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Ganz von selbst erhob sich nun die Frage: Wohin? In eine andere Wohnung in Feldkirch? Auf keinen Fall, es sei denn zu Ingrid. Ich hatte keine Lust, den Alten noch einmal nahezukommen. Und da muss ich jetzt einen Gedanken oder vielmehr eine tiefsitzende Sehnsucht erwähnen, die mich seit meiner Flucht aus München verfolgte. In Feldkirch saß ich in gewisser Hinsicht auf dem Trockenen. Ich war ja von den Quellen unserer Wissenschaft abgeschnitten. Es gibt in Vorarlberg keine Universität, keine Fachbibliothek für Altertumswissenschaft. Und da sah ich plötzlich im Dunkel dieses Schlamassels ein schwaches, fernes Lichtlein: Wir bräuchten nur in eine der Universitätsstädte Österreichs zu übersiedeln, vorausgesetzt natürlich, ich bekäme in einem der dortigen Gymnasien eine passende Stelle, und schon würde ich wieder genauso an der Quelle sitzen wie zuvor in München und in Wien. Nun ist die Auswahl in Österreich bei weitem nicht so groß wie bei euch in Deutschland. Ich hatte damals nur die Wahl zwischen Wien, Graz, Salzburg und Innsbruck. Innsbruck kam für mich von vornherein nicht in Frage, und zwar nicht nur, weil dort Lothar zu Hause war, sondern vor allem wegen der Nähe zu Feldkirch, sprich, zu den Alten. Wien? Wäre schön. Aber Hoffnungen machte ich mir keine. Ich wusste von meinem Studium her, wie begehrt die Wiener Dienstposten sind. Blieben also Salzburg und Graz. Als Erstes rief ich beim Landesschulrat für Salzburg an und erhielt die niederschmetternde Auskunft, auf eine Stelle in der Stadt Salzburg zu hoffen sei ein völlig aussichtsloses Unterfangen. Mit denkbar gemischten Gefühlen rief ich hierauf beim Landesschulrat für Steiermark an. Und was bekam ich da zu hören? Eine Stelle für Latein und Englisch sei in Graz für mich ohne weiteres zu haben. Gleich zu Beginn des nächsten Schuljahres könne ich anfangen. Ich möge einfach herkommen und mich vorstellen.

Dies geschah im März des Jahres 1973. Meine nächste Aufgabe war es also, die Alten schonend darauf vorzubereiten, dass sie mich spätestens in einem halben Jahr los sein würden, mich mitsamt ihrem geliebten Töchterlein. Zu meiner Verblüffung erfolgte anfänglich gar keine Reaktion. So schonend fiel mein Akt der Vorbereitung aus. Erst eine Woche später, ja, da war der Groschen endlich gefallen, und sie begannen mich zu bearbeiten, dass und aus welchen schwerwiegenden Gründen es unmöglich und vollkommen ausgeschlossen sei, Feldkirch zu verlassen. Und auch Erikas zwei Brüder wurden auf mich angesetzt, um mich von diesem haarsträubenden Vorhaben abzubringen.

Doch alle Liebesmüh war umsonst. Ich blieb bei meinem einmal gefassten Entschluss, und Erika, Ehre, wem Ehre gebührt, widersprach mir kein einziges Mal. Wahrscheinlich hatte sie die immer noch anhaltende Bevormundung durch ihre Eltern satt. Und zu meiner Überraschung lag sie mir auch nicht in den Ohren, wenn schon, dann wolle sie nach Innsbruck. Hatte sie auch schon ihren Lothar satt? Ich konnte es kaum glauben.

Ingrid hatte mich jedenfalls noch lange nicht satt. Ihre Liebe schien wirklich echt zu sein. Aber sie hieß ja auch nicht Johanna. Und ich nahm mir vor, mich in der uns verbleibenden Zeit ihrer Liebe würdig zu erweisen, auch um den Preis wachsender Eifersucht aufseiten Erikas und wachsenden Grolls aufseiten der Alten.

Ja, ich nahm es mir vor. Aber wie heißt es so richtig? Der Weg zur Hölle, und so weiter. Es kam die Zeit, als die Affäre zur Gewohnheit wurde und ihren Reiz verlor. Wundere dich nicht. Meine damalige Geliebte hieß zwar nicht Johanna. Aber eben auch nicht Irmi. Im Klartext: Es war, auf meiner Seite, keine himmelstürmende und daher unvergängliche Liebe, sondern eine nette Abwechslung, oder sagen wir besser, eine nette Aufbesserung der kärglichen Nahrung, die mir der Liebesgott in meiner Ehe gewährte. Überdies neigte Ingrid dazu, immer fordernder zu werden. Und der Skandal drang mit der Zeit bis zu den Ohren der Patres meiner Klosterschule. Wahrscheinlich hätten sie mich damals wirklich hinausgeworfen, hätte ich nicht angekündigt, mit Ablauf des Schuljahres die Anstalt zu verlassen.

Also begann ich zu Ingrids Leidwesen die Häufigkeit meiner Begegnungen mit ihr zu reduzieren, vor allem in der Öffentlichkeit, und versuchte sie mit der Erklärung zu trösten, in Kürze müsse unsere Liebe ja sowieso enden, und damit der Trennungsschmerz nicht allzu plötzlich und allzu heftig über uns hereinbreche, sei es ratsam, sich langsam darauf einzustellen. Ob das ein sehr wirksamer Trost war, bezweifelte ich schon damals. Tatsächlich bewirkte er das Gegenteil. Ingrid wurde immer untröstlicher und immer leidenschaftlicher und überraschte mich mit immer neuen, mir zum Teil noch unbekannten Variationen der Liebe, womit sie offensichtlich das drohende Ende hinwegzuzaubern versuchte.

Doch wie es das Schicksal oder der Liebesgott persönlich fügte, kam das Ende sogar noch früher als geplant. Als Englischlehrer war ich von einer Organisation für Sprachferien eingeladen worden, im August mit Schülern nach England zu fahren und dort das Unterrichtsprogramm zu leiten. Auch Erika hätte daran teilnehmen und als Erzieherin tätig sein können. Aber das ging nicht. Sie musste zur selben Zeit die inzwischen angemietete Wohnung in Graz einrichten und auf Vordermann bringen. Und aus eben diesem Grund wurde die eigentliche Übersiedlung auf den Juli vorverlegt.

Diese Nachricht stürzte Ingrid in eine schwere Depression. Sie ging so weit, mich als Verräter unserer Liebe zu beschimpfen. Aber dann kam sie wieder zu sich, entschuldigte sich tausendmal und bemühte sich, besonders liebevoll zu sein. Aber das half nichts. Mein „braver Knecht“ ließ sich nicht so schnell beschwichtigen. Er streikte. Und ich redete ihr zu, sie solle sich doch nicht so krampfhaft an mich klammern, sondern versuchen, einen Partner fürs Leben zu finden. Und da gestand sie mir unter Tränen, sie habe stets gehofft, ich würde mich als solcher erweisen; sie sehe ja, wie meine Ehe den Bach hinunterzugehen drohe.

Darin widersprach ich ihr heftig. Mich jemals von Erika scheiden lassen? Dieser Gedanke war mir völlig fremd, ja direkt widerwärtig. Wir führten doch im Grunde eine wunderbare Ehe, sah man von dem einen geheimen Schwachpunkt ab. Aber irgendeinen Schwachpunkt hat wohl jede Ehe.

Dies war zwar alles andere als ein Trost für Ingrid. Aber es wirkte wenigstens, wenn auch mit einiger Verspätung. Sie sprang über ihren Schatten und machte ohne jede Dramatik von sich aus mit mir Schluss, noch ehe ich Feldkirch den Rücken kehrte, und setzte von ihrem Entschluss auch Erika in Kenntnis. Und die schien so erleichtert zu sein, dass sie sich noch am gleichen Abend durchrang, wieder einmal ihre „eheliche Pflichten“ zu erfüllen.

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