schmale Öffnung. Da waren sie: Charlie, Emma und das Paket.

Sie standen in einer Art Gästezimmer vor einem breiten Bett, das mit schwarzen Laken bezogen war. Das Möbelstück dominierte den Raum, in dem ansonsten nur eine kleine Kommode und ein alter Fernseher stand. Direkt gegenüber vom Fenster hing ein Poster an der Wand – natürlich war eine halbnackte Frau darauf abgebildet, die sich auf einer Harley räkelte. Bea kam nicht umhin, die Ähnlichkeit zwischen dem Model und Emma festzustellen und hätte am liebsten verächtlich geschnaubt.

Durch den Spalt im Fenster konnte sie zwei Stimmen hören – Charlies ruhigen Bass und Emmas melodisches Raunen – aber sie verstand die Worte nicht. Es musste um das Paket gehen, denn Charlie legte es aufs Bett, zog ein Jagdmesser aus einer Scheide, die an seinem Gürtel hing und schnitt damit das Paketband auf. Beim Öffnen der Lieferung trat ein Leuchten auf sein Gesicht.

Beas Herz schlug schneller. Sie rückte näher ans Fenster und verrenkte sich beinahe den Hals, im Versuch, einen besseren Blickwinkel zu finden. Dennoch sah sie erst, was in dem Paket war, als Charlie es herausnahm. Es war … eine Flasche?

Es war in der Tat eine Flasche mit bernsteinfarbenem Inhalt, auf deren Etikett ›Midleton‹ stand. Die ›wertvolle Fracht‹, das, wofür Charlie ›schlachten‹ würde, wenn es nicht heil bei ihm ankäme, war Whisky? Ernsthaft?

Bea sank gegen die Wand. Ein Barbesitzer hatte sich über einen Bekannten eine wertvolle Flasche Whisky schicken lassen – das war im Staate Nevada nicht illegal, soweit sie wusste. Erst jetzt kam ihr der Gedanke, dass er bei der Werkstatt genauso Ersatzteile für sein Bike hätte bestellen können.

War sie wirklich wie eine Besessene einer Flasche Whisky hinterhergejagt?

Mit einem Mal kam sie sich total albern vor. Höchste Zeit, hier abzuhauen. Bevor Bea sich allerdings erhob, warf sie einen weiteren Blick ins Zimmer. Es war viel zu schön und zu selten, Charlie so ehrlich lächeln zu sehen; sie wollte den Anblick noch etwas in sich aufsaugen. Das war kein Vergleich zu ihrem letzten Aufeinandertreffen, an dem er distanziert und abgelenkt gewesen war. Bea sah seine leuchtenden Augen und die kleinen Grübchen in seinen Wangen und war nicht nur erleichtert, sie erkannte auch, wie sehr sie sich um ihn gesorgt hatte. Sie fragte sich jetzt noch, was mit ihm los gewesen war. Emma wusste es garantiert. Sie war jetzt dafür zuständig, sich um ihn zu sorgen und ihn aufzuheitern.

Die Blondine machte einen Schritt auf den Biker zu. Sie nahm ihm die Flasche ab und legte sie vorsichtig zurück in die Schachtel, bevor sie Charlie liebevoll über die Wange strich und ein paar Worte murmelte. Er langte nach ihrem Handgelenk. Im ersten Moment glaubte Bea, er wollte sie von sich lösen, doch dann zog er sie näher zu sich, vergrub die andere Hand in ihrem Haar und küsste sie. Beinahe so leidenschaftlich und begierig, wie er Bea kürzlich geküsst hatte.

Seine Hand wanderte an Emmas Hintern und – als hätten sie es bereits an die tausend Mal auf diese Weise gemacht – warf Emma die Arme um seinen Nacken und schlang die langen Beine um seine Hüften.

Bea wurde heiß und kalt auf einmal. Ihr Herz raste, und eine Stimme in ihr schrie, dass sie sich umdrehen und wegrennen sollte, aber sie konnte nicht. Etwas in ihr, ein fast übermächtiger Teil, der über sie hinwegschwappte wie eine Flutwelle und sie schwindlig machte, wollte am liebsten das Fenster einschlagen und diese Frau von ihm runterziehen. Sie ballte ihre zitternden Hände zu Fäusten.

Plötzlich wurde sie am Kragen gepackt und hochgezogen. Ein Arm schlang sich um ihren Oberkörper und eine Hand, die nach Rauch und Holz roch, presste sich auf ihren Mund. Bea strampelte, während sie rückwärts mitgeschleift wurde, hatte gegen ihren drahtigen Angreifer jedoch keine Chance.

»Halt’s Maul«, zischte ihr dieser lediglich ins Ohr und zerrte sie weiter.

Bea wurde durch die Vordertür ins Haus geschleift und unsanft auf einen Barhocker verfrachtet. Sie versuchte noch, die Situation zu begreifen, da langte der vollständig tätowierte Mann hinter seinen Rücken und zog eine Pistole hervor. Damit zielte er genau auf ihre Stirn. Bea starrte in den Lauf der Waffe. Er kam ihr riesig vor.

»Jetzt schicken die Arschlöcher schon ihre Weiber zum Spionieren«, brüllte ihr Angreifer.

Für einen Moment war es still – abgesehen von der Rockmusik, die aus den Boxen kreischte. Dann redeten plötzlich ein Dutzend Stimmen durcheinander. Bea verstand kein Wort. Allerdings war sie schwer damit beschäftigt, die Pistole anzustarren, die auf sie gerichtet war.

»Bist du nicht ganz dicht?«, sagte eine volle, rauchige Stimme nah an ihrem Ohr. »Steck die Knarre weg.«

Der Sprecher half nach, indem er die Hände von Beas Angreifer nach unten drückte, sodass der Lauf nicht mehr auf sie zeigte. Dann stellte er sich vor sie und musterte sie eingehend. Er war ein kleiner, dicker Mann mit grauen Locken und einem ebenso grauen Spitzbart am Kinn. Als er sie genügend angeglotzt hatte, verpasste er dem anderen Typen, einem drahtigen Glatzkopf, einen Schlag gegen die Schulter.

»Sieht die für dich aus wie ’ne old Lady?«, maulte der Dicke die Glatze an. »Nie im Leben vögelt die einen dieser Versager, guck dir nur die Klamotten an. Die steht viel eher auf der anderen Seite.«

Bea rollte mit den Augen, bevor sie es verhindern konnte. Sie sollte sich endlich ein paar Jeans zulegen und in diesem staubigen Scheißkaff nicht länger in ihren New Yorker Hosenanzügen herumspazieren. Damit sah sie wohl zwangsläufig wie eine Beamtin aus.

Der Dicke richtete seine kleinen, braunen Augen wieder neugierig auf sie. »Na, was ist, Schätzchen, bist du ein Cop? Eine DEA-Agentin vielleicht? Wahrscheinlich eine von diesen übermotivierten Anfängerinnen, die ihren ersten Fall als Einzelkämpferin lösen wollen, dabei aber draufgehen, statt den Ruhm einzustreichen.« Er lachte kehlig, dann beugte er sich zu Bea vor und legte seine fleischige Hand auf ihren Schenkel. »Wär echt schade um dich. Vorher sollten wir noch ein bisschen Spaß zusammen haben.«

»Nimm deine dreckigen Wurstfinger von mir, bevor ich sie dir abreiße«, sagte Bea sehr viel ruhiger, als ihr zumute war.

Es wirkte. Der Dicke verzog zwar beleidigt die Lippen, wich jedoch augenblicklich zurück.

Bea wusste nicht genau, woher dieser Mut kam. Musste sie nicht eigentlich zu Tode verängstigt sein? Sie schaute sich in dem Halbkreis um, der sich um sie gebildet hatte: Knapp ein dutzend gestandene Kerle in Lederkutten und mit Panzerketten an den Jeans schauten finster auf sie herab; dazu dröhnten aggressive Gitarrenriffs aus den Boxen, die Luft roch nach Rauch und Schnaps, und hinter der Schulter dieses einen Typen konnte sie ein rautenförmiges Schild an der Wand sehen. 1 % stand darauf. Sie kannte dieses Zeichen aus dem Fernsehbericht: Onepercenter waren die Rocker, die sich damit rühmten, einen kompromisslosen und radikalen Lebensstil zu führen – die offiziellen Outlaws. Nicht, dass Bea überrascht war, dieses Symbol hier zu sehen. Sie war nur erstaunt, dass sie trotz alledem keine Angst vor diesen Typen hatte.

»Mach jetzt endlich das Maul auf«, brüllte der Glatzkopf sie an und wedelte mit der Pistole in ihre Richtung. »Hat Sonny dich geschickt? Oder JJ?«

»Habe ich dich nicht vor kurzem im Courtroom gesehen?«, fragte ein anderer, und Bea erkannte sofort den irischen Akzent und seine hübschen, grünen Augen.

»Du spionierst uns schon länger aus?«, fuhr die Glatze sie an und machte einen Schritt auf sie zu. »Oder bist du eine von diesen ekelhaften Reportern?«

»Na, das würde ich sofort glauben«, mischte sich ein anderer ein. »Diese Pressefritzen haben einfach keinen Respekt vor der Privatsphäre anderer Leute.«

Irgendjemand lachte, und dann sprachen wieder alle durcheinander. Bea hätte geantwortet, wirklich, aber es ließ sie ja keiner. Also verschränkte sie die Arme vor der Brust und verfolgte das Schauspiel schweigend.

»Was ist denn hier los, verdammt?«, hörte sie plötzlich eine vertraute Stimme durch alle anderen.

Erst jetzt begann ihr Herz zu rasen, und ihre Handflächen wurden feucht. Mist. Sie hatte gehofft, hier rauszukommen, ohne ihn noch einmal sehen zu müssen.

»Ich hab die da beim Rumschnüffeln erwischt«, sagte die Glatze und deutete mit der Pistole auf Bea. »Ist ums Haus geschlichen und hat durch die Fenster geglotzt.«

Charlie schob sich an den Männern vorbei. Er war eben dabei, in seine Kutte zu schlüpfen, da fiel sein Blick auf Bea. Wie vom Donner gerührt blieb er stehen und ließ die Hände sinken. Er trug nur ein weißes T-Shirt unter der Weste, wodurch die Tätowierung auf der Unterseite seines rechten Unterarms deutlich zu erkennen war: ›J&H of SAW‹ stand in kunstvollen Lettern auf der leicht gebräunten Haut. Nur kurz betrachtete Bea die Buchstaben auf seinem Arm, dann erinnerte sie sich daran, dass er zuvor im Zimmer noch eine Kapuzenjacke getragen hatte und funkelte ihn zornig an. In Charlies Miene war der exakte Moment auszumachen, als ihm augenscheinlich aufging, wobei sie ihn gerade beobachtet hatte. Allerdings wirkte er eher amüsiert statt peinlich berührt.

Bea spürte, wie die Röte in ihr Gesicht stieg. Sie konnte ihn nicht eine Sekunde länger ansehen und riss sich von seinem Anblick los, wodurch sie allerdings Emma bemerkte, die sich das zerzauste Haar mit den Finger glättete. Wieder stieg ein Knurren in ihre Kehle. Bea unterdrückte es gewaltsam und starrte auf den Fußboden.

»Bea?« Charlie klang ernstlich verwirrt, gleichzeitig war ihm deutlich anzuhören, dass er sich das Lachen verkniff. »Wieso … beobachtest du uns durch die Fenster?«

Wenn sie darauf nur eine Antwort wüsste! Das Ganze war ihr derart peinlich, dass sie sich am liebsten in Luft aufgelöst hätte. Dennoch straffte sie die Schultern, hob das Kinn und schaute ihm in die Augen. »Bin ich eure Gefangene oder so was?«

»Natürlich nicht.«

»Gut.« Sie sprang vom Hocker, schob sich an dem Rocker links von ihr vorbei und zwang ihre wackligen Knie vorwärts.

»Hey! Halt! Moment mal!«, erklang es aus verschiedenen Richtungen.

»Ich mach das schon«, erwiderte Charlie mit einem nicht überhörbaren Grinsen in der Stimme und folgte ihr.

So würdevoll wie möglich stürmte Bea aus der Tür und marschierte ohne Umwege auf den Pick-up zu, ohne Charlie weiter zu beachten.

»Jetzt warte doch mal«, rief er ihr hinterher.

Dieser Mistkerl versuchte nicht einmal mehr, sich das Lachen zu verkneifen.

Bea schnaubte, und als er nach ihrem Arm griff, wirbelte sie herum und stieß ihn mit beiden Händen gegen die Brust.

»Lauf mir gefälligst nicht hinterher«, fauchte sie, machte auf dem Absatz kehrt und marschierte weiter.

»Wer von uns ist denn hier der Stalker?« Er gluckste. »Wo rennst du überhaupt hin?«

Ohne ein weiteres Wort überquerte Bea die Straße und fummelte dabei die Wagenschlüssel aus ihrer Hosentasche. Beim Pick-up riss Charlie ihr diese allerdings wieder einmal aus der Hand. Wie machte er das nur?

»Auch noch Profi-Dieb, oder wie?«

»Wieso bist du hergekommen?« Alle Belustigung war aus seiner Miene gewichen, und er bedachte sie mit einem derart durchdringenden Blick, dass sich die Härchen an Beas Armen aufstellten.

Sie reckte das Kinn in die Höhe und streckte ihm die Handfläche hin. »Gib mir die Schlüssel.«

»Ich will wissen, wieso du hier bist.«

»Es ist mir scheißegal, was du willst. Jetzt gib mir die Schlüssel, das ist doch albern.«

»Allerdings.«

Sie starrten sich eine Weile lang finster an und würden das vermutlich bis in alle Ewigkeiten tun, wenn der Klügere nicht endlich nachgab. Bea seufzte.

»Don und deine Freundin haben ein solches Geheimnis um dieses bescheuerte Paket gemacht. Ich wollte wissen, was drin ist. Ja, okay, das war dämlich, aber ich war eben neugierig.«

Charlie verschränkte die Arme vor der Brust und zog die Brauen zusammen. »Du hättest an die Vordertür klopfen und mich fragen können.«

»Als ob du mir ehrlich geantwortet hättest, wenn da Waffen oder Drogen drin gewesen wären.«

»Tja, das werden wir jetzt wohl nie erfahren, was?« Er atmete einmal tief durch, bevor er betont lässig mit den Schultern zuckte. »Seit du hier angekommen bist, hast du mir keine einzige Frage gestellt, Bea. Du hast dir meine Lebensweise ganz allein zusammengedichtet und ausgemalt, und jetzt bist du beleidigt und schockiert wegen deiner eigenen Gedanken.«

Sie holte Luft, schloss den Mund allerdings gleich wieder. Er hatte recht, sie hatte ihn nie gefragt, sondern immer nur verurteilt. Aber war das verwunderlich? Herrgott, sie sah doch, was er war.

»Ich weiß, dass ihr im Drogengeschäft seid«, entgegnete sie schließlich. »Wenn keine in diesem Paket waren, dann eben im nächsten.«

»Und was macht dich da so sicher? Hast du einen meiner Männer dabei erwischt, wie er einen Joint geraucht hat?«

»Dein dicker Kumpel da drin sprach von der DEA.« Bea lächelte siegessicher. »Er hätte fragen können, ob ich ein Cop bin. Oder Bundesagentin. Aber stattdessen wollte er wissen, ob ich der DEA angehöre. Nicht dem ATF wegen Alkohol, Tabak oder Schusswaffen und auch nicht dem FBI wegen irgendwelcher bundesrechtlicher Straftaten, sondern ganz klar der DEA. Er hielt es also für das Wahrscheinlichste, dass euch eine Beamtin der Drogenvollzugsbehörde auskundschaftet. Was sagt uns das?«

Anstatt ertappt auszusehen, formte sich ein Schmunzeln auf seinen Lippen. »Dass Lenny ein alter Vollidiot ist, der die Behörden mit den drei Buchstaben nicht auseinanderhalten kann?«

»Für dich ist das alles ein Witz, oder?« Bea verschränkte ebenfalls die Arme vor der Brust und erwiderte seinen Blick eisern. »Es ist keine Kleinigkeit, wenn die DEA gegen einen ermittelt. Ist es so? Versuchen sie zu beweisen, dass die Advocates eine kriminelle Vereinigung sind? Eine, die nach dem RICO-Gesetz zur Bekämpfung und Verurteilung krimineller Aktivitäten von Vereinigungen des organisierten Verbrechens angeklagt werden kann?«

Sein Grinsen wurde noch breiter. »Hattest du einen Jura-Kurs an deinem affigen Community College oder gehört das zu den Grundlagen allgemeinen Klugscheißens, die jeder Möchtegern-New Yorker draufhaben muss?«

Sie zog eine Grimasse. »Tja, weißt du, ich lese hin und wieder ein Buch. Vielleicht solltest du das mal ausprobieren.«

»Hast du wirklich alles vergessen?« Er lachte auf, doch es klang nicht amüsiert. »Der dumme Rocker vor dir war viel besser in der Schule als du.«

Mist. Das stimmte sogar. »Dein Adoptivvater war schließlich der Rektor.«

»Heißt das, du hast mich damals schon für einen Outlaw gehalten?«

»Wir waren beide Betrüger, Charlie. Wenigstens hat sich einer von uns geändert.«

Er musterte sie so lange stumm, dass ihr ein kalter Schauder über den Rücken glitt. »Vielleicht. Aber derjenige bist nicht du.« Er ging um die Motorhaube herum zur Fahrertür und schwang sich in den Pick-up. »Steig ein.«

»Ich kann selbst fahren. Ich habe nicht getrunken, und ich …«

»Steig jetzt endlich ein.« Damit knallte er die Fahrertür zu, startete den Motor und blendete sie mit den Scheinwerfern.

Brummend ging Bea zur Beifahrerseite, schwang sich in den Wagen und knallte die Tür zu. Kurz darauf fuhr Charlie ohne ein weiteres Wort los.

Unauffällig schielte sie ihn von der Seite an. Sein Kiefer mahlte, und er starrte ohne zu blinzeln auf die Straße. Anscheinend war sie nicht die Einzige, die wütend wurde, wenn sie aufeinandertrafen. Früher hätte jetzt einer von ihnen einen blöden Scherz gemacht, und alles wäre vergessen gewesen. Aber es war nicht mehr wie früher. Sie waren nicht mehr wie früher.

Es war surreal, bei ihm zu sein. Vor ein paar Wochen hätte sie niemals gedacht, dass Carl Hanson sie noch einmal mit dem Auto ihrer Mutter zu ihrem Elternhaus fahren würde. Der Innenraum des Pick-ups wirkte sehr viel kleiner, mit ihm darin.

»Du hast meine Frage nicht beantwortet.« Beas Stimme klang merkwürdig hohl in der Stille. »Wenn ich fragen soll, statt Vermutungen anzustellen, dann musst du mir auch antworten.«

»Ob die DEA gegen uns ermittelt?« Er zuckte mit den Schultern. »Für uns ist eher das ATF zuständig.«

Bea brummte. Konnte der Kerl nicht einmal eine ordentliche Antwort geben? Plötzlich spürte sie seine Finger an ihrem Arm. Er bedachte sie mit einem ernsthaften Blick und sprach überraschenderweise weiter.

»Irgendjemand ermittelt immer, gegen jeden MC. Dass sie Nachforschungen anstellen, heißt aber noch lange nicht, dass sie etwas finden werden.«

»Wieso ist der Glatzkopf dann derart nervös? Er hat mir eine Waffe ins Gesicht gehalten. Das macht man doch nicht einfach so.«

Charlie konzentrierte sich wieder auf die Straße, aber sein Mundwinkel zuckte. »Na, hör mal, Miss Gesetzestreu, du hast vorhin Hausfriedensbruch begangen. Smitty hatte Angst. Es hätte immerhin sein können, du raubst uns aus.«

Bea hob eine Braue, musste sich allerdings ein Schmunzeln verkneifen. »Er hatte Angst, verstehe. Ich bin ja auch ziemlich furchteinflößend.«

»Jemand hat kürzlich den Geräteschuppen neben seinem Haus abgefackelt«, erzählte er. »Du kannst ihm nicht übel nehmen, dass er Leuten, die in der Dämmerung ums Clubhaus streifen, nicht vertraut.«

»Jemand? Wer zündet denn einen Geräteschuppen an?«

»Jugendliche Hooligans?«

»Sicher … Ihr habt schließlich keine Feinde oder so was.«

Er warf ihr einen fragenden Blick zu. »Weißt du mehr als ich?«

»Was ist beispielsweise mit den Typen, mit denen ihr euch vor zwei Wochen gestritten habt?« Sie verschränkte die Arme vor der Brust und beäugte ihn prüfend. »An dem Tag, an dem wir uns wiedergesehen haben. Einer deiner Kumpels war kaum zu bremsen gewesen.«

»Das waren bloß irgendwelche Arschlöcher, die im McFlannagan’s rumhängen. Einer von denen hat Moses’ kleine Schwester betatscht. Das kann er nicht leiden.« Er zuckte unbekümmert mit den Schultern. »Wer kleine Mädchen belästigt, kriegt von den großen Brüdern eins auf die Nase. So läuft es nun mal. Und jetzt erzähl mir nicht, dass das falsch ist.«

Bea runzelte die Stirn. Er sagte die Wahrheit, das erkannte sie an seiner ernsthaften Miene, aber das konnte noch nicht alles gewesen sein.

»Natürlich haben wir manchmal Streit, und wir halten uns nicht immer haargenau an alle Gesetze – wer tut das schon? Du vielleicht?« Er schielte schmunzelnd zu ihr hinüber. »Aber es ist kein solches Drama, wie du es dir ausmalst.«

Er glaubte allem Anschein nach, was er da sagte. War er schon derart verroht, dass er nicht mehr merkte, wie falsch sein Lebensstil war? Wahrscheinlich war man das Gangster-Dasein irgendwann gewohnt und verharmloste es automatisch. Vielleicht aber, sagte eine leise Stimme in Bea, schätzte sie ihn tatsächlich auch nur falsch ein.

Sie schüttelte den Kopf und schaute auf die Straße. Sie war überrascht, dass sie bereits angekommen waren. Charlie lenkte den Pick-up in die Einfahrt, parkte vor der Garage und stellte den Motor ab. Dann zog er den Schlüssel ab und ließ ihn in Beas ausgestreckte Handfläche fallen.

»Ich weiß genau, was ich tue. Und warum«, sagte er und drehte sich im Sitz, damit er sie ansehen konnte. »Was ist mit dir?«

Sie runzelte die Stirn. »Was meinst du?«

»Ich glaube nicht, dass dir klar ist, warum du in dieses Paket schauen wolltest.«

»Und dir schon?«

»Klar.« Er machte eine Wischbewegung vor ihrem Gesicht. »Irgendwo hinter dieser übertriebenen, künstlichen Fake-Bea-Fassade liegt die echte Bea – in Ketten. Sie weiß genau, wer ich bin. Sie vertraut mir. Und deshalb zwingt sie dich dazu, die Augen zu öffnen und richtig hinzusehen.«

Seine raue Stimme strich förmlich über ihren Körper und hinterließ eine Gänsehaut. Bea wusste, wovon er sprach. Sie konnte den eingesperrten Teil in sich deutlich spüren, genauso wie dessen heiße, unbändige Sehnsucht. Dennoch straffte sie die Schultern und bedachte Charlie mit dem kühlsten Blick, den sie zustande brachte.

»Ich habe dir schon einmal gesagt, dass ich nicht mehr das Mädchen von damals bin. Ich bin jetzt erwachsen, stärker, beherrschter. Ich habe mich und mein Leben im Griff. Das hier ist nur eine unbedeutende Zwischenstation – sobald ich alles geregelt habe, verschwinde ich aus diesem Höllenloch mit all seinen dämonischen Bewohnern.« Sie deutete auf die Tätowierung an seinem Unterarm. J&H of SAW. Das musste Judge & Hangman of the Satan’s Advocates Wolfville heißen. Charlie war der Eigentümer und Betreiber des dämonischen Gerichtssaales, sowie Richter und Henker, genau wie der Dämon, den er auf seinem Rücken trug. »Ich will mit all dem nichts zu tun haben, verstehst du? Ich kann keinen Ärger gebrauchen. Ich will meine Zeit so stressfrei wie möglich absitzen.«

Seine Miene war hart und ausdruckslos, seine Augen wie eine Betonmauer. »Klingt, als säßest du im Knast.«

»Das ist es für mich. Ich bin gezwungen, an einem Ort zu sein, den ich hasse und an dem ich nicht sein will, und warte nur darauf, endlich gehen und mein richtiges Leben weiterleben zu können. Ich will Sicherheit, Ruhe und Frieden, einen geregelten Ablauf. Nicht dieses Chaos hier.«

Charlie nickte. »Klingt schnarchlangweilig. Wenn ich mir noch mehr von deinem Lebensplan anhören muss, schlafe ich ein. Alle Menschen wollen raus aus dem Alltagstrott, aber du bist ganz scharf drauf? Bullshit!«

»Wieso rede ich überhaupt mit dir?«

Schnaubend stieg Bea aus dem Wagen und pfefferte die Tür hinter sich zu. Sie hatte erwartet, dass er jemanden anrufen würde, der ihn abholte, stattdessen folgte er ihr bis zur Haustür. Sie steckte den Schlüssel ins Loch, schloss die Tür auf und stellte sich ihm in den Weg, als er dazu ansetzte, hineinzugehen.

»Was, glaubst du, tust du da gerade?«

»Ich muss das Haus überprüfen. An deiner Stelle würde ich mich freiwillig reinlassen.«

Bea blinzelte ihn fragend an. »Wie bitte?«

»Vielleicht bist du tatsächlich nicht mehr das Mädchen von damals, die Bea, die ich kannte. Vielleicht bist du jetzt eine DEA-Agentin und führst von diesem Haus aus eine verdeckte Operation gegen den Club. Wer weiß.« Ein Schmunzeln formte sich auf seinen Lippen. »Ich werde mir das lieber mal ansehen.«

»Das ist nicht dein Ernst?« Sie starrte ihn eine Weile lang ungläubig an, doch er machte keine Anstalten einzulenken. Und da sie ohnehin keine Chance hatte, ihn aufzuhalten, ging sie einen Schritt zur Seite und öffnete die Tür für ihn. »Meine Güte, du kannst einem vielleicht auf den Zeiger gehen, Hanson.«

Erst das Lächeln auf seinen Lippen machte ihr bewusst, was sie da eben gesagt hatte. Früher hatte sie diesen Satz immer liebevoll gemeint. Bei der Erinnerung spürte sie einen Stich im Herzen.

»Kann ich nur zurückgeben, Kramer«, erwiderte er, ehe er an ihr vorbei ins Haus marschierte.

Sie trat ebenfalls ein und hörte sogleich den Fernseher. Sie zog Charlie am Arm zurück, überholte ihn und lugte um die Ecke ins Wohnzimmer. Ihre Mutter saß auf der Couch und zündete sich eine Zigarette an, wobei sie fast nüchtern wirkte. Jedes Mal erschrak Bea an den tiefen Falten, die sich in ihre Haut gruben, und den dunklen Schatten unter ihren Augen. Sie sah mindestens zehn Jahre älter aus, als sie war.

Plötzlich packte Bea eine seltsame Panik. Sie drehte sich zu Charlie um, krallte sich in seinen Arm und legte einen Finger an den Mund.

»Geh in mein Zimmer«, flüsterte sie.

Er blickte sie in einer Mischung aus Verwirrung und Belustigung an und gluckste. »Ernsthaft?«

»Pst!« Sie gab ihm einen Klaps auf die Schulter, dann schob sie ihn auf die Treppe zu. »Jetzt geh!«

Erst nachdem er die oberste Treppenstufe erreicht hatte, fragte sie sich, wieso sie sich gerade wie die sechzehnjährige Bea verhielt. Merkwürdigerweise konnte sie vor einigen Sekunden nur noch daran denken, dass ihre Eltern sie nicht zusammen sehen durften – weil sie es Rektor Brown verraten würden und Charlie dann zu Hause Ärger bekam.

Allmählich hatte sie das Gefühl, ernsthaft bescheuert zu werden.

Seufzend trat sie auf die Schwelle zum Wohnzimmer und lehnte sich an den Türrahmen. »Hi. Müsstest du nicht bei der Arbeit sein?«

Ihre Mutter warf ihr einen finsteren Blick zu. »Kannst du mir sagen, wie ich da hinkommen soll, wenn du das Auto hast und dich sonst wo rumtreibst? Läuft das jetzt genauso wie früher?«

»Oh.« Sofort hatte Bea ein schlechtes Gewissen. Daran hatte sie nicht gedacht. Mist. »Ich wollte nur kurz … Ich war nur …« Ja, was denn gleich?

Ein düsterer Schatten huschte über Rosemarys Gesicht. »Wie lange hast du eigentlich noch vor, hier faul rumzuhängen und mir die Haare vom Kopf zu fressen?«

»Ich fresse dir die Haare vom Kopf? Ich bin die Einzige, die hier ab und zu mal einkaufen geht.«

»Hast du die Stellenanzeigen angeschaut?«

»Ich kann sie auswendig. Und sobald sich nur die kleinste Möglichkeit ergibt, verschwinde ich hier, das kannst du mir glauben. Ich bleibe keine Sekunde länger als nötig in diesem Drecksloch.«

Rosemary zog an ihrer Zigarette und blies langsam den Rauch in die Luft. Mit einem Mal sah sie zufrieden aus. »Bis dahin könntest du dich nützlich machen und das Geschirr abspülen. Wohnst hier schließlich umsonst, undankbares Gör.«

Bea rollte mit den Augen, drehte sich um und ging in den Flur. »Ich leg dir die Schlüssel hin. Bin dann oben.«

Sie ignorierte den Stich in ihrem Herzen und warf die Wagenschlüssel auf die Kommode, ehe sie die Stufen ins Obergeschoss hoch stapfte. Genau genommen war das das herzlichste Gespräch, das sie miteinander geführt hatten, seit Bea wieder in Wolfville war. Sie hatte sogar fast das Gefühl, ihre Mutter interessierte sich für sie. Vielleicht wollte sie tief in ihrem Inneren tatsächlich das Beste für ihre Tochter und stieß sie deshalb von sich.

Bea ging langsam durch den Flur zu ihrem Zimmer. Als sie an der Tür ankam, legte sie eine Hand an die Klinke und atmete tief durch. Es stimmte wohl, was man sagte: Das Verhalten der Eltern prägte und färbte letztendlich auf die Kinder ab. Denn den Menschen dort drin, den einen Mann, der ihr einmal die Welt bedeutet hatte, den hatte sie ebenfalls weggestoßen. Und noch heute stritt sie sich mit Charlie, weil es zu ihrem Besten war. Zu ihrer beidem Besten.

Bea öffnete die Tür und schlüpfte ins Zimmer. Da Charlie mit dem Rücken zu ihr am Schreibtisch stand, fiel ihr Blick als erstes auf die Patches auf seiner Kutte. Der düstere Dämon passte kein bisschen zu ihrem Schulmädchen-Interieur, das hauptsächlich in biederem Weiß mit ein paar Tupfern Türkis gehalten war. Allgemein sah der große Kerl mit den breiten Schultern, den schweren Motorradstiefeln und dem Messer am Gürtel in ihrem blütenreinen und aufgeräumten Zimmer ziemlich fehl am Platz aus.

Als sie die Tür hinter sich zudrückte, drehte er sich zu ihr um und hielt schmunzelnd ein Foto hoch.

»Wieso liegt ein Bild von Gary Epstein auf deinem Schreibtisch?« Er zwinkerte ihr zu. »Standst du auf den kleinen Streber?«

»Was?« Bea ging auf ihn zu und warf einen Blick auf das Foto. »Wo hast du das denn her?«

Er deutete vielsagend auf den Stapel alter Bilder, den Bea beim Aufräumen dort abgelegt hatte. Sie war noch nicht dazugekommen, sie durchzusehen. Oder vielmehr war sie nicht sicher gewesen, ob sie sie überhaupt durchsehen wollte.

»Blödsinn. Das hast du doch hierher mitgebracht.«

»Klar. Weil ich insgeheim immer auf Epstein stand und seit dem ersten High School-Jahr sein Foto im Geldbeutel mit mir rumtrage.«

Bea lachte unwillkürlich. »Das erklärt einiges, Hanson. Wir wussten ja alle, dass der liebe Gary eine Schwäche für Footballspieler hat, aber jetzt wird mir klar, wieso du nie was Festes am Laufen hattest.«

»Das hast du ihm abgenommen? Das hat er den Cheerleadern nur erzählt, damit sie ihn in die Umkleide ließen. Weißt du nicht mehr, wie er Monica Rodriguez befummelt hat, als sie mit ihrem ›schwulen Kumpel‹ eine Hebefigur üben wollte.«

»Stimmt, das hatte ich völlig vergessen.« Bea machte ein angewidertes Geräusch, musste allerdings dennoch kichern. »Dieser gewitzte Mistkerl. Das war fast so clever wie deine Masche mit dem schüchternen Einzelgänger.«

»Hey, das war keine Masche.« Er warf ihr einen tadelnden Blick zu und schüttelte gespielt entrüstet den Kopf. »Ich war harmlos auf der High School, das weißt du doch.«

Bea bemerkte erst, dass sie eine Hand auf seinen Arm gelegt hatte und ihn anlächelte, als der Blick aus seinen silbergrauen Augen ungewöhnlich sanft wurde. Hastig riss sie ihre Finger zurück und räusperte sich, wodurch die Stimmung augenblicklich kippte und der Ausdruck in seinen Augen wieder betonhart wurde.

»Tja, heute wohl nicht mehr«, meinte sie kühl.

»Nein, heute nicht mehr.«

Bea entriss ihm das Foto und warf es auf den Schreibtisch, dann verschränkte sie die Arme vor der Brust. »Also bist du jetzt fertig? Hast du gefunden, wonach du gesucht hast?«

»Nein«, sagte er und beugte sich leicht zu ihr herunter. »Aber ich habe das Gefühl, ich komme der Sache allmählich näher.«

Frustriert warf sie die Arme in die Luft. »Was willst du überhaupt? Kannst du mich nicht in Frieden lassen?«

»Ich habe es versucht, glaub mir. Ich habe durchaus andere Sorgen und Besseres zu tun, als mich mit dir herumzuschlagen. Aber ich kann es nicht.« Er zielte mit dem Zeigefinger auf ihre Nase. »Und du genauso wenig.«

»Was willst du damit sagen?«

»Wieso kommst du in meine Bar? Wieso provozierst du eine Situation, in die ich eingreifen muss? Wieso verfolgst du Emma durch die gesamte Stadt zum Clubhaus? Weil du dich nicht von mir fernhalten kannst.« Charlie machte einen Schritt auf sie zu, packte sie am Arm und schaute ihr so tief in die Augen, dass Bea fröstelte. Er sah aus, als wollte er sie am liebsten schütteln. »Tief in dir weißt du, wer du in Wahrheit bist und wohin du gehörst. Es ist nicht einfach so passiert, dass du zurück gekommen bist. Es musste passieren.«

»Willst du mir etwa was über Schicksal erzählen?« Sie riss sich von ihm los und wich zurück.

»Glaub mir, ich würde mich liebend gern von dir fernhalten, weil du mir mit deinem Gezicke tierisch auf die Eier gehst. Aber ich weiß, dass in dir noch irgendwo das Mädchen steckt, das den ganzen Ärger wert ist.« Schnaubend rubbelte er sich mit einer Hand über die Haare und senkte den Blick für einen Moment zu Boden. »Wie kannst du mich verurteilen? Ausgerechnet du, die mich am besten kennen sollte; die Einzige, die mich überhaupt je verstanden hat. Ich akzeptiere es nicht, dass du zu etwas geworden bist, das wir beide früher gehasst haben. Fuck, du bist nicht diese anstrengende Großstadtzicke.«

Beas Herz raste. Sie versuchte, seine Worte von sich zu schieben. »Weißt du was, das ist keine Beleidigung für mich. Starke Frauen werden oft zu Zicken abgestempelt.«

Er nickte. »Starke Frauen wirken oft zickig, damit hast du vollkommen recht. Aber du bist keine starke Frau. Ein starker Mensch verleugnet sich nämlich nicht. Du sagst, du seist erwachsen geworden, aber lässt dir immer noch von aller Welt dein Leben vorschreiben.« Er machte erneut einen Schritt auf sie zu, was sie unwillkürlich zurückweichen ließ, dann legte er eine Hand auf seine Brust. »Ich bin, was du glaubst, zu sein. Ich bin stark. Ich bin erwachsen. Und weißt du, woran ich das erkenne? Weil ich tue, was ich will. Du dagegen sperrst dich selbst in einen gottverdammten Käfig.«

Seine Worte und die Heftigkeit, mit der er sie aussprach, überraschte sie. Sie wollte nicht darüber nachdenken, was er genau gesagt hatte, aber ihr Herz setzte die Vokabeln von selbst zusammen. Irrte sie sich, oder hatte der sonst so coole Charlie ihr eben in bitterem Ernst zu verstehen gegeben, dass sie zu ihm gehörte? Dass es so bestimmt war? Ihr dummes Herz zersprang beinahe bei dem Gedanken, und sie spürte eine Wärme in ihrer Brust wie seit Jahren nicht mehr.

»Seit wann wirfst du mit deinen Gefühlen um dich? Früher musste ich dich fast zum Reden zwingen.«

»Früher musste ich dich aber nicht zum Zuhören und Hinsehen zwingen«, raunte er. »Außerdem bin ich heute ein freier Mann. Ich sage, was ich denke, und niemand kann etwas dagegen tun.«

Jetzt war es an Bea, den Blick zu senken. Sie rieb sich die Stirn. Sie konnte ihn jetzt nicht ansehen, weil sie sich sonst entweder an ihn klammern oder ihn ohrfeigen würde. Er brachte sie derart durcheinander, dass sie kaum noch wusste, worüber sie überhaupt stritten.

»Hör zu, ich weiß, was ich will. Und das finde ich hier nicht. So einfach ist das.«

Charlie kam noch näher, so nah, dass die Umgebung verschwamm und sie nur noch sein Gesicht sah. Bea konnte nicht weiter zurückweichen, sie spürte bereits das Bett an ihren Waden.

»Du hast dir ein schönes Häuschen im Vorort vorgestellt, dazu einen respektablen Ehemann, zwei Kinder, ein Mädchen und einen Jungen im besten Fall, und einen fröhlichen Beagle, der im Garten tollt«, nahm er an. »Aber ich verrate dir was: Du musst nicht auf diese Weise leben, nur weil irgendjemand irgendwann gesagt hat, dass das das Optimum ist. Willst du wirklich auf irgendwelche Leute hören, die dir sagen, was richtig oder falsch ist, obwohl sie dich nicht kennen? Glaubst du denn wirklich fremden Menschen, die du nicht kennst und die uns nicht kennen, wenn sie sagen, dass jeder, der eine Harley fährt, abgrundtief böse ist? Scheiß auf die Leute und ihre verdammten Statistiken.«

Bea verschränkte die Arme vor der Brust. »Und was ist mit meinem gesunden Menschenverstand? Soll ich auf den ebenfalls scheißen?«

»Ja, scheiß auf deinen Verstand und hör auf dein Herz.» Charlies rechter Mundwinkel hob sich. »Eines würde ich gern wissen: Nach deiner Trennung von diesem Typen, du weißt schon, diesem New Yorker Schickimicki-Anwalt, hast du da geweint?«

»Woher weißt du, dass Jacob Anwalt ist?«

»Ich hatte eine Ahnung, Miss Gesetzestreu. Und jetzt lenk nicht ab. Hast du seine Fotos verbrannt? Einen Spiegel zertrümmert? Irgendwas gefühlt? Oder war es dir schlicht scheißegal, weil du insgeheim schon wusstest, dass die Beziehung früher oder später in die Brüche geht und du von vorneherein keine Gefühle investiert hast?«

Bea schnappte nach Luft, brachte aber keinen Ton heraus. Sie fühlte sich ertappt. Sie war zwar wütend auf Jacob gewesen, weil sie ihn mit einer anderen im Bett erwischt hatte, aber getrauert hatte sie um die Beziehung nicht.

Als hätte er ihre Gedanken gelesen, hob er den zweiten Mundwinkel zu einem sarkastischen Lächeln. »Hast du dich schon einmal gefragt, wieso dieses Häuschen-Garten-Kinder-Ding für dich nicht funktioniert? Du bist nicht der Mensch dafür, und im Grunde weißt du das. Du wirst es auch niemals werden, und wenn du dich noch so anstrengst. Du kannst nicht vor der Frau davonlaufen, die du bist. Sie wird dir überall hin folgen.«

»Danke für diese lebensverändernden Weisheiten, Doktor Freud.« Bea hob trotzig das Kinn. »Können wir die Sitzung damit beenden? Du weißt gar nichts über mich. Also lass mich endlich in Ruhe.«

»Ich lass dich in Ruhe, wenn du mir eine Frage ehrlich beantwortest.« Er lehnte sich noch weiter zu ihr vor und nahm eine ihrer Haarsträhnen zwischen die Finger. »Wieso mache ich dich so wütend? Würde ich falsch liegen, würde ich dich doch kalt lassen.«

»Das tust du auch«, fauchte Bea.

Er strich langsam an ihrer Haarsträhne entlang. Als sie seine Hand wegschlagen wollte, schnappte er sich mit der anderen ihr Handgelenk. Sofort hatte Bea die Szene mit Emma im Gästezimmer vor Augen, und augenblicklich loderte eine sengende Hitze durch ihren Körper. Dieses Mal konnte sie das Knurren nicht unterdrücken.

Wütend riss sie sich von ihm los, nur um ihn kurz darauf regelrecht anzufallen. Sie krallte eine Hand in seinen Nacken, die andere in seinen Arm und presste besitzergreifend ihre Lippen auf seine. Wie selbstverständlich zog sie ihn an sich, so eng, wie es nur ging.

Charlie erwiderte ihren Kuss sofort. Seine Hände wanderten über ihre Taille zu ihrer Hüfte. Mit einem Ruck zog er die Bluse aus ihrer Hose und glitt unter den Stoff, sodass sie seine warmen Finger spüren konnte; so grazil und dennoch männlich rau und stark auf ihrer Haut. Seine Berührungen hallten in Beas tiefstem Inneren nach und erweckten eine ungeahnte Wärme in längst totgeglaubten Regionen ihres Körpers.

Als sie leise stöhnte, schien er das als Aufforderung zu verstehen. Seine Zunge glitt in ihren Mund. Er küsste sie tief und drückte sie mit einer Hand an ihrem Hintern fest an sich. Sie konnte seine Erregung deutlich durch die Jeans spüren. Unwillkürlich schoss die Hitze in ihre Mitte und pulsierte in ihrem Unterleib.

Bea fuhr über das Haar in Charlies Nacken, über die samtige Haut, die sich über die harten, angespannten Muskelstränge an seinen Armen zog. Er fühlte sich so perfekt an unter ihren Fingern, dass es ihr beinahe körperliche Schmerzen bereitete, ihn loszulassen. Sie tat es dennoch, wenn auch nur, um sich aus dem Blazer zu schälen. Gleichzeitig machte sich Charlie an den Knöpfen ihrer Bluse zu schaffen. Er gab das Gefummel allerdings schnell auf und riss ihr das Teil einfach vom Körper. Nur Sekunden später fiel auch ihr BH zu Boden.

Er wollte sie genauso verzweifelt wie sie ihn, das konnte sie an seinem hungrigen Blick sehen. Das Verlangen sprach aus jeder seiner Berührungen, jedem stockenden Atemzug. Sein Anblick ließ Beas Herz rasen.

Mit einem kräftigen Ruck hob er sie an, legte sie auf die Matratze und zog ihr mit einem geschickten Griff die Hose samt Höschen aus. Dann beugte er sich über sie, schob sich mit den Knien zwischen ihre Beine und tastete sie fast spürbar mit seinem Blick ab. Seine Augen verdunkelten sich vor Lust und Erregung. Er küsste sich ihren Bauch entlang bis zu ihrer Brust und saugte sanft ihre Brustwarze zwischen die Lippen. Seine Bartstoppeln kitzelten auf ihrer empfindlichen Haut.

Bea wurde fast wahnsinnig vor Ungeduld. Sie spürte seine Hände an ihrem Körper entlang wandern, seine Lippen ihren Hals hinaufstreichen, aber das war nicht genug. Sie wollte ihm so viel näher sein, ihn mit jeder Faser ihres Körpers spüren. Sie wollte nicht nur, sie musste.

Mit vor Verlangen bebenden Händen löste sie seinen Gürtel, öffnete die Knöpfe seiner Jeans und zerrte ihm die Hose über den Hintern. Dann nahm sie sein Gesicht in die Hände, küsste ihn begierig und drängte sich ihm entgegen. Sie bestand nur noch aus Gefühl und Instinkt. Alles, was zählte, war Charlie, dass er so nah wie möglich bei ihr war, sie nicht losließ.

Bea stöhnte auf, als er mit einem Stoß in sie eindrang. Er schien sie vollständig auszufüllen, und einen Augenblick lang stockte ihr der Atem. Es hatte sich etwas derart Gewaltiges zwischen ihnen angestaut, die Sehnsucht war so übermächtig geworden, dass sie beinahe jetzt schon zum Höhepunkt kam.

Charlie schien sich ebenfalls beherrschen zu müssen. Sein heißer Atem strich über ihren Hals, und er machte ein Geräusch, das tief in seiner Brust vibrierte. Bea war sicher, noch nie etwas Sinnlicheres gehört zu haben.

Er bewegte sich langsam in ihr, vergrub eine Hand in ihrem Haar und legte seine Stirn an ihre. Seine Augen waren geschlossen, seine Miene konzentriert. Er hielt sich zurück. Jedes Mal, wenn Bea stöhnte, keuchte er. Und als sie die Beine um seine Hüften schlang und das Becken anhob, war es offenbar vollends um ihn geschehen.

Aber Bea wollte es auch nicht langsam angehen. Sie wollte, dass er die Beherrschung verlor, wollte seine rohe Leidenschaft spüren. Sie fühlte sich dabei wie zum Leben erwacht.

Er erhöhte sein Tempo, trieb sie an, sodass sie glaubte zu schweben. Es war, als beherrschte er sie und ihre Sinne. Sie vergrub die Nägel in seinen Schultern und warf den Kopf in den Nacken. Seine Muskeln spannten sich unter ihrer Berührung an und zuckten. Er drang härter in sie, und etwas Gewaltiges stieg in ihr auf. Sie stand völlig in Flammen.

Bea konnte den lauten Aufschrei nicht unterdrücken, der Höhepunkt riss sie derart heftig mit sich. Vielleicht war es sein Name, der aus ihrem Mund kam oder schlicht ein undefinierbarer Laut, sie wusste es selbst nicht. Sie war zu sehr mit dem Orkan in ihrem Inneren beschäftigt. Das Gefühl war so heftig, so intensiv, es explodierte in ihr und schwappte wie eine Flutwelle durch ihren Körper.

Charlie schien überall zu sein. Sie spürte ihn, schmeckte ihn, atmete ihn. Und es berauschte sie noch mehr, zu spüren, wie auch er die Kontrolle verlor.

Plötzlich fühlte sich alles ganz weich an. Wie von selbst glitten ihre Beine von seiner Hüfte, jeder Muskel ihres Körpers war warm und entspannt. Ihr Gesicht glühte, ihr Herz pochte gegen ihre Rippen, und für eine Weile konnte sie sich nur aufs Ein- und Ausatmen konzentrieren.

Sie spürte, wie Charlie die Hände zwischen ihren Körper und die Matratze schob. Er drückte sie fest an sich und küsste sanft ihren Hals, ihre Wange. Bea fühlte seinen Herzschlag an ihrer Brust, schnell und stark. Sie legte die Hände auf seinen Rücken, wollte darüber streichen, hielt jedoch inne. Da war Leder unter ihren Fingern. Er trug noch die Kutte, ging ihr in diesem Moment auf. Und dann sprang ihr Verstand wieder an.

Was hatte sie getan? Augenblicklich versteifte sie sich, legte eine Hand an ihre Stirn und stöhnte leise.

»Scheiße«, murmelte sie.

Charlie stützte sich auf die Unterarme und musterte sie fragend und besorgt. »Was ist los?«

»Scheiße«, wiederholte sie, weil ihr kein anderes Wort im Moment derart passend erschien.

Hastig kroch sie unter seinem Arm hindurch zur Seite, schnappte sich die Patchwork-Decke, die neben ihrem Kopfkissen lag und wickelte sie um ihren Körper. Dann zog sie die Beine an die Brust und legte die Stirn auf den Knien ab.

Was hatte sie getan? Hatte sie ihn markiert, wie ein Hund sein Revier? Weil sie es nicht ertragen hatte, ihn mit Emma zu sehen? Da hätte sie genauso gut sein Bike anpinkeln können. Sie war über ihn hergefallen wie ein Tier, verdammt nochmal. Sie hatte noch nicht einmal die Geduld aufgebracht, ihn auszuziehen.

Sie spürte, wie die Matratze nachgab. Er war aufgestanden. Bea hörte, wie er die Hose hochzog und den Gürtel schloss.

Sie fühlte sich schäbig und konnte ihn nicht ansehen. »Ich muss den Verstand verloren haben. Es tut mir wirklich leid.«

Als es still wurde, schielte sie vorsichtig zu ihm auf. Da war er, der gequälte Blick, den sie in früheren Zeiten oft bei dem Schuljungen gesehen hatte. Jedes Mal, wenn das Leben ihn wieder einmal verarscht hatte. Er sah dann aus wie ein geprügelter Hund. Und heute war Bea der Grund dafür.

In ihrer Brust krampfte etwas schmerzhaft zusammen.

»Hasst du mich denn wirklich so sehr?«, fragte er leise.

Bea konnte einen Moment lang nicht atmen, ihr Herz schien entzweizubrechen. »Ich hasse dich nicht. Ich hasse, was du aus mir machst«, antwortete sie schließlich rau.

»Einen leidenschaftlichen, fühlenden Menschen?«

»Eine schwache Frau, die ihre Ideale verrät.«

Er lachte humorlos auf und schüttelte den Kopf. »Ich mache gar nichts aus dir. Bei mir ist nur der einzige Ort, an dem du sein kannst, wer du wirklich bist.« Er senkte den Blick auf den Fußboden, rieb sich über die kurzen, blonden Haare und ließ die Luft in einem Schwall aus seinen Lungen entweichen. »Du solltest deine Koffer packen und verschwinden.« Damit drehte er sich um, verließ ihr Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu.

Bea erzitterte. Unwillkürlich zog sie die Steppdecke enger um sich und rollte sich auf der Matratze zu einer kleinen Kugel zusammen. Verdammt. Was hatte sie bloß angerichtet?

Biker Tales - Gesamtausgabe

Подняться наверх