Читать книгу Bergretter und fesche Dirndl: Wildbach Bergroman Sammelband 6 Romane - Sandy Palmer - Страница 8

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Das Prasseln des Regens wurde immer stärker. Schon nach Sekunden war Johanne Giefner bis auf die Haut durchnässt. Der Wind peitschte ihr das Wasser ins Gesicht und nahm ihr die Sicht. Mit aller Kraft stemmte sich die junge Frau gegen den heulenden Sturm, der das Unwetter über das Gebirge und die tiefen Schluchten und Täler jagte. Sie fror erbärmlich, und die Angst in ihrem Herzen wurde übermächtig. Noch nie im Leben hatte sie sich derart allein und hilflos gefühlt.

Sie war zu einem Spielball der Naturgewalten geworden und wusste nicht, wie sie sich schützen sollte. Rücksichtslos tobte um sie herum eines der schlimmsten Gewitter der letzten Monate.

Ein gleißender Blitz zuckte über den pechschwarzen Himmel. Nur für den Bruchteil einer Sekunde riss er die majestätischen Grate des »Falkenecks« aus der Anonymität der Dunkelheit.

Johanne schrie unterdrückt auf. Für kurze Zeit war sie geblendet und hielt in ihrem Kampf gegen Sturm und Regen inne. Langsam verließen sie die Kräfte.

Ein krachender Donner, dessen Echo sich tausendfach in den Schluchten zu wiederholen schien, steigerte ihre Furcht. Gewaltsam musste sie die Tränen unterdrücken und hetzte weiter. Nirgendwo gab es einen Unterschlupf. Der Weg zum Berghof ihrer Eltern war steil und steinig. Nicht einmal eine überdachte Heukrippe für das Wild im Winter gab es, in deren Schutz sie sich hätte verkriechen können.

Johanne blieb erneut stehen. In ihren Lungen brannte es wie Feuer. Sie wusste, dass sie nicht mehr lange durchhalten würde. Ihre Knie zitterten vor Schwäche. Bis nach Hause war es noch ein langer Weg. Sie würde es niemals schaffen, denn das Unwetter schien immer schlimmer zu werden. Sie hatte nur noch eine einzige Chance, diesen Urgewalten zu entgehen und vielleicht das Opfer eines einschlagenden Blitzes zu werden. Wenn sie die Almwiese zwischen dem Heiner Joch und dem Fichtenwald überquerte, setzte sie sich auf jeden Fall der Lebensgefahr aus. Wahrscheinlich würde sie den Vater und die Mutter dann nie mehr wiedersehen.

Als sie den Kreuzweg unterhalb des Jochs erreicht hatte, stand ihr Entschluss fest. Nur eins konnte sie retten. Sie musste versuchen, den Hof der Harlanders zu erreichen. Nur so konnte sie dem Gewitter entkommen.

In höchster Not vergaß sie den Zwist zwischen Knut Harlander und ihrem Vater. Seit Jahren waren sich die beiden eigenwilligen Männer nicht wohlgesonnen.

Johanne torkelte weiter.

Wieder raste ein Blitz über den Himmel. Im gleichen Augenblick ließ ein ohrenbetäubender Knall die junge Frau zusammenzucken. Es klang, als ob die Welt aus den Fugen geraten wäre.

Da sah Johanne, was geschehen war.

Auf der höchsten Spitze der »Zinne«, einem bizarren Bergmassiv im Nordwesten, stand das Gipfelkreuz in hellen Flammen. Selbst durch die Regenschleier konnte man sehen, dass das hölzerne Gebilde lichterloh brannte.

Johanne Giefner bekreuzigte sich und rannte weiter. Die Furcht wurde übermächtig.

Ging die Welt unter? Hatte sich Gott von ihnen abgewandt und beschlossen, die Welt, die er geschaffen hatte, wieder zu vernichten?

Die gottesfürchtige Frau wischte sich über das Gesicht. Der Regen perlte aus den Haaren und über ihr Gesicht und verschleierte ihren Blick. Wie durch einen Schleier sah sie plötzlich zwei helle Lichter in greifbarer Nähe. Das mussten die Fenster des Harlanderhofs sein.

Johanne Giefner schöpfte neuen Mut, obwohl das Inferno um sie herum tobte. Blitz und Donner wechselten sich fast unaufhaltsam und scheinbar mit immer größerer Kraft ab.

Schritt für Schritt kämpfte sie gegen den Sturm an, dessen Böen ihr oftmals den Atem nahmen. Der eisige Wind peitschte ihr so brutal ins Gesicht, dass es schmerzte.

Langsam, als würde sich alles um sie herum in Zeitlupe bewegen, kam sie dem Bergbauernhof näher. Längst war der steile Weg dorthin zu einer Morastmasse geworden, die an ihren Schuhen klebte.

Endlich war es geschafft. Mit letzter Kraft stieg sie die drei Stufen zur überdachten Haustür hinauf. Eine Sturmbö packte sie und schleuderte sie gegen das Haus. Ein stechender Schmerz durchzuckte ihre Schulter, als sie gegen die Tür prallte. Sie schrie auf und konnte die Tränen nicht zurückhalten, so weh tat es.

Ihre Ankunft war nicht unentdeckt geblieben, obwohl das Heulen des Sturmes und das Krachen des Donners ringsum alles zu übertönen schien. Eine kräftige Frau mit ernstem Blick öffnete die Tür. Sie erschrak, als sie Johanne erkannte.

»Um Gottes willen, Kind«, rief sie entsetzt. »Wie kommst du hierher?«

Statt auf eine Antwort zu warten, packte sie die junge Frau am Oberarm und zog sie ins Haus. Sie musste alle Kraft benutzen, um die Tür wieder zu schließen. Der Sturm versuchte alles, um es mit seinen Böen zu verhindern.

»Ja, Herrschaftszeit’n«, donnerte eine mürrische Stimme. »Warum reißt du bei diesem Wetter die Tür auf?«

Knut Harlander war gerade in diesem Moment in den Hausflur getreten. Der Wind furchte durch sein lichtes Haar und zerrte an seiner Jacke.

Johanne und er standen sich von einer Sekunde zur anderen Auge in Auge.

Seit vielen Jahren waren die Giefners und die Harlanders Nachbarn, aber alles andere als Freunde. Seit einem Zwist ihrer Väter vor mehr als vierzig Jahren würdigten sich besonders die Männer keines Blickes.

»Du?«, fragte Knut Harlander mürrisch und stemmte die Fäuste in die Seite. Die steilen Falten zwischen seinen Augen wurden noch tiefer. »Was treibst du dich bei einem solchen Sauwetter in der Gegend rum?«

Helga Harlander schob sich zwischen ihren Mann und die junge Frau, die völlig außer Atem war.

»Schluss jetzt!«, herrschte sie ihren Mann an. »Siehst du net, wie erschöpft das Madl ist, Knut? Hol lieber ein paar Decken, bevor sich die Johanne den Tod holt. Es ist ja völlig durchnässt, das arme Ding.«

Brummend trollte sich der Hausherr und knurrte etwas in sich hinein. Seiner resoluten Frau zu widersprechen, hatte keinen Sinn. Das bedeutete nur Streit.

»So, meine Kleine«, bestimmte Helga Harlander mütterlich und brachte Johanne in die warme Küche. »Jetzt hockst du dich erst einmal an den Ofen und wärmst dich auf. Ich schau rasch nach, ob ich etwas Trockenes für dich finde.«

Zitternd bedankte sich die junge Frau und ließ sich auf der Ofenbank nieder. Erst jetzt spürte sie, wie erschöpft und am Ende ihrer Kraft sie war.

Die Hausherrin kramte in einer Truhe, die in der Ecke neben einem alten Schrank stand. Wenig später legte sie frische Sachen neben Johanne.

»Die Hose und der Pullover werden zwar etwas groß sein, doch ich denke, es wird für den Notfall gehen«, bemerkte sie und machte sich daran, Johannes Haare mit einem Frottiertuch trockenzureiben.

Die Tür wurde geöffnet, und Knut Harlander trat ein. Wortlos legte er die Decke auf einen der Stühle und verließ das Zimmer ohne jeden Gruß.

»Mach dir nix draus!«, beruhigte.Helga Harlander lächelnd. »Er ist halt ein griesgrämiger Bursch, der Knut. Aber er meint’s net so. Komm, zieh die nassen Sachen aus! Ich mach dir inzwischen einen heißen Tee mit Honig. Das wird dich wieder auf die Beine bringen.«

Sie machte sich sofort an die Arbeit und setzte heißes Wasser auf den schmiedeeisernen Herd, der neben dem Kachelofen das ganze Zimmer beherrschte. Johanne zögerte noch ein Weilchen. Sie fühlte sich verunsichert. Jeden Moment konnte Harlander zurückkehren. Sie wagte nicht, sich auszuziehen.

Helga Harlander spürte, was in der jungen Frau vor sich ging und schaute sich um.

»Geh dort in die kleine Kammer!«, schlug sie vor. »Da kannst du dich ohne Scheu umziehen.«

Johanne bedankte sich. Zwei Minuten später saß sie wieder mit dem Rücken am warmen Kachelofen. Langsam fühlte sie sich wohler. Die Kälte wich aus ihrem Körper.

»Das war ganz schön leichtsinnig, bei einem solchen Wetter draußen zu sein«, meinte die Hausherrin und reichte ihr eine heiße Tasse Tee. »Du hättest tot sein können.«

Johanne nickte.

»Als ich in Hallgau war, hab’ ich mich mit der Flamminger Erna verplaudert«, gestand sie. »Als das Wetter losbrach, war ich schon unten am Krähenhang und wollt’ net mehr zurück. Ich dacht’, ich würde es noch bis zum Vater und zur Mutter schaffen.«

Helga Harlander lächelte gütig und ermunterte sie, den Tee zu trinken.

Die Tür öffnete sich wieder. Johanne hielt inne und fürchtete, Knut Harlander könne zurückkommen, um seine üble Laune an ihr auszulassen. Sie wusste nur zu gut, wie verbohrt und stur er war. Besonders, wenn es um einen Giefner ging. Darin bildete sie keine Ausnahme.

Sie sah sich getäuscht.

Der Mann, der auftauchte und ihr ein freundliches Lächeln entgegenschickte, war jung und kräftig. Das braune Haar trug er zurückgekämmt.

»Raphael«, staunte Johanne. »Du bist hier?«

»Er ist erst vor zwei Tagen angekommen«, erklärte Helga Harlander. »Bisher hat er sich nur Zeit genommen, mit dem Vater zu streiten.«

»Aber Mutter«, meinte der junge Mann mahnend und reichte Johanne die Hand. Sie ergriff sie und merkte, wie ihr Herz ein wenig schneller zu schlagen begann. »Wie geht’s dir?«

»Gut«, sagte sie, obwohl ihr noch die Knie zitterten. »Bist du hier im Urlaub?«

»Eigentlich nicht«, erwiderte Raphael bestens gelaunt. Er hatte sich neben die junge Frau gesetzt. »In nächster Zeit werde ich wohl öfters vorbeischauen.« Ohne Scheu schaute er ihr ins Gesicht. Er machte keinen Hehl daraus, wie sympathisch er sie fand.

Es war ein paar Jahre her, seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten. Früher hatten sie gemeinsam die Schulbank in Hallgau gedrückt und fast täglich den gleichen Weg ins Tal zurückgelegt. Dann war Raphael nach Berlingen aufs Gymnasium und später nach München auf die Universität gegangen. Dadurch hatten sie sich fast aus den Augen verloren.

Das alles war schon lange her. Tief in ihrer Seele aber hatte Johanne ihn immer gemocht und sich später sogar in ihn verliebt. Niemals jedoch hatte sie einer einzigen Menschenseele davon erzählt. Der Zwist zwischen den beiden Höfen war zu schlimm und ihre Schüchternheit zu groß gewesen, um sich von irgendjemand ins Herz schauen zu lassen.

»Wie lange haben wir uns net mehr gesehen?«, fragte Raphael.

»Vier Jahre und zwei Monate.« Viel zu schnell kam die Antwort über ihre Lippen, um nicht auffallend zu sein. Sie merkte, wie sie errötete. In diesem Augenblick fühlte sie sich wie entblößt. Garantiert hatte Raphael gemerkt, dass sie ihn noch immer sehr mochte. Daran hatte sich in all den Jahren nichts geändert.

»Du hast ein gutes Gedächtnis«, meinte der junge Mann lächelnd und ignorierte, dass Johanne den Blick senkte. Etwas Seltsames berührte ihn. In seinem Gehirn begann es zu arbeiten. Das ehemals kleine Mädchen mit den Sommersprossen und den blonden Zöpfen war eine sehr schöne Frau geworden. Das feuchte und zerzauste Haar und die viel zu große Kleidung konnten nicht darüber hinwegtäuschen.

Johanne fühlte sich verunsichert. Rasch fragte sie, wie es ihm in den letzten Jahren ergangen sei und was er in beruflicher Hinsicht machte.

»Ich bin bei einer Münchner Firma als Vermessungstechniker angestellt«, erzählte er. »In einer Woche muss ich rüber nach Bernstein, wo in zwei Jahren die Straße zwischen Sonnenberg und Krähenhorst durchführen soll. Du hast bestimmt davon gehört.«

Johanne nickte, und Helga Harlander wurde ernst. Sie beide kannten dieses Thema nur zu gut. Der Bauer schimpfte bei jeder Gelegenheit über die Verschandelung des Tales.

»Und wie lange bleibst du?«, fragte Johanne.

»Oh, das kann man nicht so genau sagen. Vielleicht drei oder vier Wochen. Aber danach habe ich noch weitere Monate in der Gegend zu tun. Vielleicht aber suche ich mir auch einen neuen Job in der Gegend. Wenn ich ehrlich bin, habe ich ein bisserl Heimweh gehabt.«

Die junge Frau konnte ein glückliches Lächeln nicht vollkommen verhindern. Raphaels Worte taten ihr gut. Seine Stimme klang noch melodischer als früher. In den Jahren weit weg von zu Hause war er gereift. Sie musste sich eingestehen, dass er ihr noch viel besser gefiel als früher. Von ihm ging etwas Ruhiges und Besonnenes aus. In seinen Augen lagen Offenheit und Ehrlichkeit.

Johanne fand, dass er ganz anders als die Burschen in den Dörfern ringsum war. Ihm fehlte diese Aufdringlichkeit, die mancher schon in seinem Blick hatte.

»Du und Heimweh?«, fragte sie. »Das kann ich mir gar net vorstellen. Du wolltest doch immer raus in die große Welt.«

»Wie wäre es mit einem Brot oder einem Teller Suppe?«, mischte sich Helga Harlander ein. »Gebrauchen könnt ihr’s beide.«

Johanne schüttelte den Kopf. Irgendetwas hielt sie davon ab, die Einladung anzunehmen.

War es Knut, der seit Jahren mit ihrem Vater in Streit lag oder Raphaels Nähe? Sie wusste es nicht. Zu verwirrt war sie. Plötzlich schien alles in ihr aufgewühlt zu sein.

Draußen heulte der Sturm, doch er hatte bereits seine Kraft verloren. Das Prasseln des Regens gegen die Fenster war vor ein paar Minuten verstummt. Letzte Tropfen perlten daran herab, und es wurde auch heller. Noch vor ein paar Minuten hatte man geglaubt, es sei Nacht. Nun aber riss die schwarze Wolkendecke im Westen auf. Das Unwetter zog endlich ab.

»Ich dank’ dir schön, Harlanderin, doch ich muss heim«, erklärte sie und erhob sich. »Die Mutter wird sich schon Sorgen um mich machen. Länger will ich sie net ängstigen.«

Die Bäuerin nickte verstehend. Rasch packte sie Johannes feuchtnasse Sachen in einen Leinenbeutel und reichte ihn ihr. In der kurzen Zeit war es nicht gelungen, sie auf dem Kachelofen zu trocknen.

»Ich werd’ dich begleiten«, erklärte Raphael wie selbstverständlich.

Johanne erschrak. Im ersten Moment wollte sie etwas Heftiges entgegnen, doch sie tat es nicht.

Der junge Mann sah ihren verstörten Blick.

»Oder magst du net?«, wollte er wissen. »Bitt schön, ich wollt’ mich wirklich net aufdrängen, aber ich dacht’, dass es doch besser ist, denn ...«

»Nein, nein«, unterbrach ihn Johanne. »Es war net so gemeint. Tut mir leid, aber ich bin noch ein bisserl durcheinander.«

Raphael strahlte über das ganze Gesicht und half ihr in eine Jacke, die seine Mutter ebenfalls für Johanne aus der Truhe gesucht hatte.

»Aber vergiss net, zum Nachtessen zurück zu sein«, sagte die resolute Frau. »Sonst essen der Vater und ich alleine.«

Ihr Sohn versprach es, während sich Johanne herzlich von der Hausherrin verabschiedete und sich mehrere Male bedankte.

»Ist schon recht, Kindl«, sagte Helga Harlander. »Sputet euch! Net, dass das Unwetter zurückkehrt und euch überrascht. Und grüß mir die Mutter recht schön!« Diesmal klang ihre Stimme wesentlich leiser, so dass nur Johanne es verstehen konnte.

Die beiden jungen Leute verließen den einsam gelegenen Hof. Das Anwesen der Giefners lag weiter westlich nahe der engen Falkeneckschlucht, durch die der Bach ins Tal stürzte. Es würde etwa noch eine halbe Stunde dauern, bis sie das höhergelegene Haus mit seinen Stallungen erreichten.

»Um Gottes willen«, stöhnte Johanne, als sie ins Freie traten und den morastigen Pfad zum Kreuzweg hinuntergingen.

Der Sturm, der jetzt nur noch mit heftigen Böen über Berg und Tal raste, hatte seine Kraft zwar verloren, doch eine Bresche voller Zerstörung geschaffen. Viele Tannen und Fichten hatten das Gewitter mit all seiner Macht nicht heil überstanden. Viele waren entwurzelt oder die Stämme auf bizarre Art und Weise regelrecht zerfetzt. Überall lagen abgerissene Äste und glänzten riesige Pfützen im Morast, der einmal ein Weg gewesen war.

»Lass uns über die Wiese und durch den Lärchenwald gehen«, schlug Raphael vor. »Da wird’s net ganz so voller Schlamm sein.«

Johanne war einverstanden. Das rasche Pochen ihres Herzens wollte einfach nicht nachlassen. Immer, wenn sie den jungen Mann anschaute, spürte sie ein eigenartiges Gefühl, das ihr nicht geheuer war. Es war alles ganz anders als früher. Vertrauter, voller Wärme und Nähe, als sei er nie fort gewesen.

Sie wusste selbst nicht, warum sie gerade in diesem Moment an ihren Vater denken musste. An ihn und den ewig scheinenden Streit mit Knut Harlander.

Ohne Hast machten sie sich auf den Weg nach Westen. Die Wiese war zwar triefend nass, doch es störte sie nicht sonderlich. Hauptsache, der Regen hätte aufgehört.

»Schau dort!«, rief Raphael plötzlich. Zufällig hatte er sich umgedreht. Das Grollen und grelle Blitzen im Osten geschah in immer größeren Abständen. Nur noch der schwarze Himmel, dessen finstere Wolken über dem doppelten Felsmassiv der »Zwei Schwestern« stand, hatte noch etwas Bedrohendes an sich. Johanne blieb unwillkürlich stehen, als sie sah, was ihr Begleiter meinte.

Ein gewaltiger Regenbogen spannte sich über den Himmel von Norden nach Süden. Wie eine buntbemalte Brücke erstrahlte er in allen Farben.

»Wunderschön«, flüsterte Johanne. Sie konnte ihren Blick von diesem, herrlichen Naturschauspiel nicht mehr lösen. Selten hatte sie einen solch wunderbaren Lichtbogen in den Bergen gesehen.

Die Zeit verging. Sie wussten hinterher beide nicht mehr, wie lange sie mitten auf der Wiese gestanden und nach Osten geblickt hatten.

Endlich rissen sie sich los, als der Farbbogen seine intensiven Farben verlor und immer mehr verblasste. Nach einer Viertelstunde erreichten sie den lichten Lärchenwald. Sie wählten einen schmalen Wildwechsel als Weg. Die zahllosen Nadeln der Bäume hatten das viele Regenwasser ohne Schwierigkeiten aufgesaugt und durchsickern lassen. Von den Ästen fielen noch schwere Tropfen, die dunkle Flecken auf den warmen Jacken hinterließen. Trotzdem störten sie die beiden kaum.

»Da wären wir«, meine Raphael, als sie den Wald nördlich des Wildbachs verließen. Nun lag der Hof der Giefners zum Greifen nahe unmittelbar an der tiefen Schlucht, durch die der Bach dem Tal zustrebte. Schon von weitem sah man feinen Wasserdunst aufsteigen. Der Bergbach war durch den heftigen Regen zu einem tosenden Ungeheuer geworden.

Raphael wollte weitergehen. Johanne aber hielt ihn am Oberarm zurück.

»Was ist los?«, fragte der junge Mann überrascht.

»Bitt schön, sei mir net böse, Raphael«, flehte sie, »aber du weißt ja, dass die Väter sich nicht mögen.«

Raphael war nicht dumm. Er verstand sofort, dass sich Johanne ängstigte, man könne sie zusammen sehen. Auf keinen fall wollte er, dass sie Ärger bekam. Er lächelte und legte sanft seine Hände auf ihre Schultern.

»Keine Sorge«, meinte er sanft. »Du hast ja recht. Die beiden Grantier sollen keine Gelegenheit bekommen, sich wieder aufzuregen und alle durcheinanderzubringen. Ist schon recht, Johanne. Ich wünsch dir noch einen schönen Abend.«

»Ich dir auch«, erwiderte sie und schluckte.

Warum fragt er nichts?, flüsterte ihre innere Stimme. Lass ihn net einfach gehen! Nimm endlich deinen Mut zusammen und frag ihn, bevor er davongeht!

Während sie noch innerlich mit sich kämpfte und gegen ihre Schüchternheit rang, kam er ihr zuvor.

»Darf ich dich morgen wiedersehen?«

Über Johannes Rücken rieselte ein wohliger Schauer. Diese Frage hatte sie sich sehnlichst gewünscht. Jetzt, da sie ausgesprochen war, machte sie ihr aber auch Angst.

»Ich ... ich weiß net«, entgegnete sie unsicher.

Raphael zeigte sich keinesfalls enttäuscht oder bestürzt.

»Aber die Väter müssen es doch net wissen«, meinte er schmunzelnd. »Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg, sagt man. Also, seh’ ich dich wieder? Ich hätt’ dir noch so viel zu erzählen, was ich alles in München erlebt habe. Oder willst mir gar einen Korb geben? Hast vielleicht einen Freund?«

Johanne schüttelte den Kopf.

»Nein, das ist’s net«, sagte sie hastig. »Aber wie gesagt, wird der Vater gewiss mit mir schimpfen. Ach, was soll’s! Ich muss morgen rauf zum Fernauer Wirt und ihm ein paar Flaschen Selbstgebrannten bringen, die der Vater ihm versprochen hat. Wenn du magst, können wir gemeinsam rauf zum Berggasthof gehen.«

Raphael lächelte. Er war einverstanden und glücklich, dass Johanne zugesagt hatte. Für wenige Augenblicke war in ihm der Verdacht aufgekeimt, dass sie ihn würde abblitzen lassen.

»Und wann willst du losgehen?«

»Um acht Uhr!«

Raphael nickte zustimmend.

»Dann bis morgen in der Früh?«

»Ja«, bestätigte sie. »Um acht Uhr bin ich oben beim Kreuz, wo vor zwanzig Jahren der Pritzner Hans mit seinem Sohn in die Schlucht gestürzt ist. Da warte ich auf dich.«

»Ich werd’ vor dir dasein«, versprach Raphael. Er streckte die Rechte aus. Sie nahm sie und drückte sie. Danach aber machte er keine Anstalten, sie loszulassen.

»Ich muss mich sputen!«

Der junge Mann nickte verstehend. Alles in ihm forderte ihn auf, die hübsche Frau einfach in die Arme zu nehmen und zu küssen. Etwas aber warnte ihn, derart dreist vorzugehen.

»Bis morgen«, erwiderte er leise.

Johanne ging, und sie drehte sich mehrere Male um, um ihm zu winken. Erst, als sie den Felshang erreicht hatte und umrundete, verlor er sie aus den Augen. Es tröstete ihn nicht, dass er sie in wenigen Stunden wiedersehen würde. Und noch weniger ahnte er, wie enttäuscht Johanne war, dass er sie nicht geküsst hatte. Aber morgen war auch noch ein Tag.

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