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|3|Kapitel 1 Langefeld

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Wir schreiben das Jahr 1957. „Es klingelt an der Tür meiner Wohnung in Frankfurt“, berichtet Grete Buber-Neumann, einstige Gefangene in Ravensbrück. „Ich öffne. Eine alte Frau, der die Zähne im Unterkiefer fehlen, steht schwer atmend vor mir und stammelt: ‚Kennen sie mich denn nicht mehr?! Ich bin doch Johanna Langefeld, die ehemalige Oberaufseherin von Ravensbrück!‘ … Vierzehn Jahre vor dieser Begegnung hatte ich die Langefeld das letztemal gesehen, und zwar in ihrem Dienstzimmer im KZ Ravensbrück, wo ich als Häftlingssekretärin tätig war.“ Sie konnte zu Gott beten und um Kraft flehen, Böses zu verhindern. Aber wenn eine Jüdin in Langefelds Büro kam, war sie von Hass erfüllt.

„Dann sitzt sie mir, einem ehemaligen Häftling des Konzentrationslagers, am Tisch gegenüber. Sie spricht viele Stunden lang, … bedauerte, nicht als Mann geboren zu sein, … findet sich nicht mehr zurecht in den Jahren, versucht, ihre Haltung in Ravensbrück zu erklären, redet von Himmler, den sie manchmal noch ‚Reichsführer‘ nennt.“1

∗∗∗

Anfang Mai 1939 tauchte ein kleiner Lastwagenkonvoi zwischen den Bäumen auf, an einer Lichtung nahe dem winzigen Dorf Ravensbrück, tief in den Wäldern Mecklenburgs. Die Lkw fuhren weiter, an einem See vorbei, wo ihre Räder durchzudrehen begannen und die Achsen im nassen Sand versanken. Ein Teil der Besatzung sprang herab, um die Fahrzeuge auszugraben, während andere Kisten entluden. Auch eine Frau in Uniform – graue Jacke und grauer Rock – sprang herunter. Ihre Füße versanken im Sand, sie stapfte einige Schritte den Hang hinauf und schaute sich um. Gefällte Bäume lagen neben dem schimmernden See. Die Luft roch nach Sägemehl. Es war heiß, nirgends gab es Schatten. Zu ihrer Rechten, am fernen |4|Ufer lag die kleine Stadt Fürstenberg. Bootshäuser säumten den Strand. Eine Kirchturmspitze war zu sehen.

Auf der anderen Seite des Sees, zu ihrer Linken, erhob sich drohend eine gewaltige graue Mauer von fast fünf Metern Höhe. Am Ende des Waldwegs, links des Geländes, ragten turmhohe, eisenvergitterte Tore auf. Dort standen Schilder mit dem Hinweis „Das Betreten ist verboten!“.2 Die Frau – von mittlerer Größe, untersetzt, mit lockigem braunen Haar – schritt zielstrebig auf die Tore zu.

Johanna Langefeld war mit einer kleinen Vorhut von Aufsehern und Häftlingen gekommen, um Ausrüstung herbeizuschaffen und sich auf dem Gelände des neuen Frauenkonzentrationslagers umzusehen. Das Lager sollte in wenigen Tagen in Betrieb genommen werden und Langefeld war zur Oberaufseherin bestimmt worden. Sie hatte in ihrem Leben schon viele Strafanstalten für Frauen kennengelernt, aber niemals zuvor einen Ort wie diesen.

Im vorangegangenen Jahr hatte Langefeld als leitende Aufseherin im KZ Lichtenburg gearbeitet, einer mittelalterlichen Festung nahe Torgau an der Elbe. Während Ravensbrück sich im Bau befand, war Lichtenburg zeitweilig zum Lager für Frauen umfunktioniert worden. Seine bröckelnden Kammern und feuchten Verliese waren jedoch eng und sie schadeten der Gesundheit. Für weibliche Gefangene waren sie ungeeignet. Ravensbrück dagegen war ein zweckorientierter Neubau. Das Gelände umfasste etwa 2500 Quadratmeter, war damit groß genug für die ersten tausend Frauen, die erwartet wurden, und hielt noch weiteren Platz bereit. Langefeld schritt durch das eiserne Tor hindurch und umrundete den sandigen Appellplatz. Von der Größe eines Fußballfeldes bot dieser genügend Raum, um das gesamte Lager auf einmal antreten zu lassen. Lautsprecher hingen an Masten über Langefelds Kopf, vorerst aber hörte man nur, wie Nägel eingeschlagen wurden. Die Mauern versperrten jegliche Sicht nach draußen und ließen nur den Blick in den Himmel frei.

Anders als in den Männerlagern gab es in Ravensbrück entlang der Mauern keine Wachtürme und keine Maschinengewehre. Doch bis oben auf die Umfassungsmauer verlief elektrisch geladener Stacheldraht und Schilder mit Totenköpfen warnten vor Hochspannung. Nur jenseits der südlichen Mauern, rechts von Langefeld, stieg der Erdboden so weit an, dass man einige Baumwipfel auf einem Hügel erspähen konnte.

Klotzige graue Baracken dominierten den Komplex. Die hölzernen Blöcke, die ein Raster bildeten, waren eingeschossig mit kleinen Fenstern. Sie schlossen sich plump an den Appellplatz an. Zwei Reihen von identischen Blöcken – allerdings ein wenig größer – waren zu beiden Seiten der Lagerstraße angelegt.

|5|Langefeld inspizierte die Baracken, eine nach der anderen. Direkt hinter dem Tor befand sich die mit frisch gescheuerten Stühlen und Tischen ausgestattete SS-Kantine. Zur Linken des Appellplatzes lag das Revier, eine militärische Bezeichnung für Lazarett oder Krankenstation. Sie überquerte den Platz und betrat das Häftlingsbad, in dem Dutzende von Duschköpfen montiert waren. Auf einer Seite des Raumes türmten sich Kisten mit gestreifter Baumwollkleidung und an einem Tisch waren einige Frauen damit beschäftigt, stapelweise farbige Stoffdreiecke, sogenannte Winkel, bereitzulegen.

Neben dem Häftlingsbad, unter demselben Dach, befand sich die Lagerküche, in der riesige Stahltöpfe und Kessel blinkten. Im nächsten Gebäude, der Effektenkammer, lagerte die Kleidung der Gefangenen, große braune Papiertüten waren auf einem Tisch aufgehäuft. An diese schloss sich die Wäscherei mit ihren sechs Waschzentrifugen an – Langefeld hätte davon gerne noch mehr gehabt.

Nicht weit entfernt wurde eine Voliere errichtet, zur Unterhaltung der SS. Heinrich Himmler, Reichsführer der SS, wollte, dass seine Lager so autark wie möglich waren. Es sollte einen Hühnerstall und Gemüsegarten, ebenso wie einen Obst- und einen Blumengarten geben, und Kaninchenställe, um Angorawolle für Uniformen zu liefern. Stachelbeersträucher, die man aus den Gärten von Lichtenburg ausgegraben und auf die Lkw verfrachtet hatte, wurden hier bereits wieder eingepflanzt. Überdies hatte man die Latrineninhalte von Lichtenburg als Dünger nach Ravensbrück gebracht. Himmler hielt seine Lager auch dazu an, ihre Ressourcen zu teilen. Da Ravensbrück keine eigenen Backöfen hatte, musste das Brot täglich geliefert werden, aus Sachsenhausen, dem 60 Kilometer südlich gelegenen Männerkonzentrationslager.

Die Oberaufseherin ging mit großen Schritten die Lagerstraße hinunter, die auf der anderen Seite des Appellplatzes begann und in den hinteren Teil des Lagers führte. Die Wohnbaracken waren am Ende der Lagerstraße angelegt und präzise durchgegliedert, sodass die Fenster des einen Blocks auf die Rückwand des nächsten wiesen. Sie würden den Gefangenen als Behausung dienen, acht auf jeder Seite der „Straße“. Rote Blumen – Salvien – waren vor dem ersten Block gepflanzt worden. Zwischen den übrigen standen in regelmäßigen Abständen junge Lindensetzlinge.

Wie alle Konzentrationslager war auch Ravensbrück rasterförmig angelegt, vor allem, um sicherzustellen, dass man die Häftlinge immer im Blick behielt und somit weniger Aufseher benötigte.3 Hier waren 55 Aufseherinnen und eine Truppe von 40 SS-Männern zugeteilt, alle unter dem Oberkommando von Hauptsturmführer Max Koegel.

Johanna Langefeld war der Meinung, dass sie ein Konzentrationslager für Frauen besser leiten könnte als jeder Mann und vor allem besser als Max |6|Koegel, dessen Methoden sie verachtete. Für Himmler jedoch stand fest, dass Ravensbrück generell nach den gleichen Richtlinien geführt werden sollte wie die Lager für Männer, was bedeutete, dass Langefeld und ihre Aufseherinnen einem SS-Kommandanten unterstellt waren.

Auf dem Papier hatten weder sie noch irgendeine ihrer Aufseherinnen einen offiziellen Status. Die Frauen waren den Männern nicht nur untergeordnet, sie hatten auch keinen Dienstgrad oder Rang und waren lediglich SS-Angestellte. Die meisten von ihnen waren unbewaffnet, auch wenn die im Freien wachhabenden Posten Pistolen trugen und oftmals Hunde bei sich hatten. Himmler glaubte, Frauen hätten mehr Angst vor Hunden als Männer.

Nichtsdestotrotz sollte Koegels Autorität hier nicht uneingeschränkt sein. Er war zunächst nur kommissarischer Kommandant und gewisse Befugnisse blieben ihm verwehrt. Zum Beispiel gab es kein Lagergefängnis oder „Bunker“, um Unruhestifter einzusperren, wie in jedem anderen KZ. Außerdem konnte er keine „offiziellen“ Prügelstrafen anordnen. Verärgert über diese Einschränkungen, schrieb er an seine SS-Vorgesetzten und forderte erweiterte Befugnisse zur Bestrafung der Gefangenen; seine Forderung wurde jedoch abgewiesen.

Langefeld hingegen, die mehr an Drill und Disziplin als an Prügelstrafen glaubte, war mit dieser Regelung zufrieden, vor allem, weil sie sich hinsichtlich der täglichen Abläufe wichtige Konzessionen gesichert hatte. Im umfangreichen Regelwerk des Lagers, der Lagerordnung, war vermerkt, dass die Oberaufseherin den Schutzhaftlagerführer in „weiblichen Fragen“ beraten sollte, auch wenn diese nicht näher definiert waren.4

Langefeld betrat eine der Wohnbaracken und sah sich um. Wie so vieles andere hier waren die Schlafgelegenheiten neu für sie. Es gab weder gemeinsame Zellen noch Schlafsäle, wie sie es gewohnt war, sondern in jedem Block sollten mehr als 150 Frauen schlafen. Das Innere der Blöcke war identisch angeordnet: jeweils zwei große Schlafräume – A und B – auf beiden Seiten eines Waschbereichs mit einer Reihe von zwölf Waschbecken, mehreren Fußwannen und einzelnen Latrinen, dazu ein gemeinsamer Aufenthaltsraum, in dem die Frauen ihre Mahlzeiten einnehmen sollten.

Die Schlafbereiche waren mit Reihen von mehrstöckigen Kojen aus Holzbrettern zugestellt. Jede Gefangene bekam eine mit Holzspänen gefüllte Matratze und ein Kissen, dazu ein Laken und eine blau-weiß karierte Decke, die gefaltet am Fußende des Bettes lag.

Der Stellenwert von Drill und Disziplin war Langefeld bereits seit frühester Kindheit eingeimpft worden. Als Tochter eines Schmieds wurde sie im März 1900 als Johanna May in der Stadt Kupferdreh an der Ruhr geboren. Sie und ihre ältere Schwester wurden streng lutherisch erzogen. Von den Eltern wurde ihnen die Bedeutung von Sparsamkeit, Gehorsam und |7|täglichem Gebet eingebläut. Wie jedes brave protestantische Mädchen wusste Johanna schon früh, dass ihre Rolle im Leben die einer pflichtbewussten Ehefrau und Mutter sein würde: „Kinder, Küche, Kirche“ war ein vertrautes Credo im Hause der Familie May. Dennoch sehnte sich Johanna seit ihrer Kindheit nach mehr. Ihre Eltern redeten mit ihr auch über Deutschlands Vergangenheit. Nach dem Sonntagsgottesdienst pflegte das Gespräch zurückzuschweifen zur Klage über die Erniedrigung ihres geliebten Ruhrgebiets durch die französische Besetzung unter Napoleon und die Familie betete zu Gott, damit Deutschland wieder zu Größe gelangte. Sie verehrte ihre Namensvetterin Johanna Prochaska, Heldin der Befreiungskriege, die als Mann verkleidet gegen die Franzosen gekämpft hatte.

All das erzählte Johanna Langefeld der einstigen Gefangenen Grete Buber-Neumann, bei der sie Jahre später in Frankfurt vor der Tür stand, weil sie versuchen wollte, „ihre Haltung zu erklären“. Grete, die vier Jahre in Ravensbrück zugebracht hatte, war erschrocken, als ihre damalige Oberaufseherin 1957 wieder vor ihr stand. Zugleich war sie vom Bericht Langefelds über deren „Odyssee“ ergriffen und schrieb alles nieder.5

Im Jahr 1914, als der Erste Weltkrieg ausbrach, jubelte die damals 14-jährige Johanna wie all die anderen, als die jungen Männer aus ihrem Geburtsort Kupferdreh abmarschierten, um den Traum von einem starkten Deutschland zu verwirklichen. Sie stellte jedoch bald fest, dass sie selbst und alle anderen deutschen Frauen dabei kaum eine Rolle spielten. Zwei Jahre später, als klar war, dass der Krieg nicht so bald enden würde, waren die deutschen Frauen plötzlich angehalten, in Minen, Fabriken und Büros zu arbeiten. Dort an der „Heimatfront“ hatten Frauen die Möglichkeit, sich in der Arbeit von Männern zu beweisen, nur um genau diese wieder zu verlieren, sobald die Männer heimkehrten.

Zwei Millionen Deutsche blieben in den Schützengräben, aber Millionen kamen zurück und Johanna sah nun zu, wie Kupferdrehs Soldaten heimkehrten, viele von ihnen verstümmelt und vollkommen am Boden. Gemäß den Kapitulationsbedingungen musste Deutschland Reparationen zahlen, was die Wirtschaft lahmlegen und zu einer Hyperinflation beitragen sollte. 1923 war Langefelds geliebtes Ruhrgebiet abermals von den Franzosen besetzt, die deutsche Kohle „stahlen“, als Strafe für nicht geleistete Reparationszahlungen. Ihre Eltern verloren ihre Ersparnisse und sie war mittellos und auf der Suche nach Arbeit. 1924 fand sie einen Ehemann, den Bergarbeiter Wilhelm Langefeld, der zwei Jahre darauf infolge eines Lungenleidens starb.

Johannas „Odyssee“ geriet dann ins Stocken. Sie fand sich nicht mehr zurecht in den Jahren, wie Grete schrieb. Die Jahre nach 1925 waren eine düstere Periode, über die sie nicht mehr berichten konnte, als dass sie eine |8|Verbindung zu einem Mann einging, der sie schwanger zurückließ, angewiesen auf protestantische Hilfsorganisationen.

Während Langefeld und Millionen andere wie sie um ihr Auskommen kämpften, wurden die 1920er Jahre für andere deutsche Frauen zu einer Zeit der Befreiung. Mit finanzieller Unterstützung seitens der USA stabilisierten die Regierungen der Weimarer Republik das Land und schlugen einen neuen liberaleren Pfad ein. Frauen hatten Wahlrecht und zum ersten Mal schlossen sich deutsche Frauen politischen Parteien, viele den linken, an. Angeregt durch Rosa Luxemburg, Anführerin des kommunistischen Spartakusbundes, schnitten sich Töchter aus bürgerlichem Hause, unter ihnen Grete Buber-Neumann, die Haare ab, sahen sich Stücke von Bertolt Brecht an und zogen durch die Wälder mit den Kameraden des Wandervogels oder der Arbeiterjugendbewegung, die von Revolution sprach. Indessen sammelten die Frauen der Arbeiterklasse im Lande Geld für die „Rote Hilfe“, schlossen sich Gewerkschaften an und verteilten vor den Fabriktoren Streikflugblätter.

1922 in München, wo Adolf Hitler die Schuld an Deutschlands Misere den Juden zuschrieb, lief ein frühreifes jüdisches Mädchen namens Olga Benario von zu Hause fort, um sich einer kommunistischen Zelle anzuschließen und sich von seinem wohlhabenden bürgerlichen Elternhaus loszusagen.6 Sie war 14 Jahre alt. Binnen weniger Monate wurde die dunkeläugige Schülerin zur Anführerin ihrer Genossen, mit denen sie durch die Bayerischen Alpen wanderte, in Gebirgsbächen tauchte, dann am Lagerfeuer Marx las und die kommunistische Revolution in Deutschland plante. 1928 wurde sie über Nacht berühmt, nachdem sie ein Berliner Gerichtsgebäude überfallen und einen führenden Kommunisten befreit hatte, den die Guillotine erwartete. 1929 war Olga von Deutschland aus nach Moskau aufgebrochen, um sich mit Stalins Elite auszubilden, bevor sie nach Brasilien abreiste, um dort die Revolution zu starten.

Wieder im gebeutelten Ruhrtal, war Johanna Langefeld zu dieser Zeit eine alleinstehende Mutter ohne Zukunft. Der Wall-Street-Crash von 1929 löste eine weltweite Depression aus und stürzte Deutschland in eine neue, noch tiefere wirtschaftliche Krise, die Millionen Menschen arbeitslos machte und weithin Unzufriedenheit säte. Langefelds größte Angst war, dass man ihr, wenn sie mittellos würde, ihren Sohn Herbert wegnehmen könnte. Um nicht den Notleidenden zuzugehören, entschied sie sich, ihnen zu helfen und sich Gott zuzuwenden. Aus religiöser Überzeugung begann sie, „unter den Ärmsten der Armen Gutes zu tun“, so erzählte sie es Grete all die Jahre später am Frankfurter Küchentisch.7 Sie fand Arbeit im Sozialdienst, bei der sie erwerbslosen Frauen und „umschulenden“ Prostituierten hauswirtschaftliche Fertigkeiten beibrachte.8

|9|1933 fand Johanna Langefeld in Adolf Hitler einen neuen Heilsbringer.9 Hitlers Programm für Frauen hätte nicht klarer sein können: Deutsche Frauen sollten zu Hause bleiben, so viele arische Kinder großziehen, wie sie es vermochten, und ihren Ehemännern gehorchen. Frauen waren für das öffentliche Leben nicht geeignet. Sie sollten von den meisten Arbeitsstellen ausgeschlossen werden und nur eingeschränkt Zugang zu den Universitäten erhalten.

Solche Einstellungen waren während der 1930er Jahre in allen europäischen Ländern nichts Ungewöhnliches, aber wie die Nazis über Frauen sprachen, das war auf einzigartige Weise vergiftet. Hitler und seine Entourage schmähten das weibliche Geschlecht nicht nur öffentlich als dumm und unterlegen, sie forderten auch wiederholt die Separation der Frauen von den Männern, als sähen die Männer den Wert der Frauen lediglich darin, gelegentlich als Zierde zu dienen und natürlich Kinder zu gebären. (Die Nazis beriefen sich auf wissenschaftliche Studien, die besagten, dass Frauen kleinere Gehirne hätten als Männer und diesen deshalb naturgemäß unterlegen wären.) Nicht nur die Juden waren Hitlers Sündenböcke für Deutschlands Missstände: Frauen, die sich während der Jahre der Weimarer Republik emanzipiert hatten, wurden beschuldigt, den Männern ihre Arbeitsstellen wegzunehmen und die Moral des Landes zu untergraben.

Dennoch hatte Hitler die Macht, mit seinen Worten Millionen deutscher Frauen zu verführen, die sich nach dem „stahlharten Mann“ sehnten, der den Stolz und die Ordnung des Reichs wiederherstellte. Solche weiblichen Bewunderer, viele tief religiös und allesamt durch Joseph Goebbels’ antisemitische Propaganda entflammt, bildeten das Publikum für den Reichsparteitag in Nürnberg 1934, bei dem sich der amerikanische Reporter William Shirer unter das Volk mischte. „Wie ein römischer Kaiser ist Hitler heute bei Sonnenuntergang in diese mittelalterliche Stadt eingezogen, vorbei an Massen wild jubelnder Nazis … Zehntausende von Hakenkreuzfahnen überdecken die gotische Schönheit des Ortes.“ Und später an diesem Abend, vor Hitlers Hotel: „Als Hitler schließlich für einen Moment auf dem Balkon erschien, war ich ein wenig geschockt von den Gesichtern um mich herum, besonders von denen der Frauen … Sie blickten auf zu ihm, als ob er der Messias wären.“10

Dass Langefeld für Hitler stimmte, erscheint nahezu sicher. Sie strebte nach einem Ausweg aus der Erniedrigung ihres Landes. Sie begrüßte überdies die neue Achtung vor dem Familienleben, die Hitler proklamierte. Und Langefeld hatte persönliche Gründe, dem neuen Regime gegenüber dankbar zu sein: Zum ersten Mal hatte sie einen sicheren Arbeitsplatz. Frauen und vor allem unverheirateten Müttern waren die meisten beruflichen Wege versperrt, ausgenommen jener, den Langefeld gewählt hatte. Aus |10|dem Sozialdienst war sie in den Gefängnisdienst aufgestiegen. 1935 wurde ihr dann in Brauweiler, einem Arbeitshaus für Prostituierte nahe Köln, der Posten der Hausmutter angetragen. Diese Stelle brachte ihr ein Dach über dem Kopf und die Freiheit, für Herbert zu sorgen.

Während ihrer Zeit in Brauweiler fiel es ihr jedoch anscheinend nicht leicht, alle Methoden der Nazis zu übernehmen, um den „Ärmsten der Armen“ zu helfen. Im Juli 1933 wurde das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses verabschiedet, das die Massensterilisation als Mittel zur Eliminierung der Schwachen, Nutzlosen, Kriminellen und Geisteskranken legalisierte. Der Führer glaubte, dass all diese degenerierten Menschen eine Belastung für die Staatskasse seien und aus der Vererbungskette entfernt werden müssten, um die Volksgemeinschaft, die Gemeinschaft „reinrassiger“ Deutscher, zu stärken. Der Direktor von Brauweiler, Albert Bosse, erklärte 1936, dass die meisten Prostituierten, die in seine Anstalt kämen, hoffnungslose Fälle seien und, soweit sie nicht gerettet werden könnten, man sie „aus moralischen und volkserhaltenden Gründen sterilisieren“ müsste.11

1937 wurde Langefeld von Direktor Bosse entlasssen. Ein Grund, der in den Brauweiler-Akten angeführt wird, ist Diebstahl, aber dies sollte höchstwahrscheinlich nur ihre Opposition gegenüber Bosses Methoden verschleiern. Die Berichte zeigen auch, dass Langefeld bis zu diesem Zeitpunkt nicht der NSDAP beigetreten war, was von der gesamten Gefängnisbelegschaft gefordert wurde.

Von Hitlers proklamierter Achtung vor dem Familienleben hatte Lina Haag sich nie täuschen lassen. Als die Ehefrau eines KPD-Abgeordneten im Württembergischen Landtag am 30. Januar 1933 im Radio hörte, dass Hitler zum Reichskanzler ernannt worden war, wusste sie sofort, dass die Nazis kommen würden, um ihren Mann zu holen: „Wir hatten in unseren Versammlungen vor Hitler gewarnt … Die erwartete Volkserhebung blieb aus. Es geschah nichts.“12

Dann, am 31. Januar um fünf Uhr morgens, während Lina und ihr Mann schliefen, kamen die Schlägertrupps tatsächlich. Die Festnahme der Roten hatte begonnen. „Sturmriemen unterm Kinn, Revolver, Gummiknüppel … Sie steigen auf die Stühle, fegen die Schachteln von den Schränken, hängen die Bilder aus, klopfen die Wände ab. Alles sehr rasch, rücksichtslos, mit einem widerlichen Eifer und sichtlicher Lust. Sie suchen nicht, sie hausen nur, treten mit ihren Stiefeln auf der frischen Wäsche herum, die am Boden liegt … Dabei sind wir ihnen keineswegs fremd, sie kennen uns, und wir kennen sie, es sind erwachsene Menschen, Mitbürger, Nachbarn, wenn man will, Familienväter, kleine ordentliche Leute. Wir haben ihnen nichts getan, und dennoch betrachten sie uns jetzt voll Hass, die entsicherten Pistolen griffbereit.“

|11|Linas Mann begann sich anzuziehen. Warum hatte er seinen Mantel so plötzlich an, fragte sich Lina. Wollte er ohne ein Wort gehen?

„Was ist denn?“, fragte sie ihn.

„Na ja“, sagte er und zuckte mit den Schultern.

„Du bist doch Abgeordneter“, rief Lina.

„Abgeordneter“, lachte der knüppelschwingende Polizist, „habt ihr’s gehört! … Kommune seid ihr aber mit euch Dreckspack wird jetzt aufgeräumt!“

Lina zog ihr schreiendes Kind, die zehnjährige Katie, vom Fenster weg, als deren Vater abgeführt wurde. „So ist das also … Das wird sich das Volk nicht lange gefallen lassen“, dachte sie.13

Vier Wochen später, am 27. Februar 1933, als Hitler noch immer darum kämpfte, die Macht seiner Partei zu stärken, wurde das deutsche Parlament, der Reichstag, in Brand gesteckt. Die Kommunisten wurden beschuldigt, auch wenn viele vermuteten, dass das Feuer von den Nazischergen gelegt worden war, als Vorwand, um jeden politischen Kontrahenten im Lande terrorisieren zu können. Hitler erließ unverzüglich eine allgemeine Verordnung, die sogenannte Schutzhaft, durch die jeder wegen „Verrats“ festgenommen und auf unbestimmte Zeit eingesperrt werden konnte. Nur etwa 15 Kilometer nördlich von München wurde ein nagelneues Lager eröffnet, um die „Verräter“ aufzufangen.

Dachau, das am 22. März 1933 seine Tore öffnete, war das erste staatliche Konzentrationslager der Nazis. Über die nächsten Wochen und Monate spürte Hitlers Polizei alle Kommunisten oder mutmaßlichen Kommunisten auf und brachte sie dort hin, um ihren Willen zu brechen. Auch Sozialdemokraten wurden verhaftet, zusammen mit Gewerkschaftern und allen möglichen anderen „Staatsfeinden“.

Einige, die hier festgehalten wurden, vor allem unter den Kommunisten, waren Juden, aber in den ersten Jahren der Naziherrschaft wurden Juden nicht in großer Zahl eingesperrt. Diejenigen, die in den ersten Konzentrationslagern festgehalten wurden, waren, wie die anderen, aufgrund ihres Widerstands gegen Hitler inhaftiert worden, nicht einfach ihrer „Rasse“ wegen. Zu Beginn war der einzige Zweck von Hitlers Konzentrationslagern, jegliche Opposition innerhalb Deutschlands niederzuschlagen. Erst, wenn das geschafft war, würden andere Absichten verfolgt. Die Aufgabe der Niederschlagung wurde dem Mann übertragen, der für diesen Job am geeignetsten war: Heinrich Himmler, Reichsführer SS, der bald auch Chef der Polizei, einschließlich der neuen Geheimpolizei, der Gestapo, werden sollte.

Heinrich Luitpold Himmler sah keineswegs so aus, wie man sich einen Polizeichef vorstellte. Er war von kleiner Statur und untersetzt, hatte ein |12|fliehendes Kinn, ein bleiches Gesicht und trug eine goldgeränderte Brille auf seiner spitzen Nase. Am 7. Oktober 1900 wurde er als zweiter von drei Söhnen des Oberstudiendirektors Gebhard Himmler geboren, der an einer Schule bei München unterrichtete. Die Abende in der behaglichen Münchner Wohnung verbrachte Heinrich damit, dem Vater beim Ordnen seiner Briefmarkensammlung zu helfen oder den Geschichten der Heldentaten zu lauschen, die der Großvater als Soldat erlebt hatte, während seine angebetete Mutter, eine fromme Katholikin, in der Ecke saß und nähte.

Der junge Heinrich tat sich in der Schule hervor, war jedoch als Streber verschrien und wurde oftmals schikaniert. In der Turnhalle reichte er kaum an den Barren heran, weshalb ihn die Lehrer dazu verdonnerten, qualvolle Kniebeugen auszuführen, während seine Mitschüler zusahen und spotteten. Jahre später führte Himmler in Konzentrationslagern für Männer eine Folter ein, bei der die Gefangenen aneinandergekettet gezwungen wurden, im Kreis auf und ab zu springen und Kniebeugen zu verrichten, bis sie zu Boden fielen, nur um unter Tritten wieder aufzustehen, bis sie endgültig zusammenbrachen.

Als er die Schule verließ, war Himmlers Traum, beim Militär aufgenommen zu werden, aber auch wenn er kurzzeitig als Kadett diente, so verhinderten seine schlechte Gesundheit und seine Sehschwäche, dass er die Offiziersausbildung beenden konnte. Er studierte stattdessen Landwirtschaft, züchtete Hühner und widmete sich bald einem anderen romantischen Traum, der Rückkehr zur Heimat. Seine freie Zeit verbrachte er mit Wanderungen in den geliebten Alpen, oft in Begleitung seiner Mutter, oder er betrieb Studien in Astrologie und Ahnenforschung und notierte jedes triviale Detail seines täglichen Lebens in sein Tagebuch. „Die Gedanken und Sorgen jagen sich in meinem Kopf “, so klagte er.14

In seinen späten Jugendjahren tadelte sich Himmler selbst für seine sozialen und sexuellen Unzulänglichkeiten: „Ich bin ein Spruchmacher und Schwätzer und ohne Energie, mir gelingt nichts.“15 Und bezüglich seiner Sexualität schrieb er: „Aber ich will mich eisern an die Kandare nehmen.“16 Zu Beginn der 1920er Jahre war er in München der Thule-Gesellschaft beigetreten, einem Männerbund, der die Wurzeln der arischen Überlegenheit und die Bedrohung durch die Juden erörterte. Auch in Münchens rechten paramilitärischen Einheiten war er willkommen. „Heute habe ich wieder einmal einen Tag Uniform an. Sie ist halt immer wieder mir das liebste Kleid“, schrieb er.17 In den Reihen der NSDAP hieß es bald: „Der Heini macht es schon.“18 Seine organisatorischen Fähigkeiten und seine Detailgenauigkeit waren unübertroffen und er erwies sich als geschickt darin, Hitlers Wünsche vorauszuahnen. „Ich bin schlau wie ein Fuchs“, so hatte Himmler einmal in einem Brief an seine Eltern geschrieben.19

|13|1928 heiratete er Margarete Boden, eine Krankenschwester, die sieben Jahre älter war als er. Sie hatten eine Tochter, Gudrun. Auch beruflich kam Himmler weiter voran und wurde 1929 an die Spitze der SS (Schutzstaffel) berufen, jener paramilitärischen Truppe, die zunächst Hitlers persönliche Leibwache stellte. Zu der Zeit, als Hitler 1933 an die Macht kam, hatte Himmler die SS zu einer Eliteeinheit aufgebaut. Zu ihren Aufgaben gehörte die Leitung der neuen Konzentrationslager.

Für Hitler waren Konzentrationslager Orte, an denen seine Gegner interniert und zerschlagen werden sollten, nach dem Vorbild der Konzentrationslager der Briten zur Masseninternierung während des zweiten Burenkrieges 1899–1902. Die Gestaltung der nationalsozialistischen Lager wurde jedoch von Himmler festgelegt, dessen persönlicher Prototyp Dachau war. Er wählte auch den Dachauer Kommandanten, Theodor Eicke, zum Führer der „SS-Totenkopfverbände“, wie die Wachmannschaften der Konzentrationslager genannt wurden – sie trugen Abzeichen mit Totenköpfen auf ihren Mützen, um ihre Loyalität bis in den Tod zu demonstrieren. Von Eicke erwartete Himmler die planvolle Terrorisierung aller „Staatsfeinde“.

In Dachau tat Eicke genau das. Er zog eine Schule für SS-Männer auf, die ihn „Papa Eicke“ nannten und die er „hart machte“, bevor sie in andere Lager geschickt wurden. „Hart machen“ bedeutete, dass die Männer lernen sollten, dem Feind gegenüber niemals Schwäche, sondern nur ihre Zähne zu zeigen – anders gesagt, sie sollten hassen.20 Unter Eickes ersten Rekruten war Max Koegel, der zukünftige Kommandant von Ravensbrück, der wegen Unterschlagung kurzzeitig im Gefängnis gesessen hatte und dann nach Dachau kam, um dort Arbeit zu finden.

Geboren wurde Koegel als Sohn eines Schreiners in der südbayerischen Stadt Füssen, bekannt für die Herstellung von Lauten und für seine Schlösser. Mit zwölf Jahren wurde er zum Vollwaisen und brachte seine Jugendjahre als Hirte in den Alpen zu, bevor er sich eine andere Arbeit in München suchte, wo er sich mit rechten Verbänden der völkischen Bewegung einließ und sich 1932 der NSDAP anschloss. „Papa Eicke“ fand schnell Verwendung für den mittlerweile 38-jährigen Koegel, der bereits genügend Härte entwickelt hatte.

In Dachau verkehrte Koegel mit anderen SS-Männern wie Rudolf Höß, ebenfalls einer der ersten Rekruten, der schließlich Kommandant in Auschwitz werden sollte und der auch in Ravensbrück eine Rolle spielte. Höß erinnerte sich später tief bewegt an seine Zeit in Dachau und sprach von einem ganzen Kader von SS-Männern, in denen die jahrelange Schulung durch Eicke „so tief steckte“, so „in Fleisch und Blut übergegangen“ war, „dass selbst die Gutwilligsten einfach nicht mehr anders handeln konnten“.21

|14|Eicke hatte einen solchen Erfolg, dass bald schon etliche weitere Lager nach dem Dachauer Modell angelegt wurden. Aber in diesen Anfangstagen hätten weder Eicke noch Himmler oder irgendjemand sonst ein Konzentrationslager für Frauen in Betracht gezogen. Frauen wurden als Opponenten gegen Hitler nicht genügend ernst genommen, als dass man sie für eine Bedrohung gehalten hätte.

Im Zuge von Hitlers Säuberungsaktionen wurden auch Tausende Frauen festgenommen. Viele von ihnen hatten sich während der Jahre der Weimarer Republik die Freiheit erkämpft – Gewerkschafterinnen, Medizinerinnen, Dozentinnen, Journalistinnen. Oft waren sie Kommunistinnen oder Frauen von Kommunisten. Während der Haft wurden sie schlecht behandelt, aber diese Frauen wurden nicht in Lager wie Dachau gebracht, noch wurde ein Gedanke daran verschwendet, in den Lagern für Männer Abteilungen für Frauen einzurichten. Stattdessen wurden sie in Frauengefängnisse oder umgebaute Arbeitshäuser gesperrt, in denen das System hart, aber nicht unerträglich war.

Viele der weiblichen politischen Gefangenen wurden nach Moringen gebracht, ein umfunktioniertes Arbeitshaus nahe Hannover. Die 150 Frauen, die 1935 hier untergebracht waren, schliefen in unverschlossenen Schlafsälen und die Aufseher besorgten ihnen Strickwolle. In der großen Halle des Gefängnisses rasselten die Nähmaschinen. Einige „Prominente“ saßen an einem Tisch abseits von den anderen, unter ihnen Mitglieder des Reichstags und Frauen von Fabrikanten.

Nichtsdestotrotz hatte Himmler durchschaut, dass Frauen auf andere Weise gequält werden konnten als Männer. Die simple Tatsache, dass man ihre Ehemänner getötet hatte und ihnen ihre Kinder fortnahm – für gewöhnlich wurden sie in Pflegeheime der Nazis gebracht –, war für die meisten Frauen Leid genug. Die Zensur lehnte Hilfsgesuche ab.

Als Barbara Fürbringer erfuhr, dass ihr Mann, ein kommunistischer Reichstagsabgeordneter, in Dachau zu Tode gefoltert worden war und ihre Kinder in einem Pflegeheim der Nationalsozialisten lebten, versuchte sie, ihre Schwester in Amerika zu verständigen:

Liebe Schwester,

ich danke Dir für Deine Anfrage. Leider geht es uns schlecht. Der Theodor, mein guter Mann, ist in Dachau vor vier Monaten plötzlich gestorben. Unsere drei Kinder sind in dem Münchener staatlichen Fürsorgeheim untergebracht, ich befinde mich in dem Frauenlager von Moringen. Ich besitze keinen Pfennig mehr, wenn Du mir einige Dollars schicken könntest, wäre ich Dir sehr dankbar. Deine getreue Barbara.

|15|Der Zensor wies den Brief ab und sie schrieb erneut:

Liebe Schwester,

ich danke Dir für Deine Anfrage. Uns geht es leider nicht nach Wunsch. Der Theodor, mein guter Mann, ist vor vier Monaten gestorben. Unsere drei Kinder wohnen in München, Brienner Straße 37. Ich lebe in Moringen, nahe Hannover, Breite Straße 32. Für die Übersendung einer kleinen Geldsumme wäre ich Dir dankbar. Deine treue Schwester Barbara.22

Solange die Qual der Männer grausam genug war, würden sich auch alle anderen bald fügen, so Himmlers Kalkül. Und das erwies sich größtenteils als zutreffend, wie Lina Haag, die nur einige Wochen nach ihrem Mann verhaftet wurde und in einem anderen Gefängnis einsaß, bald feststellen sollte. „Sieht da draußen kein Mensch, wohin wir treiben? … Durchschaut kein Mensch die schamlose Rabulistik der Reden und Aufsätze des Propagandaministers? … Sie sind unmissverständlich, und dennoch will sie niemand verstehen. Ich weiß das, auch wenn ich seit zwei Jahren von der Welt abgeschlossen bin. Ich spüre es durch Mauern und Wände. Ich habe keine Statistiken, und ich brauche keine Statistiken, um zu ahnen, dass es immer mehr werden, die mitmarschieren, und immer weniger, die sich abwenden.“23

Bis 1936 war nicht nur die politische Opposition komplett beseitigt, sondern auch humanitäre Institutionen und die deutschen Kirchen hatten sich der Parteilinie unterworfen. Das Deutsche Rote Kreuz hatte sich für die Sache der Nazis vereinnahmen lassen. Bei den Versammlungen der Organisation wurde die Fahne mit dem roten Kreuz neben dem Hakenkreuzbanner gehisst, während die Hüter der Genfer Konventionen, das Internationale Komitee vom Roten Kreuz, Himmlers Lager – oder zumindest die Vorzeigeblocks – inspiziert und ihr Einverständnis erklärt hatten. Die westlichen Regierungen vertraten den Standpunkt, dass die Konzentrationslager und Gefängnisse eine interne Angelegenheit Deutschlands waren und sie nichts angingen. Mitte der 1930er Jahre glaubten die meisten Führungen des Westens noch immer, dass die größte Bedrohung für den Weltfrieden vom Kommunismus und nicht von Nazideutschland ausging.

Obwohl es keine relevante Opposition gab, im Inland wie im Ausland, beobachtete Hitler die öffentliche Meinung zu Beginn seiner Herrschaft aufmerksam. Anlässlich einer Kreisleiterversammlung auf der Ordensburg Vogelsang sagte er 1937: „Es handelt sich bei mir immer nur darum, keinen Schritt zu machen, den ich vielleicht wieder zurück machen muss … Da muss man nun die Nase haben, ungefähr zu riechen: ‚Was kann ich noch machen, was kann ich nicht machen?‘“24

|16|Sogar die Hetze gegen die deutschen Juden wurde zunächst langsamer vorangetrieben, als das viele Parteimitglieder erwarteten. In den Anfangsjahren betrieb Hitler den gesetzlichen Ausschluss von Juden aus dem beruflichen und dem öffentlichen Leben. Er schürte Hass und Verfolgung, aber es würde noch etwas dauern, so entschied er, bevor er mehr als das wagen konnte. Auch Himmler hatte eine „Nase“ für die Situation.

Im November 1936 bekam es der Reichsführer SS, der mittlerweile nicht nur an der Spitze der SS, sondern auch der Polizei stand, mit einem internationalen Aufruhr zu tun. Dieser brach wegen einer deutschen Kommunistin los, die von einem Dampfer im Hamburger Hafen aus direkt in die Hand der Gestapo übergeben wurde. Sie war im achten Monat schwanger. Es war Olga Benario. Das lange dürre Mädchen aus München, das von zu Hause fortgelaufen war, um Kommunistin zu werden, war 35 Jahre alt und im Begriff, eine Berühmtheit für Kommunisten auf der ganzen Welt zu werden.

Nach ihrer Ausbildung in Moskau in den frühen 1930er Jahren gehörte Olga zur Komintern, der Kommunistischen Internationalen, und wurde 1935 von Stalin ausgesandt, um einen Putsch gegen den brasilianischen Präsidenten Getulio Vargas mit vorzubereiten. Der Anführer der Operation war der legendäre brasilianische Rebellenführer Luis Carlos Prestes. Der Aufstand sollte eine kommunistische Revolution im größten Land Südamerikas herbeiführen und Stalin damit einen Stützpunkt in ganz Amerika verschaffen. Durch einen Hinweis des britischen Geheimdienstes wurde der Plan jedoch vereitelt, Olga wurde verhaftet und mit ihrer Mitverschwörerin Elise Ewert „als Geschenk“ an Hitler zurückgesandt.25 In Southampton, wo der Dampfer auf dem Weg nach Hamburg anlegen sollte, versammelten sich Demonstranten, um Olga zu befreien. Moskau hatte der Kommunistischen Partei in London zuvor ein Zeichen gegeben und zu Protesten im Hafen aufgerufen. Aber die Mitteilung war vom MI6 abgefangen worden und der Dampfer fuhr direkt nach Deutschland, ohne noch einmal irgendwo anzulegen.

Von den Hamburger Hafenanlagen aus wurde Olga nach Berlin in das Frauengefängnis Barnimstraße gebracht, wo sie vier Wochen später ein Mädchen zur Welt brachte, Anita. Kommunisten auf der ganzen Welt starteten eine Kampagne zu ihrer Befreiung. Der Fall erregte breite Aufmerksamkeit, vor allem deshalb, weil der Vater des Kindes der berühmte Carlos Prestes, Anführer des gescheiterten Putsches, war. Beide hatten sich in Brasilien ineinander verliebt und dort geheiratet. Olgas eigener Mut und ihre gertenschlanke dunkle Schönheit machten die Geschichte noch eindringlicher.

Solche negativen Schlagzeilen im Ausland waren nicht willkommen, zumal es das Jahr der Berliner Olympiade war und so viel unternommen |17|worden war, um das Image des Landes aufzupolieren. Was die Nazis darunter verstanden, zeigten sie, als sie vor Beginn der Olympischen Spiele alle Sinti und Roma festnahmen und in ein Lager auf einem Sumpfgelände des Berliner Außenbezirks Marzahn pferchten. Den Konflikt um Olga Benario versuchten Himmlers Gestapochefs zunächst zu entschärfen, indem sie vorschlugen, das Baby freizulassen, um es in die Hände von Olgas jüdischer Mutter, Eugenia Benario, zu geben, die noch immer in München lebte.26 Aber Eugenia weigerte sich, das Kind aufzunehmen: Sie hatte sich lange zuvor von ihrer kommunistischen Tochter distanziert und lehnte nun auch das Baby ab. Himmler erteilte schließlich die Erlaubnis, dass Prestes Mutter, Leocadia, Anita zu sich nehmen durfte, und im November 1937 holte die Großmutter aus Brasilien das Mädchen aus dem Gefängnis in der Barnimstraße ab. Olga blieb nach diesem Verlust allein in ihrer Zelle zurück.

In einem Brief an Leocadia erklärte sie, dass sie keine Zeit gehabt hatte, sich auf die Trennung vorzubereiten: „Ihr müsst deshalb entschuldigen, dass sich die Sachen Anita’s in diesem Zustand befanden … Habt ihr meine Beschreibung der Lebensweise Anita’s u. ihre Gewichtstabelle bekommen, die ich, soweit ich dazu im Stande war, sofort nachdem Anita abgeholt wurde, geschrieben habe? … Sind alle inneren Organe in Ordnung? Was ist mit dem Knochenbau … – mit einem Wort, ob sie durch die etwas aussergewöhnlichen Umstände meiner Schwangerschaft u. ihres ersten Lebensjahres keinen Schaden erlitten hat?“27

Um 1936 begann die Zahl der inhaftierten Frauen in Deutschlands Gefängnissen anzusteigen. Trotz des Terrors agierten deutsche Frauen jedoch weiter im Untergrund, viele nun angestachelt durch den Ausbruch des Spanischen Bürgerkrieges. Unter jenen, die während der 1930er Jahre in das Frauenlager im niedersächsischen Moringen gebracht wurden, befanden sich weitere Kommunistinnen und ehemalige Mitglieder des Reichstags, ebenso wie Einzelpersonen, die in kleinen Gruppen oder allein operierten, wie die gehbehinderte Grafikerin und Zeichnerin Gerda Lissack, die Flugblätter gegen die Nazis gestaltete. Ilse Gostynski, eine junge Jüdin, die dabei half, auf ihrer Druckerpresse Artikel zu drucken, die den Führer angriffen, wurde aus Versehen verhaftet. Die Gestapo hatte es auf ihre Zwillingsschwester Else abgesehen, die sich jedoch in Oslo befand, um dort Fluchtwege für jüdische Kinder zu organisieren, und so nahmen sie an ihrer Stelle Ilse mit.

1936 kamen 500 deutsche Hausfrauen, die Bibeln bei sich hatten und adrette weiße Kopftücher trugen, in Moringen an. Die Frauen, Zeuginnen Jehovas, hatten protestiert, als ihre Männer in die Armee einberufen worden waren. Hitler sei der Antichrist, so sagten sie. Gott sei auf der Erde Herrscher, nicht der Führer. Ihre Ehemänner und andere männliche Zeugen |18|Jehovas wurden in Hitlers jüngstes Lager, Buchenwald, gebracht, wo sie 25 Hiebe mit einer Lederpeitsche erdulden mussten. Himmler wusste jedoch, dass nicht einmal die SS-Männer derzeit hart genug waren, um deutsche Hausfrauen zu verprügeln. So nahm der Gefängnisdirektor von Moringen, ein freundlicher, hinkender Soldat im Ruhestand, den Zeuginnen Jehovas einfach ihre Bibeln weg.

1937 sorgte die Verabschiedung eines Gesetzes gegen „Rassenschande“, das die Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden verbot, für einen weiteren Zustrom jüdischer Frauen nach Moringen. In der zweiten Hälfte des Jahres 1937 schließlich bemerkten die Frauen dort einen plötzlichen Anstieg der Zahl von Nichtsesshaften, die hinkend, einige mit Krücken, viele andere blutspuckend im Lager ankamen. 1938 wurden massenhaft Prostituierte eingeliefert.

Else war wie gewöhnlich bei der Arbeit gewesen, als eine Gruppe Düsseldorfer Polizisten in der Corneliusstraße 10 gegen die Tür trommelte und schrie, sie solle öffnen. Es war am 30. Juli 1938 um zwei Uhr morgens. Polizeirazzien waren nichts Ungewöhnliches und Else hatte keinen Grund, sich zu fürchten, auch wenn solche Durchsuchungen in letzter Zeit zunahmen. Prostitution war nach dem Gesetz der Nationalsozialisten legal, aber die Polizei konnte jeden Vorwand nutzen, etwa, dass eine der Frauen ihre Syphiliskontrolle versäumt hatte, oder vielleicht suchte ein Beamter einen Hinweis auf eine neue kommunistische Zelle in den Düsseldorfer Hafenanlagen.

Etliche der Düsseldorfer Polizisten kannten diese Frauen persönlich. Else Krug war immer gefragt, entweder ihrer eigenen besonderen Dienste wegen – sie bot sadomasochistische Praktiken an – oder aufgrund der Dinge, die sie über andere wusste. Sie war stets auf dem Laufenden. Else war auch auf der Straße beliebt. Wann immer sie konnte, nahm sie ein Mädchen auf, besonders, wenn die Obdachlose neu in der Stadt war. Vor zehn Jahren war Else genauso auf den Straßen von Düsseldorf angekommen – ohne Arbeit, weit weg von zu Hause und ohne einen Pfennig in der Tasche.

Es stellte sich dennoch bald heraus, dass die Razzia am 30. Juli anders war als alle übrigen, die zuvor in der Corneliusstraße stattgefunden hatten. Erschrockene Kunden rafften zusammen, was sie finden konnten, und rannten halb angezogen in die Dunkelheit hinaus. In derselben Nacht fanden ähnliche Razzien an einer nahe gelegenen Adresse statt, wo Agnes Petry bei der Arbeit war. Agnes Ehemann, ein lokaler Zuhälter, wurde ebenso verhaftet. Nach einer weiteren Aktion am Bahndamm hatten die Beamten insgesamt 24 Prostituierte gefasst und gegen sechs Uhr morgens waren alle hinter Gittern, ohne dass man ihnen sagte, wann sie wieder freikommen würden.

|19|Die Behandlung der Frauen auf dem Polizeirevier war ebenfalls anders als sonst. Der diensthabende Beamte – ein Wachtmeister Peine – kannte die meisten der Frauen, da sie regelmäßig in seinen Zellen nächtigten, und so zog er sein großes schwarzes Buch hervor und trug sie gewissenhaft wie gewohnt mit Namen, Adressen und persönlicher Habe ein. In der Spalte mit der Überschrift „Haftgrund“ jedoch schrieb Peine sorgfältig „Asoziale“ hinter jeden Namen – ein Wort, das er zuvor nicht verwendet hatte.28 Und am Ende der Spalte notierte er, ebenfalls zum ersten Mal, in Rot: „Transport“.

Razzien wie diejenigen in Düsseldorfs Bordellen setzten sich während des Jahres 1938 in ganz Deutschland fort, denn die nationalsozialistischen Säuberungsaktionen gegen die eigene unerwünschte Unterschicht traten in ein neues Stadium ein. Unter der Bezeichnung „Aktion Arbeitsscheu Reich“ war ein Programm gestartet worden, das all diejenigen ins Visier nahm, die als soziale Außenseiter angesehen wurden. Im Ausland weitgehend unbemerkt und innerhalb Deutschlands nicht publik gemacht, wurden mehr als 20.000 sogenannte Asoziale – „Landstreicher, Prostituierte, Arbeitsscheue, Bettler und Diebe“ – aufgegriffen und zum Abtransport in die Konzentrationslager bestimmt.

Mitte 1938 war der Krieg immer noch ein Jahr entfernt, aber Deutschlands Krieg gegen die Unerwünschten im eigenen Land hatte bereits begonnen. Der Führer ließ verlauten, dass das Land rein und stark sein müsse, da es sich für den Krieg vorbereite, weshalb solche nutzlosen Mäuler zu beseitigen wären. Von dem Moment an, als Hitler an die Macht kam, waren bereits Massensterilisationen von Geisteskranken und „sozial Degenerierten“ durchgeführt worden. 1936 wurden als Zigeuner Verfolgte in Reservate am Rande großer Städte gesperrt. 1937 wurden Tausende von „Gewohnheitsverbrechern“ ohne ein rechtliches Verfahren in Konzentrationslager verschleppt. Hitler autorisierte die Maßnahmen, der Initiator dieses harten Durchgreifens jedoch war sein Polizeichef und Reichsführer SS Heinrich Himmler. Und dieser war es auch, der 1938 alle „Asozialen“ abholen ließ, um sie in Konzentrationslager zu sperren.

Der zeitliche Ablauf war bezeichnend. Lange vor 1937 begannen sich die Lager, die zur Beseitigung der politischen Opposition errichtet worden waren, zu leeren. Kommunisten, Sozialdemokraten und andere, die man in den ersten Jahren der Hitler-Herrschaft inhaftiert hatte, waren weitestgehend niedergeschlagen worden und die meisten von ihnen wurden nun als gebrochene Männer nach Hause geschickt. Himmler, der sich gegen diese Massenfreilassungen ausgesprochen hatte, sah sein Reich in Gefahr und suchte nach neuen Nutzungsmöglichkeiten für seine Lager.

Bisher hatte niemand ernsthaft vorgeschlagen, die Konzentrationslager für etwas anderes einzusetzen als gegen die politische Opposition, aber, |20|indem er sie mit Kriminellen und sozialen Außenseitern füllte, konnte Himmler sein Imperium erneut ausweiten. Er sah in sich selbst weit mehr als einen Polizeichef. Sein Interesse an der Wissenschaft – an allen Arten von Experimenten zur Zucht der vollkommenen „arischen Rasse“ – war immer das Hauptziel geblieben. Indem er jene Degenerierten in seine Lager brachte, sicherte er sich selbst eine zentrale Rolle innerhalb des ehrgeizigsten Projekts des Führers: den deutschen Genpool zu reinigen. Außerdem wären die neuen Gefangenen eine Arbeitskräftereserve für die Neugestaltungsvorhaben im Reich.

Charakter und Zweck der Konzentrationslager sollten sich nun ändern. Mit dem Rückgang der Zahl von deutschen politischen Gefangenen strömten die Ausgestoßenen der Gesellschaft nach, um sie zu ersetzen. Unter diesem ersten Schwung von Neulingen – Prostituierte, Kleinkriminelle, Obdachlose – befanden sich zwangsläufig genauso viele Frauen wie Männer.

Eine neue Generation zweckorientierter Konzentrationslager wurde nun gebaut. Und da Moringen und andere Frauengefängnisse bereits überfüllt und zu kostspielig waren, regte Himmler ein Konzentrationslager für Frauen an. Im Laufe des Jahres 1938 rief er seine Berater zusammen, um einen möglichen Standort zu finden. Vermutlich von Himmlers Freund, Gruppenführer Oswald Pohl, einem hochrangigen SS-Verwaltungsbeamten, kam der Vorschlag, das neue Lager auf dem Gebiet der Mecklenburgischen Seenplatte, in der Nähe eines Dorfes mit dem Namen Ravensbrück, zu errichten. Pohl kannte die Gegend, weil er dort ein Landgut besaß.

Rudolf Höß behauptete später, er habe Himmler gewarnt, dass das Gelände zu klein sei29: Es war vorprogrammiert, dass die Zahl der Frauen ansteigen würde, erst recht, wenn der Krieg ausbrach. Andere wiesen darauf hin, dass der Grund sumpfig sei und es zu lange dauern würde, das Lager dort zu bauen. Himmler ignorierte die Einwände. Nur etwa 80 Kilometer nördlich von Berlin gelegen, war der Ort gut für Inspektionen geeignet und er fuhr diese Strecke oft, um Pohl zu besuchen oder bei seinem Jugendfreund, dem berühmten SS-Chirurgen Karl Gebhardt, vorbeizuschauen, der die nur etwa zehn Kilometer von Ravensbrück entfernte Klinik Hohenlychen leitete.

Himmler orderte männliche Gefangene aus dem Konzentrationslager Sachsenhausen am Rande von Berlin, um mit dem Bau von Ravensbrück so rasch wie möglich zu beginnen. Indessen wurde das halb leer stehende Konzentrationslager für Männer in Lichtenburg bei Torgau geräumt und der Rest der Insassen wurde in das neue, im Juli 1937 eröffnete Lager Buchenwald gebracht. Frauen, die in das neue Lager für weibliche Gefangene kommen sollten, konnten in Lichtenburg untergebracht werden, solange Ravensbrück im Bau war.

|21|Lina Haag, die sich in einem vergitterten Zugwaggon wiederfand, hatte keine Ahnung, was ihr bevorstand. Nach vier Jahren in ihrer Gefängniszelle wurde ihr und den vielen anderen gesagt, dass sie „auf Transport“ geschickt würden. Alle paar Stunden hielt der Zug in einem Bahnhof, aber die Namen – Frankfurt, Mannheim, Stuttgart – gaben wenig Anhaltspunkte. Lina starrte die „normalen Leute“ auf den Bahnsteigen an – ein Anblick, den sie seit Jahren nicht mehr erlebt hatte – und die normalen Leute starrten zurück auf diese geisterhaften, abgemagerte Gestalten mit tief liegenden Augen und verfilzten Haaren. In der Nacht wurden die Frauen aus den Waggons geholt und in lokale Gefängnisse gebracht. Lina graute es vor den Wärtern. „Es ist mir unbegreiflich, wie die Aufseherinnen angesichts dieser Misere in den Gängen schwatzen und lachen können“, so schrieb sie. „Die meisten von ihnen sind fromm, aber von einer ganz eigenen Frömmigkeit. Es scheint mir, sie verstecken sich hinter dem lieben Gott, weil ihnen vor ihrer eigenen Niedertracht graut.“30

Frauen aus dem Arbeitshaus in Moringen stießen dazu und drängten sich unter Schock zusammen. Eine Ärztin namens Doris Maase wurde in Stuttgart zusammen mit einer Reihe von Düsseldorfer Prostituierten in den Zug gebracht.31 Doris, in ihrer Gestapoakte als „rote Studentin“ bezeichnet, besaß einen halben Kamm, den sie Lina borgte. Um sie herum gackerten die Huren und alten Weiber, obwohl Lina, wie sie sich vor Doris eingestand, nach vier Jahren Gefängnis vermutlich auch wie eine Hure aussah.

In Lichtenburg empfing sie die SS in Lederhandschuhen und mit Revolvern. Auch Johanna Langefeld wartete dort. Nach ihrer Entlassung aus dem Arbeitshaus Brauweiler war sie von Himmlers Amt wieder angeheuert worden und man bot ihr nun eine Stelle als Aufseherin in Lichtenburg an. Langefeld behauptete später, sie habe die Arbeit dort nur in dem Glauben angenommen, dass sie abermals ihrer Berufung folgen und Prostituierte umschulen könnte32, was offensichtlich eine Lüge war: Ihr war ein Aufstieg angeboten worden, bessere Bezahlung und eine Unterkunft für sich und ihr Kind. Jedenfalls hatte Langefeld in Brauweiler bereits gesehen, dass Prostituierte und andere aus der Gesellschaft Ausgestoßene entfernt und nicht umgeschult werden sollten.

In Lichtenburg traf zu der Zeit auch Helen Kröffges ein, eine Frau, an die sich Langefeld vermutlich sogar aus dem Arbeitshaus erinnerte. Kröffges hatte zunächst in Brauweiler eingesessen, weil sie die Zahlungen für den Unterhalt ihrer Kinder nicht mehr leisten konnte. Jetzt war sie nach Lichtenburg gebracht worden, weil sie als „kaum noch besserungsfähig“ eingestuft wurde, wie in ihrem Polizeibericht vermerkt war, und weil die „Volksgemeinschaft“ aufgrund ihres bisherigen „liederlichen und asozialen Lebenswandels“ vor ihr geschützt werden sollte.33

|22|Sogar der Gefängnisbeamte, der die Frauen in Lichtenburg registrierte, konnte keinen Sinn darin erkennen, solche mittellosen, heruntergekommenen Kreaturen einzusperren. Agnes Petry, eine der Düsseldorfer Frauen, kam ohne jeden Besitz im Lager an, wie er in ihrer Registerkarte notierte. Alles, was sie bei sich trug, war eine Fotografie ihres Mannes. In ihrer Akte war das Wort „Stütze“ vermerkt, was bedeutete, dass sie eine vom Staat abhängige Person war. Ob man sie nicht zurückschicken könne und ob sie irgendjemanden auf der Welt habe, der ihr helfen könne, fragte er in einem Brief an den Düsseldorfer Polizeipräsidenten.

Lina Haag hatte lange zuvor die Hoffnung aufgegeben, dass irgendjemand auch nur einer von ihnen helfen würde. Am 12. März 1938 war Österreich annektiert worden und bald danach kamen österreichische Widerständler auf der Burg an, darunter eine Ärztin, eine Opernsängerin und eine Schreinerin. Sie alle waren geschlagen und misshandelt worden. „Wenn die Welt schon nicht gegen die brutale Annexion fremder Länder protestiert, wie soll sie gegen die Auspeitschung irgendeiner armen Arbeiterfrau protestieren, die vielleicht dagegen protestiert hat?“, fragte Lina.34

Die Neuigkeit, dass Olga Benario, ein glorreicher Name des kommunistischen Widerstandes, sich in der Burg befand, gab einigen Frauen neue Hoffnung. Olga war aus Berlin allein in einem Lkw der Gestapo überstellt und direkt in die Verliese von Lichtenburg gebracht worden. Den kommunistischen Genossen gelang es, Kontakt zu ihr herzustellen, und sie fanden sie aufgrund der erst kürzlich erfolgten Trennung von ihrem Kind untröstlich, mit gebrochenem Herzen vor. Sie schmuggelten Nachrichten und kleine Geschenke in ihre Zelle. Einige dachten zurück an Olgas unglaublichen Überfall auf den Gerichtssaal 1928 und träumten von einem Ausbruch, aber Lina Haag sagte, dass es „keinen Sinn“ habe, irgendetwas zu versuchen. „Der Führer hat immer Recht, und wir sind arme Schweine, ganz und gar verlassene arme Schweine.“35 Schließlich versuchte eine Trapezkünstlerin, die Sintiza Katharina Waitz, die Burgmauern hinaufzuklettern. Sie wurde gefasst und ausgepeitscht. Der Kommandant von Lichtenburg, Max Koegel, fand Gefallen daran, Schläge zu verteilen. So „feiert“ er Ostern, wie Lina schrieb, „mit drei nackten, auf den Holzpflock geschnallten Frauen, die er auspeitscht, bis er nicht mehr kann“.36

Am 1. Oktober 1938, dem Tag, an dem Hitlers Truppen das Sudetenland besetzten, drangsalierte Koegel seine Gefangenen mit Wasserschläuchen. Sie waren alle in den Hof beordert worden, um die Siegesansprache des Führers zu hören, die Zeuginnen Jehovas jedoch weigerten sich, die Treppe hinabzugehen, woraufhin die Aufseher sie dazu zwangen und einige alte Frauen an den Haaren hinunterzogen. Als preußische Marschlieder angestimmt wurden, flüsterte jemand, „es wird Krieg geben“, und in der Burg brach plötzlich Unruhe aus. Alle Zeuginnen Jehovas begannen hysterisch |23|zu schreien, bevor sie auf ihre Knie sanken und beteten. Die Aufseher droschen auf sie ein und die Menge wehrte sich. Koegel ordnete an, dass Feuerwehrschläuche auf die betenden Frauen gerichtet werden sollten, die rasch niedergeschlagen, von Hunden zerbissen am Boden lagen.37 Sich aneinander festklammernd, „triefend wie die gebadeten Mäuse“, ertranken sie fast, berichtete Marianne Korn, eine der betenden Frauen.38

Bald nach dem Aufruhr besuchte Himmler die Burg, um zu sehen, ob die Ordnung wiederhergestellt war.39 Der Reichsführer SS inspizierte Lichtenburg einige Male in Begleitung der Reichsführerin der NS-Frauenschaft, Gertrud Scholtz-Klink, um ihr seine Gefangenen vorzuführen. Bei seinen Besuchen genehmigte er mitunter Freilassungen. Eines Tages entließ er Lina Haag, unter der Bedingung, dass sie nicht über ihre Behandlung sprach.

Himmler kontrollierte auch die Aufseherinnen. Es entging ihm offenbar nicht, dass Johanna Langefeld eine gewisse Autorität genoss – sie hatte eine Gabe, die Gefangenen ohne viel Aufhebens ruhigzustellen –, und so merkte er sie vor als die zukünftige Oberaufseherin von Ravensbrück.

Es waren die Kinder der Umgebung, die zuerst bemerkten, dass am nördlichen Ufer des Schwedtsees etwas gebaut wurde, aber, als sie ihren Eltern davon erzählten, wurden sie angehalten, zu schweigen. Bis 1938 spielten die Kinder auf einem Stück Buschland in der Nähe des Sees, wo die Bäume weniger dicht waren und man gut baden konnte. Eines Tages wurde ihnen gesagt, dass sie das Gelände nicht mehr betreten dürften. Während der nächsten Wochen beobachteten die Einwohner von Fürstenberg – Ravensbrück war ein kleiner Vorort dieser Stadt –, wie Lastkähne Baumaterial die Havel hinauf beförderten. Die Kinder erzählten ihren Eltern, sie hätten Männer in gestreiften Uniformen gesehen, die Bäume fällten.

Ravensbrück, 80 Kilometer nördlich von Berlin am südlichen Rand der Mecklenburgischen Seenplatte gelegen, war nach Himmlers Auffassung ein geeigneter Standort für ein Konzentrationslager. Die Zug- und Wasseranbindungen waren gut. Fürstenberg liegt an der Havel, die in mehrere Läufe geteilt durch die Stadt fließt, und die Stadt ist von drei Seen, dem Röblinsee, dem Baalensee und dem Schwedtsee, umgeben.

Ein weiterer Faktor, der Himmlers Wahl beeinflusste, war die Lage inmitten landschaftlicher Schönheit. Himmler glaubte, dass die Reinigung deutschen Blutes naturnah beginnen müsse, und die erquickenden Kräfte des deutschen Waldes spielten eine zentrale Rolle in der Mythologie von Blut und Boden. Buchenwald befand sich in einem berühmten Waldgebiet unweit von Weimar und verschiedene andere Lager waren bewusst in hübschen Gegenden errichtet worden. Nur wenige Wochen bevor Ravensbrück seine Tore öffnete, wurde hier ein Gewässer zur organischen Quelle für die arische Rasse erklärt. Fürstenberg war bei Naturliebhabern stets |24|beliebt gewesen, sie kamen, um mit Booten über die Seen zu fahren oder das barocke Schloss der Stadt zu besichtigten.

In den frühen 1930er Jahren war Fürstenberg kurzzeitig eine Hochburg der Kommunisten und, als die Nazis hier Fuß fassen wollten, fanden mehrere Straßenschlachten statt. Die Opposition war jedoch ausradiert worden, noch bevor Hitler Reichskanzler wurde. Ein nationalsozialistischer Bürgermeister war eingesetzt worden und ein Nazi, Pastor Märker, übernahm die evangelische Kirche der Stadt. Hitlers „Deutsche Christen“, stark in diesen ländlichen Gegenden, organisierten nationalistische Feierlichkeiten und Paraden.

Gegen Ende der 1930er Jahre hatten die meisten Juden Fürstenberg verlassen. Eva Hamburger, eine jüdische Hotelbesitzerin, hielt der Vertreibung stand, aber nach dem Pogrom der „Reichskristallnacht“ vom 9. auf den 10. November 1938 zog auch sie fort. In Fürstenberg wurde in dieser Nacht der Jüdische Friedhof zerstört und Eva Hamburgers Hotel wurde demoliert. Bald darauf berichtete die Lokalzeitung, dass das jüdische Grundstück am Röblinsee Nummer 3 verkauft worden war.

Wie die meisten deutschen Kleinstädte war Fürstenberg durch die Wirtschaftskrise schwer in Mitleidenschaft gezogen worden und die Eröffnung eines Konzentrationslagers verhieß Aufschwung in Arbeit und Handel. Die Tatsache, dass es sich um weibliche Gefangene handelte, erzeugte keine Kontroversen. Valesca Kaper, mittleren Alters und Ehefrau eines Ladenbesitzers, war die tatkräftige Führerin der örtlichen NS-Frauenschaft, deren Mitgliedern sie gerne vor Augen führte, welche Übel Make-up, Rauchen oder Alkohol darstellten und was für eine Bürde die „Asozialen“ dem Staat auferlegten. Joseph Goebbels erklärte der Bevölkerung: „Wenn die Familie die Kraftquelle des Volkes ist, dann ist die Frau ihr Kern und ihr bewegendes Zentrum.“40

Im Frühjahr 1939, als der Tag der Lagereröffnung näher rückte, wurden die Frauen dazu angehalten, „an der Heimatfront zu dienen“ – was auch bedeutete, als Lageraufseherin zu arbeiten, es wurde jedoch nichts Offizielles über solche Posten verlautbart. Es wurde eigentlich überhaupt nichts Offizielles über das Lager bekannt gegeben. Nur eine kleine Meldung im Fürstenberger Anzeiger über einen Verkehrsunfall „in der Nähe der großen Baustelle am Schwedtsee“ gab einen Hinweis darauf, dass sich das Konzentrationslager überhaupt in der Entstehung befand.41

Anfang Mai wurde ein Konzert mit Musik von Haydn und Mozart gegeben und die örtliche Gestapo richtete eine Sportveranstaltung aus, auf der man schießen und Granaten werfen konnte. Das Kino zeigte eine romantische Komödie. Die Zeitung berichtete, dass nach einem harten Winter wohltätige Spenden willkommen waren, und es erschienen Konkursmeldungen.

|25|Währenddessen passierten unentwegt Lastkähne mit Baumaterialien die Schleuse des Flusses und die Lagermauern waren vom Stadtufer des Sees aus allmählich gut sichtbar. Mehrere Frauen aus der Gegend ließen sich für einen Arbeitsplatz vormerken, darunter Margarete Mewes, Dienstmädchen und junge Mutter. Am ersten Sonntag im Mai hielt Fürstenberg seine traditionellen Muttertagsfeierlichkeiten ab. Frau Kaper händigte Mütterkreuze an diejenigen aus, die mehr als vier Kinder geboren hatten und damit Hitlers Aufruf, die arischen Rasse zu vermehren, gefolgt waren.

Am 15. Mai, einem strahlend sonnigen Morgen, fuhren etliche blaue Busse durch die Stadt in Richtung des Baugeländes.42 Kurz vor Tagesanbruch hatten eben jene blauen Busse vor den Toren von Schloss Lichtenburg, fast 500 Kilometer weiter südlich, gehalten. Augenblicke später waren weibliche Gestalten mit kleinen Taschen in den Händen über die Zugbrücke herausgeströmt und in die Fahrzeuge geklettert. Es war eine sternklare Nacht, aber in den Bussen herrschte vollkommene Finsternis. Niemand bedauerte es, als die schwarze, massige Festung hinter ihnen in der Dunkelheit verschwand, auch wenn keine der Reisenden eine Ahnung hatte, was sie erwarten würde.

Einige der Frauen hofften, dass die Reise sie an einen besseren Ort führen würde, und eine Reise – jede Reise – war an sich ein Vorgeschmack der Freiheit, aber die politischen Gefangenen warnten, dass es keine Chance auf eine Verbesserung gab. Hitlers nächster Vorstoß in die Tschechoslowakei war auch nur eine Frage der Zeit gewesen. Ehemänner, Brüder und Söhne starben in Buchenwald, Sachsenhausen und Dachau schneller denn je. Mehrere Frauen hatten offizielle Benachrichtigungen über solche Todesfälle im Gepäck, zusammen mit Bildern von Kindern und Bündeln von Briefen.

Die jüdischen Frauen unter ihnen dachten an Angehörige, die während des Novemberpogroms verhaftet worden waren. Zehntausende deutsch-jüdische Männer wurden nach der „Reichskristallnacht“ in Konzentrationslager gesperrt, die jüdischen Frauen jedoch waren nicht verhaftet worden, vielleicht, weil man eine Gegenreaktion befürchtete und weil es zu dieser Zeit nicht genügend Platz in den Gefängnissen gab. Paradoxerweise hatten diese Frauen jedoch, gerade weil sie Jüdinnen waren, zu diesem Zeitpunkt mehr Grund zur Hoffnung als viele andere. Die Schrecken der „Reichskristallnacht“ sechs Monate zuvor hatten die deutschen Juden traumatisiert und die Welt, die zusah, erschüttert. Nicht so sehr, dass man intervenierte, aber es wurden mehr Visa angeboten für diejenigen, die nun verzweifelt genug waren, um zu fliehen. Die Nazis ermutigten die Juden zur Flucht, um ihre Besitzungen und ihr Vermögen an sich zu bringen. Sechs Monate nach den Novemberpogromen waren nochmals mehr als 100.000 deutsche Juden emigriert und viele weitere warteten noch auf ihre Ausreisepapiere.

|26|Juden in Gefängnissen und Lagern hatten erfahren, dass auch sie emigrieren konnten, falls sie Visa und Reisemittel vorweisen konnten. Unter jenen, die hofften, bald ihre Papiere zu bekommen, war Olga Benario. Auch wenn sie mit ihrer eigenen Mutter zerstritten war, so hatten sich doch ihre brasilianische Schwiegermutter Leocadia und Carlos Prestes Schwester Ligia seit dem Tag der Freilassung des Babys Anita unermüdlich um Olgas Fall bemüht.

Kurz bevor sie Lichtenburg verließ, hatte Olga an Carlos in seinem Gefängnis in Brasilien geschrieben. „Hier ist es nun endgültig Frühling geworden u. hellgrüne Baumspitzen schauen neugierig über die hohen Mauern unseres Hofes. Du weißt, wie schön der europäische Frühling ist. Noch stärker als sonst, wird der Wunsch wach, nach ein bisschen Sonne, nach Schönheit u. Glück. Ach Karli, wird noch der Tag kommen, wo wir mit unserer Anita-Leocadia vereint, glücklich zu dritt sein werden? Verzeih solche Gedanken, ich weiß schon, dass ich viel Geduld haben muss.“43

Als der Morgen über der Mecklenburgischen Landschaft heraufdämmerte, strömte das Sonnenlicht durch die Schlitze in der Wagenplane und die Stimmung der Gefangenen hob sich. Die Österreicherinnen sangen. Als sich die Busse Ravensbrück näherten, war es Mittag und drückend heiß. Die Frauen rangen nach Luft. Die Fahrzeuge bogen von der Straße ab und hielten an. Die Türen sprangen auf und diejenigen, die vorn saßen, blickten auf einen schimmernden See. Der Duft des Kiefernwaldes erfüllte den Bus. Eine deutsche Kommunistin, Lisa Ullrich, erinnerte sich: Ein „kaum besiedelter Flecken an einem idyllischen See gelegen, von einem Kranz von dunklen Fichtenwäldern umgeben, ließ das Herz der Frauen höher schlagen“.44 Was müssen sie gefühlt haben, wenn sie am Ende der Fahrt von Frauen mit Hunden und Peitschen, Befehlen und Beleidigungen in Empfang genommen wurden?45

Als die Gefangenen ausstiegen, kollabierten einige von ihnen und diejenigen, die sich herabbeugten, um ihnen zu helfen, wurden selbst von Hunden umgeworfen oder mit Peitschen drangsaliert. Sie wussten es noch nicht, aber die Lagerregeln besagten, dass es ein Vergehen war, anderen zu helfen. „Miststücke, dreckige Weiber, kommt auf die Füße. Faule Schlampen.“ Eine weitere Regel bestand darin, dass die Gefangenen sich immer zu fünft aufstellen mussten. „Achtung, Achtung. Zu fünfen antreten! Hände runter!“46

Befehle hallten durch die Bäume, während Nachzügler von schweren Stiefeln getreten wurden. Starr vor Schrecken, die Augen auf den sandigen Boden geheftet, taten die Frauen ihr Möglichstes, um nicht aufzufallen. Sie vermieden es, einander anzusehen. Einige wimmerten. Noch ein Peitschenknall, dann trat völlige Stille ein.

|27|Die gut eingeübte SS-Routine hatte jedenfalls ihren Zweck erfüllt – ein Maximum an Schrecken im Augenblick der Ankunft zu erzeugen. Jeder, der an Widerstand gedacht hatte, war von nun an unter Kontrolle. Man hatte das Ritual hundertfach gegen Männer in den Konzentrationslagern angewandt und nun war es zum ersten Mal am Ufer des Schwedtsees exerziert worden. Es sollte einen noch schlimmeren Eindruck bei denen hinterlassen, die später, in dunkler Nacht oder im Schnee ankamen und keines der gesprochenen Worte verstanden. Alle Überlebenden von Ravensbrück jedoch behielten das Trauma ihrer Ankunft im Gedächtnis; alle erinnerten sich, wie sie verstummten.

Die erste Gruppe steht etwa zwei Stunden lang still in der Hitze. Als das Zählen beginnt, schaut Maria Zeh aus Stuttgart auf und sieht, wie der Raps blüht.47 Man schlägt ihr ins Gesicht. „Die Nase nach vorne!“, schreit eine Aufseherin.

Die Frauen werden wieder und wieder durchgezählt – eine weitere Lektion: Wenn irgendjemand aus der Reihe tritt, kollabiert oder die Zählung danebengeht, dann wird noch einmal ganz von vorn angefangen. „Und bevor wir losmarschieren, wird der Oberaufseherin ein Zettel mit der Anzahl ausgehändigt“, so schildert es Lisa Ullrich. Die Oberaufseherin ist Johanna Langefeld. Sie stand abseits und überprüft nun die Zahlen. Sie gibt das Zeichen für den Abmarsch, die Frauen setzen sich in Bewegung. Auch die korpulente Gestalt Max Koegels ist dabei.

Die Gefangenen schwanken vorwärts, vorbei an halb fertigen Villen zu ihrer Linken, aber sie nehmen ihre Umgebung nur schemenhaft wahr. Sie gelangen auf eine riesige Lichtung, von der jeder Baum und jeder Grashalm entfernt wurden. Nur Sand und Morast sind geblieben. Inmitten dieser Ödnis ragt eine massive graue Mauer auf. Die Frauen gehen durch ein Tor und begreifen, dass sie ein neues Lager betreten haben.

„Achtung, Achtung, zu fünfen antreten!“ Sie stehen auf einem trostlosen, sandigen Platz, der zum Appellplatz bestimmt wurde. Sie riechen frisches Holz und feuchte Farbe. Kahle hölzerne Barracken stehen ringsherum. Einige bemerken Beete mit roten Blumen. Die Sonne brennt vom Himmel. Hinter ihnen schließt sich das Tor.

Ohne Haar und ohne Namen

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