Читать книгу Bergretter und fesche Dirndl: Wildbach Bergroman Sammelband 6 Romane - Sandy Palmer - Страница 23
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ОглавлениеJe näher Harlander der Schlammlawine kam, desto unruhiger wurde er. Sein Herz pochte, und er ahnte, dass er mit seinem eigenen Leben spielte, wenn er sich in diese tödliche Masse aus nasser Erde und brüchigem Gestein wagte. Jeden Augenblick konnte der Damm oben bei der Schlucht brechen und mit ungeheurer Wucht ins Tal donnern. Dann gab es keine Rettung mehr für ihn und für die Eltern von Johanne.
Er zögerte nicht, sondern nahm das Wagnis auf sich. Ein Zurück gab es nicht mehr. Zwei Menschen waren in Gefahr. Auf sie lauerte der Tod in seiner heimtückischsten Art. Er durfte nicht dastehen und tatenlos zuschauen.
Der Schlamm war zu einer zähen Masse geworden. Es schmatzte, als er hineinsprang und sich einen Weg durch die erstarrte Mure bahnte. Fast bis über die Knie reichte die klebrige Masse, und er hatte das Gefühl, irgendwelche unsichtbaren Hände versuchten ihn zurückzuhalten.
Der Weg bis zum Haus war nicht weit, doch er glaubte, Ewigkeiten wären vergangen, bis er die Außenmauer erreicht hatte und sich durch ein zerborstenes Fenster ins Innere zog.
»Giefner, hörst du mich?«, rief er laut und schaute zum Hang hinüber. Es war niemand zu sehen. Er war ganz auf sich alleingestellt. Er lauschte, während er versuchte, einen Teil des Schlammes von seiner Hose zu wischen. Zum Glück hatte die zähe Masse die Zimmer in der Parterre noch nicht überflutet. Die Mauern waren stark, aber wenn der Damm brach, würde es den Hof nicht mehr geben. Nicht ihn, nicht die Giefners.
»Hier sind wir«, vernahm er eine weinerliche Stimme. »Hier oben.«
Raphael wusste sofort, dass es Johannes Mutter war, die ihm geantwortet hatte. Sie musste im ersten Stock sein.
So schnell er konnte, hetzte er die Treppe hinauf. Frieda Giefner saß auf dem Boden des kleinen Flurs. Den Kopf ihres Mannes hatte sie in den Schoß gelegt. Ihr Gesicht war tränenüberströmt.
»Er ... er ist einfach zusammengebrochen«, sagte sie schluchzend. »Ich weiß net, was ich tun soll. Bitte, hilf mir und such die Johanne! Sie ist weg.«
»Keine Sorge«, meinte Raphael besänftigend. »Die Johanne ist außer Gefahr. Sie holt gerade Hilfe. Ich hab’ sie zufällig drüben beim Hang getroffen. Sie holt den Vater.«
Er übersah den fassungslosen Ausdruck im Gesicht der Bergbäuerin und kümmerte sich um Sebastian Giefner. Rasch öffnete er das derbe Hemd des Mannes und legte sein Ohr auf dessen Brust. Erleichtert stellte er fest, dass das Herz noch schlug. Der Puls fühlte sich ebenfalls noch kräftig genug an. In der Aufregung hatte er zum Glück keinen Herzinfarkt bekommen. Wenn sich Raphael nicht täuschte, handelt es sich um einen Schwächeanfall.
In dieser dramatischen Situation aber konnte solch eine Schwäche tödliche Folgen haben.
»Rette dich, Bäuerin!«, stieß er aufgeregt hervor. »Rasch, mach, dass du aus dem Haus kommst! Hier bist du net sicher.«
Frieda Giefner starrte ihn ungläubig an, als könne sie nicht glauben, was er gesagt hatte.
»Ich soll aus meinem Haus gehen?«, fragte sie gedehnt, »Ist das dein Ernst, Harlander? Nie und nimmer. Und schon gar net ohne meinen Mann. Das kannst du net von mir verlangen.«
Raphael hatte mit dieser Ablehnung gerechnet.
»Willst du schon sterben?«, fragte er knapp. »Dann kann ich dir auch net helfen. Da oben, keine zwei Steinwürfe von uns entfernt, kommt gleich eine riesige Schlammlawine herunter. Weißt du das überhaupt?«
Die Bäuerin wurde kreidebleich. Ihr Blick hastete von Raphaels zwingenden Blick zum Fenster und wieder zurück auf das bleiche Gesicht ihres bewusstlosen Mannes.
»Bitte, Bäuerin, geh!«, forderte Raphael eindringlich. »Ich kümmere mich um deinen Mann. Aber du musst jetzt erst einmal an dich denken. Und außerdem braucht dich die Johanne.«
Frieda Giefner erhob sich schwerfällig. Ein seltsamer Ausdruck stand in ihren Augen, und für eine Weile war sie gedanklich weit, weit weg.
Er konnte in diesem Augenblick nachempfinden, was diese Frau empfand. In wenigen Minuten würde alles, für das sie gearbeitet hatte, im Schlamm versinken. Wenn kein Wunder geschah, dann verlor sie vielleicht sogar ihren Mann.
»Ich gehe«, erklärte sie tonlos. »Aber was wird aus meinem Sebastian?« Mit Tränen in den Augen betrachtete sie ihn. Sie wusste, dass sie nicht in der Lage war, ihm zu helfen.
»Ich kümmere mich um ihn«, versprach Raphael, obwohl ihm klar war, dass seine Kräfte nicht ausreichen würden, den schweren Mann durch den zähen Schlamm in Sicherheit zu bringen. Er hatte es kaum alleine geschafft, ihn zu überwinden.
Einen Augenblick lang blickte ihn die Frau dankbar, aber auch ein wenig skeptisch an.
»Rasch, raus hier!«, verlangte Raphael und lud sich den bewusstlosen Mann auf die Schulter.
Giefner war schwer, doch er traute es sich zu, ihn eine Weile zu tragen. Die Bäuerin gehorchte ihm und öffnete die Tür. Als sie den kniehohen Schlamm sah, verließ sie der Mut.
»Das kann ich net«, sagte sie konsterniert. »Nein, da komme ich niemals durch.«
»Versuch’s wenigstens!«, keuchte der junge Mann und stellte sich knapp hinter sie, so dass Frieda Giefner nicht zurückweichen konnte.
Sein Blick folgte dem Hang zum Berg hinauf, und es gefror ihm fast das Herz, als er sah, wie der Schlammwall immer höher zu werden schien. Überall ragten zerborstene Stämme wie bizarre Speerspitzen in den Himmel.
Wehe, wenn der Damm in den nächsten Minuten zerbrach und seine ganze Kraft frei wurde. Dann waren sie rettungslos verloren. Mitsamt dem Berghof würden sie in die Tiefe gerissen und vielleicht niemals gefunden.
Widerwillig stapfte die Bäuerin in die graue Masse. Schmatzend schloss er sich um Füße und Beine und gab sie nur widerwillig wieder frei. Sie kamen nur sehr langsam vorwärts. Bereits nach wenigen Metern merkte Raphael, dass das Gewicht des Mannes für ihn zu groß war. Da Sebastian Giefner wie leblos über seiner Schulter hing, war er doppelt schwer.
Die Frau blickte sich um. Sie hörte sein Schnaufen und Keuchen und ahnte, dass er mit seinen Kräften am Ende war. Als ob gierige Hände im Sumpf nach ihnen griffen und sie in die Tiefe zu zerren versuchten, wurden ihre Schritte immer langsamer.
Sehnsüchtig starrte Raphael nach vorne. Der Schweiß perlte von seiner Stirn und in die Augen. Es brannte fürchterlich, doch er hatte nicht einmal die Möglichkeit, sich von dieser Pein zu befreien.
Wo nur blieben Johanne und der Vater?
Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen. Dabei hätten sie längst oben am Hang auftauchen müssen.
Für einen kurzen Augenblick keimte ein böser Verdachten ihm auf, den er jedoch sofort wieder verwarf. Nein, er konnte es sich nicht vorstellen, dass Knut Harlander in größter Not seine Hilfe versagte. Dazu war er nicht fähig, obwohl er der sturste Mensch war, den Raphael kannte.
Oder etwa doch? War der Hass so groß, dass er selbst seinen einzigen Sohn dafür opfern würde.
Er erhielt keine Antwort. Stattdessen gab es plötzlich einen berstenden Knall, ein zweiter folgte. Danach füllte sich die Luft mit einem dumpfen Grollen und Rauschen.
Raphael standen die Haare zu Berge, als er unwillkürlich nach rechts schaute.
»Schneller!«, schrie er Frieda Giefner zu. »Schneller!«
Die Frau hatte die Gefahr ebenfalls erkannt. In ihrer Angst kreischte sie wie von Sinnen, verlor das Gleichwicht und fiel nach vorne. Über und über mit klebrigem Schlamm verdreckt kam sie wieder auf die Beine, während zwei Steinwürfe weiter oberhalb am Hang das Inferno losbrach.
Mit einem peitschenden Krachen zerbarst der bizarre Damm aus niedergerissenen Tannen, Wurzelwerk und Felsgestein an der Bergflankenseite. Fauchend drückte sich das gischende Wasser des Wildbaches durch den Spalt, der rasch größer wurde. Die Schlammassen ergossen sich, ohne dass irgendetwas sie hätte aufhalten können, in die vom Wasser des Baches tief in den Fels gefressene Schlucht und donnerte zu Tal.
Nur die Tatsache, dass der westliche Teil des Dammes dem gewaltigen Druck des Wassers noch standhielt, verhinderte die Katastrophe und totale Vernichtung des Berghofs.
Aber die Gefahr war noch nicht gebannt. Ein Teil des Wassers wurde abgelenkt und kam den Hang herunter. Nur wenige Sekunden vergingen, und sie bekamen das eiskalte Wasser zu spüren. Sprudelnd weichte es den Schlamm auf und spülte Wurzelwerk und Tannenäste mit sich.
Raphael merkte, wie ihm durch die unmenschliche Kraftanstrengung sehr schwindelig wurde. Seine Knie wurden weich, und nur noch wie durch einen Schleier sah er, dass es die Bäuerin endlich geschafft hatte, sich aus dem Schlamm zu befreien.
Er jedoch musste einen Augenblick stehenbleiben. Es brannte wie Feuer in seinem Hals. In diesem Moment wäre er nicht in der Lage gewesen, auch nur einen Schritt weiterzugehen.
Das Krachen und Rauschen über und hinter ihm ließ nicht nach. Immer noch wälzten sich gewaltige Schlamm- und Geröllmassen Richtung Tal.
Da sah er zwei Gestalten den Hang unterhalb des Waldes heranlaufen. Er erkannte sofort, wer es war.
Johanne und sein Vater.
Das war der Augenblick, in dem er zu wanken begann und nicht mehr wusste, wie lange er durchhalten würde. Langsam entglitt der ohnmächtige Giefner seinen Armen.
»Halt durch, Bub!«, vernahm er die Stimme seines Vaters. »Ich komm, Bub.«
Wenig später sah er, wie Knut Harlander mit einem großen Satz in den Schlamm sprang. Mit aller Macht bahnte er sich, ohne Rücksicht auf sein eigenes Leben, einen Weg durch den Morast zu seinem Sohn. Nur einmal blickte er zu den Schlammassen hinauf, die jeden Moment auf sie niederstürzen konnten. Er zögerte nicht, sondern verstärkte seine Anstrengungen.
Endlich hatte er Raphael erreicht und packte fest zu. Mit einer Leichtigkeit, die man dem kleinen, korpulenten Mann nicht zugetraut hatte, nahm er ihm die menschliche Last ab.
»Ganz ruhig, Bub«, machte er Raphael Mut, obwohl er sah, dass er sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. »Nur noch ein paar Meter. Komm, halt dich an mir fest! Gemeinsam schaffen wir es schon!«
Der junge Mann nickte hastig. Er biss auf die Zähne und mobilisierte seine letzten Reserven. Keine zehn Meter von ihm entfernt wartete seine große Liebe, während zu seiner Rechten der Tod auf eine Chance lauerte.
»Wach auf, Giefner!«, knurrte Knut Harlander. »Ein bisserl könntest du schon mithelfen, anstatt dich tragen zu lassen.«
Raphael wusste, dass es nicht böse gemeint war. Sein Vater machte sich nur selbst Mut, denn das drohende Verderben zerrte an den Nerven, während sie sich durch die Schlammassen wälzten.
Dann endlich war es geschafft.
Mit vereinten Kräften liefen sie den Hang hinauf, bis sie sich in absoluter Sicherheit befanden.
Während sie Sebastian Giefner auf Raphaels Jacke betteten, damit er nicht im nassen Gras liegen musste, tauchte Helga Harlander mit Decken und einer Thermoskanne heißen Tee und einer Flasche Enzian auf. Entsetzt sah sie, wie es stand. Doch aller Schrecken wich, als sie feststellte, dass alle zwar voller Dreck, aber sonst unversehrt waren. Nur Raphael machte einen völlig erschöpften Eindruck. Auch Sebastian Giefner war noch nicht aus seiner Ohnmacht erwacht.
»Oh, mein Gott«, murmelte sie, als sie den Schlammdamm erblickte. Sie schauderte. Ihr Magen verkrampfte sich, wenn sie daran dachte, dass sich Raphael dieser Gefahr ausgesetzt hatte, um die Giefners aus ihrem Gefängnis zu befreien.
Wieder erscholl ein bestialisches Krachen, dass jedem durch die Glieder fuhr. Johanne schrie entsetzt auf, während Frieda Giefner kreidebleich wurde. Die Harlanders saßen stumm im Gras und schauten fassungslos zu, wie der linke Teil der von Stämmen, Geäst und Wurzelwerk gestoppten Geröllflut wieder ins Rollen kam.
Der Hof der Giefners war dem Tode geweiht. Keine Mauer konnte dieser Wucht widerstehen. Die Schlammmassen würden das Haus dem Erdboden gleichmachen und unter sich begraben, so dass kein Stein auf dem anderen blieb.
Johanne klammerte sich an Raphaels Arm fest und weinte. Zitternd wartete sie auf das Unabwendbare. Er strich ihr über das nasse Haar und suchte nach beruhigenden Worten. Er wusste, dass alles, was er sagen wollte, eigentlich sinnlos war. Johanne musste miterleben, wie ihr Geburts- und Elternhaus ein Raub der Berge wurde.
Aber das Wunder geschah.
Der Mittelteil des Dammes brach seitlich weg und wurde in die Tiefe gerissen. Das nachströmende Wasser hatte sich plötzlich einen anderen Weg gewählt.
»Es fließt ab, es fließt ab!«, keuchte Raphael, der die veränderte Situation als Erster erkannt hatte. »Der Schlamm wird in die Schlucht gedrückt.«
Heftig drückt er Johanne an sich und vergaß für einen Moment die Schwäche, die sich in jede Faser seiner Muskeln eingenistet hatte.
Die junge Frau konnte es zuerst nicht fassen. Eben noch war scheinbar alles verloren gewesen, nun hatte Gott offenbar ein Einsehen. Auch Knut und Helga Harlander schienen die Meinung ihres Sohnes zu teilen. Sie lächelten erleichtert und lagen sich ebenfalls in den Armen.
So sehr sich Frieda jedoch freuen wollte und glücklich war, dass ihr Heim erhalten geblieben war, so betrübt war sie über den Zustand ihres Mannes. Sebastian Giefner lag kreidebleich im Gras und rührte sich nicht. Sein Atem war regelmäßig, doch er erwachte nicht aus seiner Ohnmacht.
Knut Harlander bemerkte die Sorge der verzweifelten Frau. Seine Stirn legte sich in tiefe Falten, als er sich über den kahlen Kopf mit dem grauen Haarkranz strich. Das tat er immer, wenn er überlegte.
»Gib mir mal die Enzianflasche, Frau!«, verlangte er und kniete sich neben dem Bewusstlosen nieder. Vorsichtig nahm er dessen Handgelenk und fühlte seinen Puls.
»Du willst ihm doch wohl net deinen Selbstgebrannten zu trinken geben?«, fragte Frieda Giefner entsetzt. Brummend schaute der Bergbauer auf.
»Bildet euch nix ein auf euren Enzian, Giefnerin«, meinte er ernst. »Mein Schnaps ist besser als eurer. Außerdem weckt er Tote auf.«
Ohne weiter darauf zu achten, was die anderen denken mochten, öffnete er die Flasche und flößte Sebastian Giefner ein paar Tropfen zwischen die halboffenen Lippen. Beim dritten Versuch hatte er Erfolg. Sebastian Giefner begann zu husten und schlug die Augen auf. Sein abwesender Blick zeigte, dass er noch nicht voll bei Bewusstsein war.
»Ich bin’s, Sebastian«, sagte die Bäuerin, die neben ihm kniete und strich ihm über die Stirn. »Wie geht’s dir?«
Die wohlvertraute Stimme schien den Bergbauern endgültig in die Realität zurückzuholen.
Entgeistert starrte er Knut Harlander an, der ihn halb im Arm hielt. Die Flasche hielt er dicht vor sein Gesicht und wartete geduldig.
»Du?«, fragte Giefner ungläubig. In seiner Stimme klang so etwas wie Abscheu mit. Sein Blick wanderte zu seiner Frau, die jedoch schwieg.
»Ja, ich«, erwiderte sein Gegenüber kühl. »Am besten ist’s, du hältst erst einmal dein Maul, damit du wieder auf die Beine kommst. Los, trink noch ein Schluckerl!«
Giefner wehrte sich mit einer abfälligen Geste.
»Deinen Fusel kann man doch net trinken«, knurrte er angriffslustig.
»Besaufen sollst du dich ja auch net«, bemerkte Harlander. »Aber ist ja auch Wurscht. Hauptsache, es hat dich wieder geweckt.«
»Tote hätte es geweckt, Harlander. So schlecht ist dein Enzian. Potzteufel! Das darf ...«
»Wie ihr seht, hat sich nix geändert.« Es war Raphael, der dies leise vor sich hingemurmelt hatte. Er war enttäuscht. Nichts schien die beiden Streithähne versöhnen zu können. Selbst im Angesicht des Todes schienen sie sich spinnefeind. Besonders der alte Giefner zeigte sich streitlustig wie eh und je.
Die ganze Zeit über hatten sich die beiden Verliebten und Helga Harlander zurückgehalten und atemlos abgewartet, wie sich die Lage entwickeln würde.
Giefner blickte zur Seite, und sein Blick verfinsterte sich zusehends, als er die anderen Harlanders entdeckte. Er wollte etwas entgegnen und sich erheben, als Johanne weinend zu schimpfen begann.
»Gibst du denn nie Ruhe, Vater?«, schrie sie außer sich. »Der Raphael und sein Vater haben dir das Leben gerettet, und du murrst nur herum. Ist das dein Dank dafür, dass sich keiner gescheut hat, euch vom Hof zu holen, der jeden Moment hätte fortgerissen werden können? Schäm’ dich! Das wird dir der Herrgott net verzeihen, Vater!«
Weinend warf sie sich in die Arme der betrübt dreinschauenden Mutter. Frieda Giefner dachte ähnlich. Häufig suchte sie Helga Harlanders Blick. Sie zuckte nur hilflos mit den Schultern, da sie auch kein Mittel gegen die Sturheit ihres Mannes wusste.
Die leidenschaftlich gesprochenen Worte seiner Tochter ließen Giefner zusammenzucken. Erst jetzt schien ihm wieder einzufallen, warum er überhaupt im feuchten Gras auf dem Boden lag. Er stemmte sich hoch, obwohl ihm sofort wieder schwindelig wurde.
»Dein Haus ist noch da«, bemerkte Knut Harlander und half ihm auf die Beine. »Du hast Glück gehabt, Giefner. Die Schlammlawine ist durch die Schlucht abgeflossen und hat kaum Schaden angerichtet. Nur wirst du morgen ein bisserl Dreck schaufeln müssen. Die erste Welle hat aus deinem Hof einen Schlammsee gemacht.«
Der Bergbauer betrachtete das Plateau vor der Schlucht des Wildbaches und atmete tief ein. Der Schaden hielt sich in Grenzen. Das Haus schien unbeschädigt.
Er schaute sich um. Sein Blick traf den jungen Harlander, der ihm nicht auswich.
»Und du hast die Frieda und mich aus diesem Dreck rausgeholt?«, fragte er verwirrt.
Raphael nickte, doch er sprach kein Wort.
»Ich dank’ dir schön. Das hätt’ ich net gedacht, dass mich einmal ein Harlander retten würde. Vergelt’s dir Gott, Bub! Das werd’ ich dir net vergessen.«
Er wollte auf Raphael zugehen und ihm die Hand reichen, doch ihm wurde wieder schwindelig. Als er zu wanken begann, stützte ihn sein ärgster Feind, als sei es selbstverständlich.
»Komm, trink noch einen Schluck!«, verlangte Knut Harlander. »Es ist zwar ein Teufelszeug gegen deinen Schnaps, doch es weckt die Lebensgeister.«
Giefner krauste die Stirn, musterte den Inhalt der bauchigen Flasche wie eine Giftmixtur und grinste breit.
»Wenn du meinst«, sagte er und setzte die Flasche an die Lippen. Er nahm einen kleinen Schluck und reichte sie prustend zurück.
»Ich glaub’, ich muss dir demnächst einmal zeigen, wie’s richtig geht«, bemerkte er.
Knut Harlander nickte, und ein Blick zu Frau und Sohn zeigte ihm, dass die beiden diesen Vorschlag ebenso gedeutet hatten wie er. Auch über Johannes Gesicht huschte ein glückliches Lächeln, während Frieda Giefner immer noch ein bisschen skeptisch schien.
»Wie wäre es mit einer kräftigen Brotzeit, Giefner?«, fragte Harlander unumwunden. »Ein ordentliches Brot und ein Schinken bringen dich rasch wieder auf die Beine.«
»Warum net«, erwiderte der Bergbauer. »Dann lass uns zu euch ins Haus gehen.«
»Stütz dich auf, Giefner!«, schlug ihm Harlander ein. »Es ist noch ein Stückerl Weg bis herauf zum Hof. Aber gemeinsam werden wir’s schon schaffen, oder meinst du net?«
»Wo du recht hast, da hast du recht«, stimmte der Bergbauer zu. »Komm, Frieda! Hilf mir ein bisserl! Wenn ich ehrlich bin, wackeln mir ganz schön die Knie.«
Für Johanne waren diese Worte wie etwas aus einer fernen Welt. Sie konnte es einfach nicht fassen, was sie hörte und sah. Die beiden ärgsten Feinde im ganzen Tal standen Arm in Arm nebeneinander, als seien sie die besten Freunde.
Ihre Mutter schaute kurz zu ihr herüber, als sie etwas zurückblieb, während sie ihrem Mann unter die Arme griff. Sie zwinkerte ihr zu.
»Bringt ihr bitte die Decken mit!«, sagte sie.
Johanne nickte, und während die Eheleute langsam den Hang hinaufgingen, blieben sie und Raphael noch eine Weile zurück. Ohne Hast packte sie die Sachen zusammen. Ihr Liebster half ihr.
Als keiner mehr in Sicht war, hielt sie mit der Arbeit inne. Sekunden später lagen sie sich voller Glück in den Armen. Ihre Küsse ließen allen Kummer und allen Schmerz vergessen.
Sie beide brauchten keine Worte, um sich zu sagen, was zu sagen war. Ihre Blicke waren klar und rein genug, um ihre Liebe und ihre Sehnsucht, auszudrücken.
Heute hatte es das Schicksal sehr gut mit ihnen gemeint, und sie wussten, das sie ein glückliches Leben Seite an Seite verbringen würden. Ein Leben, wie sie es sich immer gewünscht und ersehnt hatten.
ENDE