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|77|Kapitel 4 Himmler besucht das Lager

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Am 4. Januar 1940 ließ Heinrich Himmler sich von Berlin auf den vereisten Straßen in nördlicher Richtung durch die mecklenburgischen Wälder nach Ravensbrück fahren. Nach dem heftigen Schneefall der Nacht und Temperaturen bis 20 Grad unter null war die Reise gefährlich und die Straßen oft von Schneewehen blockiert. Angesichts dieses Wetters und der Kriegsereignisse, vor allem in Polen, hätte man meinen können, ein Besuch im kleinen Frauenlager Ravensbrück habe im Januar 1940 nicht weit oben auf der Prioritätenliste des Reichsführers gestanden. Doch Himmler inspizierte gern seine Lager und dies war sein erster Besuch in Ravensbrück seit der Eröffnung des Lagers im Mai.1

Adolf Hitler zeigte wenig Interesse für die Konzentrationslager – kein einziger Besuch ist dokumentiert –, aber sie waren das Zentrum von Himmlers Imperium; alles, was hinter ihren Mauern passierte, wurde von ihm genehmigt. Seine Kindheitsobsession für Details war zum Drang geworden, sein gesamtes Imperium bis ins Letzte zu kontrollieren, besonders die Lager. Als Reichsführer SS bestimmte er alles vom Kalorienverbrauch der Häftlinge bis zu SS-Personalien. Wenn der Stammbaum eines Mannes ein „nichtarisches“ Gen befürchten ließ, lehnte Himmler ihn stets ab. Und bei seinen Inspektionen sah er die Insassen gern persönlich und ermahnte vielleicht ein oder zwei oder wählte jemanden zur Entlassung aus.

Himmler ließ sich von der Fahrt nach Ravensbrück nicht durch das schlechte Wetter abschrecken. Er fuhr gern durch die gefrorene Landschaft und setzte sich sogar oft ans Steuer seines Mercedes-Cabrios. Selbst dann fuhr er, warm eingepackt, mit offenem Verdeck. Diese Wälder waren ganz anders als die Bayerischen Alpen mit ihren Wasserfällen und Märchenschlössern, die er als Junge gekannt hatte, aber die Wälder der Ebene waren ebenso rein deutsches Land und ein Ort, wo die mystische Anwesenheit der Ahnen zu spüren war.

|78|Er fuhr auch hierher, um Freunde zu besuchen. Nicht nur Oswald Pohl, den Chef des SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamts, der ein Gut bei Ravensbrück besaß. Auch andere NS-Größen hatten hier Landbesitz und kamen regelmäßig zur Jagd. Für Himmler war das Jagen aber „reiner Mord“. Seinem Masseur und Vertrauten Felix Kersten gegenüber äußerte er: „Wie können Sie nur ein Vergnügen daran haben, auf die armen Tiere … aus dem Hinterhalt zu schießen?“ Ein Mann wie Göring dagegen „schießt … alles, was ihm vor die Flinte kommt“.2 Kersten war angestellt worden, um die chronischen Magenkrämpfe zu lindern, an denen Himmler seit seiner Kindheit litt. Der aus Livland stammende Masseur – Himmler nannte ihn angeblich seinen „magischen Buddha“ – sollte sowohl den Schmerz wegmassieren wie den Theorien seines Patienten über die Herrenrasse lauschen.

Niemand aus der NS-Führung glaubte fanatischer an die Ideologie der Herrenrasse als der Reichsführer SS und keiner war so besessen von damit verwandten Theorien. Himmler kannte sich bis ins Kleinste mit indischer Mystik und Freimaurertum und ihrem Verhältnis zu Ideen der Rassenhygiene aus. Der britische Historiker Hugh Trevor-Roper, der Himmler genau studierte, bemerkte: „Mit solch engstirniger Pedanterie, mit solcher Buchstabentreue studierte Himmler die Einzelheiten dieses traurigen Schundes, daß viele, jedoch fälschlicherweise angenommen haben, er sei ein Schulmeister gewesen. … Natürlich hätten wir weniger von Himmler gehört, wäre er nur verschroben gewesen.“ Er war daneben auch ein effizienter Manager.3

Nur wenige Wochen nach Kriegsbeginn belohnte Hitler Himmlers Effizienz an der Front mit der Ernennung zum Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums. Damit verbunden war der Auftrag, alle unerwünschten Menschen aus dem gerade eroberten Polen zu entfernen und das Land zu einem perfekten Wohnort für ein rassisch gesäubertes deutsches Volk zu machen. Im Januar 1940 war die Durchführung bereits im Gange. Himmler hatte die Bevölkerung des Warthegaus und des Danziger Korridors schon deportiert und dort Volksdeutsche aus dem Baltikum angesiedelt. Auch die polnische Führungsschicht wurde festgenommen und zwei Millionen polnischer Juden in Reservate im Generalgouvernement des besetzten Polen deportiert. Wohin diese Juden schließlich kommen sollten, hatte Hitler noch nicht entschieden, aber viele in seiner Umgebung vermuteten, man werde sie weiter nach Osten drängen oder sogar nach Afrika deportieren – ein Plan schlug ihre Ansiedlung in der französischen Kolonie Madagaskar vor.

Trotz des größten je gemachten Experiments in Völkerverschiebung hatte Himmler jetzt Zeit, nach Ravensbrück zu kommen, um lokal begrenztere Experimente zu inspizieren. Er hatte auch ein Treffen mit Oswald Pohl |79|angesetzt, der ein eigenes Experiment durchführte. Auf seinem nahe gelegenen Gut versuchte Pohl, verschiedene Hühnerrassen zu züchten, und Himmler, der ebenfalls Hühner gezüchtet hatte, war auf die Ergebnisse gespannt.

Das Kreischen von Rädern in vereisten Fahrrinnen meldete dem Lager die Ankunft Himmlers. Gruppen von Gefangenen standen knietief im Schnee, um einen Fußweg zu graben. Auf dem vereisten See hackten andere Frauen Eis für die Vorratskammer des Lagers. Die schwächsten brachen oft dabei zusammen und hielten noch die Äxte in den erfrorenen Händen. „Manchmal mußten die Leichen losgehackt werden, weil sie am Eis festgefroren waren“, erinnerte sich Luise Mauer.4

Vor der Kommandantur hielt der Wagen des Reichsführers. Der gerade zum Sturmbannführer beförderte und offiziell als Lagerkommandant bestätigte Koegel kam heraus, um ihn zu begrüßen. Gefolgt von Langefeld gingen die Männer durchs Lager, um die in Reihen angetretenen aufgeregten Aufseherinnen zu inspizieren. Dann ging Himmler mit Koegel in dessen Büro, um sich genau über den andauernden Widerstand der Zeuginnen Jehovas zu informieren. Die Weigerung dieser Frauen, Postsäcke für die Armee zu nähen, war in den letzten Wochen zu einem umfassenden Protest angewachsen, den Koegel nicht brechen konnte, und der Lagerkommandant schäumte vor Wut.

Viele Gefangene erinnerten sich später an den Protest, der von der außergewöhnlichen Unnachgiebigkeit der gläubigen Frauen geprägt war. Zuerst mussten sie stundenlang in Eis und Schnee stehen, bis mehrere mit Erfrierungen zusammenbrachen. Sobald Koegels neuer Zellenbau fertig war, wurden die Frauen dort eingesperrt, je neun in einer Zelle, in völliger Dunkelheit und ohne Nahrung. Dennoch hatte noch keine Einzige aufgegeben.

Koegel bat Himmler nun um mehr Macht, um sie zu brechen. Das einzige Mittel seien Schläge, so beharrte er. Willkürliche Schläge gab es jeden Tag, aber Koegel bat um die Autorisierung zum Gebrauch der Prügelstrafe wie in den Männerlagern. Diese „offizielle“ Prozedur bestand darin, Gefangene mit dem Bauch nach unten auf einen hölzernen Bock zu schnallen und ihnen 25 Peitschenhiebe aufs Gesäß zu geben. Eine solche Strafe konnte nur von Himmler persönlich autorisiert werden und bisher hatte er das verweigert. Warum er sie in Ravensbrück nicht anwenden wollte, ist unbekannt, aber wir wissen, dass Johanna Langefeld das Auspeitschen für unnötig hielt und das auch ausgesprochen hatte.

Himmler wollte zunächst die Zeuginnen Jehovas in ihren Zellen sehen, bevor er eine Entscheidung traf. Koegel war stolz auf sein neues Gefängnis. Der von jungen Fichten umgebene Steinbau war undurchdringlich. Dorothea Binz, die Försterstochter, und Maria Mandl, eine erfahrenere österreichische Aufseherin, waren zu seiner Begleitung ausgewählt worden, was |80|sie fast so mächtig wie Johanna Langefeld machte – und gewiss noch gefürchteter. Keine andere Aufseherin durfte ohne Koegels Erlaubnis hinein.

Bei Himmlers Ankunft am 4. Januar 1940 saßen die Zeuginnen Jehovas seit drei Wochen im Bunker. Eine Aufseherin schloss eine der Türen auf. Himmler und Koegel erspähten im Dunkel einen Haufen hungriger, frierender Frauen in einer feuchten, stinkenden Zelle. Die Frauen beteten. Himmler äußerte, es gehe ihnen schlecht.

Zu dieser ersten Gruppe gehörten Erna Ludolph und Marianne Korn, deren weiße Kopftücher kaum zu sehen waren, als sie stumm in der eiskalten Dunkelheit beteten. Beide hatten mindestens fünf Jahre in Gefängnissen verbracht, weil sie sich weigerten, ihren Glauben aufzugeben; beide waren auch unter denen gewesen, die während des Aufruhrs in Lichtenburg „wie die gebadeten Mäuse“ nass gespritzt worden waren.

Als Himmler erschien, war es der 21. Tag ihres Zellenarrests, erinnerte sich Erna Ludolph: „Er ließ sich eine Zellentür aufmachen und erschrak über das Aussehen der Häftlinge. Er sagte … ‚Habt ihr immer noch nicht eingesehen – euer Gott hat euch doch verlassen! Wir können mit euch doch machen, was wir wollen!‘“ Eine der Zeuginnen Jehovas antwortete ihm: „Der Gott, dem wir dienen, der kann uns auch erretten, und tut er es nicht – euch dienen wir nicht!“5 Die junge Ruth Bruch fragte er, ob sie bereit sei, ihrem Glauben abzuschwören. „Ich sagte ihm aber, daß ich Gottes Gesetz beachte und dies würde Christen verbieten, in den Krieg zu ziehen und Menschen zu töten. … ‚Schäme dich, Mädchen!‘ waren seine letzten Worte und er ging raus.“6

Himmler und Koegel gingen die Lagerstraße entlang und der Kommandant sprach andere wichtige Punkte an, die sich oft aus dem Kriegsverlauf ergaben. Die Festnahmen in Polen bedeuteten etwa, dass täglich mehr Polinnen eintrafen; bald würde man neue Baracken brauchen.

Der jüdische Block war bereits voll, ebenso der Strafblock, der sich mit neuen „Asozialen“ füllte. Das Revier konnte die vielen mit Wunden bedeckten Kranken nicht mehr aufnehmen, die Schlange standen, um sich behandeln zu lassen, meist trugen sie schwarze oder grüne Winkel. Für den Kommandanten waren sie alle „Trutschen“, „Schlampen“ und „Huren“, aber Himmler drückte sich nur selten so aus; für ihn waren sie „unnütze Esser“ und „unwertes Leben“, Begriffe die nicht von den Nationalsozialisten erfunden wurden. Auch Ausdrücke wie „leere menschliche Hüllen“ und „Ballastleben“ waren seit dem 19. Jahrhundert in der Eugenik in Deutschland und vielen anderen Ländern, vor allem den USA, gebräuchlich. Obwohl Koegel nichts davon wissen sollte – dafür war die Sache viel zu geheim –, hatte Himmler schon Pläne, was er mit ihnen machen würde. Im Januar 1940 hatte die Vernichtung „unwerten Lebens“ begonnen – nicht |81|in den Konzentrationslagern, sondern in deutschen Heilanstalten und im Namen der Euthanasie.

Hitlers Absicht, die geistig und körperlich behinderten Deutschen auszumerzen – einschließlich der Blinden, Tauben, Stummen und Epileptiker –, um die Rasse zu verjüngen (und die Kosten für den Staat zu senken), war in der Partei seit Langem bekannt, doch der Führer hatte sich stets vorsichtig bewegt, besorgt um die öffentliche Meinung im In- und Ausland. Er wusste, dass ein solches Programm des Massenmords durch kein Gesetz zu autorisieren war, egal, wie man es verhüllte, aber der Deckmantel des Krieges würde seinen kriminellen Charakter verbergen. Deshalb wartete Hitler bis zum Kriegsbeginn, bevor er im Oktober 1939 anordnete, mit dem Morden zu beginnen. Die öffentliche Reaktion war immer noch nicht genau vorherzusagen, darum entwickelte man eine detaillierte Legende, um die Deutschen ebenso zu täuschen wie mögliche Beobachter im Ausland.7

Zunächst wurde in der Kanzlei des Führers ein eigenes Büro für das Euthanasieprogramm eingerichtet, das den Decknamen T4 von seiner Adresse in der Berliner Tiergartenstraße 4 trug. In bestehenden Krankenhäusern und Heilanstalten wurden Mordzentren eingerichtet – fünf in Deutschland, eines in Österreich – und eine „Kommission“ aus Ärzten, die Stillschweigen geschworen hatten, sollte die unheilbar Kranken und die Geistesgestörten untersuchen.

Viele praktische Arrangements sollten die Vorgänge verschleiern. Eine Gemeinnützige Kranken-Transport GmbH (Gekrat) wurde für den Bustransport gegründet und Angestellte in den Heilanstalten lernten, Lügenbriefe an die Angehörigen der Toten zu schreiben.

Die Entscheidung über die Mordmethode war schwieriger. In Polen hatte Himmler befohlen, alle Geisteskranken zu erschießen, aber in Deutschland wurde die Massenerschießung von Anstaltsinsassen verworfen; sie würde den Vorgang aufdecken. Nach einigen Diskussionen unter den leitenden Ärzten einigte man sich darauf, Kohlenmonoxid zu verwenden. Ein Vorschlag war, das Gas in Anstaltsschlafsäle zu leiten, während die Patienten schliefen. Andere schlugen vor, Gas durch Duschköpfe in eine eigens gebaute abgedichtete Kammer zu leiten. Man beschloss die Erprobung der Gaskammeridee im früheren Zuchthaus in Brandenburg, einem der für T4 ausgewählten Mordzentren. Das Resultat war zufriedenstellend und wurde Himmler höchstwahrscheinlich kurz vor seinem Besuch in Ravensbrück mitgeteilt.

Nach der Inspektion wollte Himmler rasch in Koegels Büro zurück, wo sein Freund Pohl wartete, um mit ihm über Geflügel zu reden. Auch Johanna Langefeld wollte mit Himmler sprechen und betrat den Raum, als seine Diskussion |82|mit Pohl begann. Sie wollte sich gegen Koegels Forderung nach Prügelstrafen aussprechen, aber als sie sein Büro betrat, wurde sie Zeugin einer seltsamen Szene, die sie Grete Buber-Neumann nach dem Krieg beschrieb:

Die Besprechung mit Himmler fand in Gegenwart der gesamten Lagerobrigkeit und einer Reihe von SS-Aufseherinnen in einem Büro der Kommandantur von Ravensbrück statt. Himmler saß neben einer Aufseherin, die auf dem in der Nähe gelegenen Gutshof des SS-Funktionärs Pohl die Hühnerzucht betreute. Diese Aufgabe faszinierte den „Reichsführer“ offenkundig nicht nur als Rassenforscher, sondern auch als Diplomlandwirt.8

Langefeld versuchte, mit Himmler über Koegels Forderung nach der Prügelstrafe zu reden, und hoffte, der Reichsführer werde ihrer Meinung sein, aber er hörte gar nicht zu, „sondern unterhielt sich angeregt über die Erfahrungen und Erfolge bei der rassischen Veredelung von Hennen“.

Langefeld berichtete Grete, sie habe davon gewusst, dass Koegel hinter ihrem Rücken versuchte, Himmler für seinen Plan zu gewinnen. „Ihr wurde klar, daß Koegel damit seine sadistischen Gelüste befriedigen wollte.“ Der Kommandant hatte sogar behauptet, die Hiebe seien notwendig, um Langefeld zu schützen, und erzählte Himmler fälschlich, „ein weiblicher Häftling [habe] die Langefeld mit einem Messer bedroht“.

Grete schrieb über Langefelds Schilderung, ihr sei klar gewesen, dass schon zu diesem Zeitpunkt eine „unheilvolle Verwirrung“ in deren Bewusstsein geherrscht habe. „Wie aber musste es im Kopf einer Frau aussehen, die auf der einen Seite den Rassenirrsinn, den Antisemitismus befürwortete, während sie sich andererseits zerquälte, weil man Frauen zu Stockprügel verurteilte?“

Langefeld blieb in Koegels Büro und konnte schließlich mit dem Reichsführer sprechen. Nach seinem Gespräch über Geflügel „verfügte er, ohne die Einwände der Langefeld auch nur anzuhören, die Einführung der Prügelstrafe für weibliche Häftlinge“, schrieb Grete.

Die inhaftierten Zeuginnen Jehovas waren aber nicht die ersten, die ausgepeitscht wurden. Stattdessen wies Himmler Koegel an, sie aus dem Zellenbau zu entlassen und zu harter Arbeit im Schnee einzuteilen. Er schien begriffen zu haben, was Koegel nicht sah: Die Zeuginnen würden ihren Glauben nicht verleugnen, wie sehr man sie auch schlug. Außerdem waren sie, abgesehen von ihrer Weigerung, Kriegsarbeit zu leisten oder den Führer anzuerkennen, musterhafte Gefangene; es widersprach ihrem Glauben, zu lügen oder zu flüchten, und sie waren ausgezeichnete Hausangestellte. Nicht lange nach seinem Besuch befahl Himmler also, die Zeuginnen Jehovas in SS-Unterkünften als Putzfrauen zu verwenden – er bot sie sogar Oswald Pohl für sein Gut an.

|83|Vor seiner Abfahrt aus Ravensbrück unterzeichnete Himmler den Entlassungsbefehl für eine deutsche Kommunistin, die im Juli zu fliehen versucht hatte und seitdem im Zellenbau eingesperrt war. Ihre Entlassung wurde um dreieinhalb Monate auf den 20. April, Hitlers 51. Geburtstag, vordatiert. Es war üblich, am Geburtstag des Führers Gefangene zu entlassen.

Einen Monat nach Himmlers Besuch fanden die ersten Auspeitschungen in Ravensbrück statt. Die Opfer waren Mariechen Öl und Hilde Schulleit, die man beim Diebstahl eines Topfs Schmalz erwischt hatte. Himmler hatte die Schläge persönlich genehmigt; nach den neuen Anweisungen musste der Reichsführer jedes Mal sein Einverständnis geben.9

Gemäß den Anweisungen war auch ein Arzt anwesend und die Oberaufseherin Langefeld musste zusehen. Der Bock stand in einer Zelle, die Frauen wurden mit dem Gesicht nach unten festgeschnallt und, nachdem ihre Röcke hochgehoben waren, bekam jede 25 Schläge aufs Gesäß. Diesmal führte Koegel selbst die Peitsche.

Als die Prügelstrafe in Kraft trat, saßen viele neue Gefangene in den Zellen, die von den Zeuginnen Jehovas geräumt worden waren. Marianne Wachstein, die im vorigen Sommer in einer der hölzernen Zellen gesessen hatte, hatte unermüdlich gegen ihre Behandlung protestiert und wurde darum Anfang Februar 1940 in den neuen Zellenbau gesperrt. Ebenso wie den ersten Gefängnisbau beschrieb sie auch diesen und auch diesmal erinnerte sie sich deutlich an alle Einzelheiten, weil sie alles gleich nach ihrer Entlassung drei Wochen später niederschrieb. Ihre Aufzeichnungen springen sogar von der Vergangenheit ins Präsens, weil sie weiß, dass die Ereignisse, die sie beschreibt, weitergehen.

Marianne schrieb, sie sei Anfang Februar 1940 zu Langefeld gebracht worden, und erfuhr, ihr Vergehen sei „Beschimpfung des Staates“ und die Strafe dafür 28 Tage im neuen Zellenbau. Als sie protestierte, sagte Langefeld, die Strafe käme von Koegel.

Man brachte sie in die Zelle, „ohne Rücksicht darauf, dass ich blutende, gefrorene Füße hatte, dass ich schon so abgehungert war, dass jede Rippe an mir zu zählen ist, die Haut mir stellenweise wie ein entleerter Sack hängt“. Sie wurde ohnmächtig und Zimmer versuchte, sie zu wecken, indem sie „bei der Öffnung, wo man das Essen hineinhielt, Wasser auf mich schütten liess“. Als das nichts half, befahl Zimmer einer Gefangenen, Marianne durch dieselbe Öffnung mit einem Besenstiel zu schlagen. „Ich war dann als ich durch den Stockhieb zu mir kam … ganz nass u. musste damals in tiefstem Winter in nassem Kleid u. nassen Potschen (Schuhe gibt es in Einzelzelle nicht mehr) einige Tage verbleiben.“10

Eine Aufseherin öffnete Mariannes Tür, um sie zu beleidigen:

|84|Frau Aufseherin Kolb … öffnete die Türe meiner Zelle u. sagte: „Da stinkt’s“ u. schloss schnell die Tür. Ich darauf: „Entschuldigen Frau Aufseherin, es kann nicht stinken, ich wasche mir 3x täglich den Körper.“ Sie darauf: „Alle Juden stinken“ und ich hatte das Gefühl noch ein Wort von mir und sie schlägt mich. Ich schwieg. Das nächste Mal, als sie zwecks Nahrung wieder öffnete sagte sie wieder: Da stinkts u. schloss schnell die Tür.

Marianne begegnete im Zellenbau anderen Gefangenen, darunter Alma Schulze, „Arierin, [wurde] einmal so verprügelt, dass sie fortlaufend, sogar in der Nacht auch, schrie: ‚meine Augen, meine Augen‘ und sie fürchte sich ihr Augenlicht zu verlieren“. Die „irrsinnige“ Opernsängerin Hedwig Apfel war seit ihrer Zeit im hölzernen Zellenblock nicht entlassen worden. Marianne hörte sie schreien.

Es wurde noch schlimmer, Mariannes „feuchte, stockfinstere Kerkerzelle“ lag im Untergeschoss.

Ich war … in Zelle 15, die so feucht war, dass die Wand, wo das Fenster war, fast ganz mit schwarzen Schimmeltupfen bedeckt war. In Einzelhaft darf man … keinerlei Beschäftigung nachgehen und nicht lesen, noch schreiben, gar nichts, nur den ganzen Tag am Schemel sitzen, es gibt auch keinen Spaziergang. … trotzdem ich ein sehr abgehärteter Mensch bin, fror ich erbärmlich, mit aufeinanderklappernden Zähnen, ausgehungert saß ich im Stockfinsteren mit blutenden Füßen den ganzen Tag.

Nach einigen Tagen wurde Marianne freigelassen. Als sie hinausging, hörte sie Apfel „schon nicht mehr wie einen Menschen, sondern wie ein Tier schreien. Ich vermute aber, dass noch eine 2te Irre dort ist, denn man hörte noch eine andere Stimme, die nichts menschenähnliches mehr an sich hatte.“ In ihrem Bericht schrieb sie, es sei genau am 23. Februar 1940 gewesen, dem fünften Arresttag, als „mich Gott durch den Transport hieher herausgeführt“ hat. „Hie“ war das Wiener Krankenhaus, in dem sie sich nun erholte. Die Rückreise nach Wien war das ganze Gegenteil zu ihrer Albtraumfahrt ins Lager im Nachthemd vor neun Monaten.

Während Marianne in einem Berliner Gefängnis auf ihren Platz im Zug wartete, behandelte ein Arzt die Erfrierungen an ihren Füßen mit Salbe und in anderen Gefängnissen auf dem Weg nach Wien erfuhr sie noch mehr Menschlichkeit und bekam „reichlich sehr gutes Essen“, sogar „täglich zum Frühstück zum echten Roggen-Doppelbrot entweder Butter oder feine Zucker-Marmelade“.

Bei der Ankunft in Wien wurde Marianne ins Krankenhaus eingewiesen. Die Umstände ihrer Rückkehr sind unklar, aber wir wissen, dass sie freigelassen |85|wurde, um im Prozess gegen ihren Ehemann auszusagen, der in Zusammenhang mit seinem jüdischen Familienbetrieb der Korruption angeklagt war. Wegen ihrer schlechten Gesundheit konnte sie aber nicht gleich aussagen, darum durfte sie sich erholen und gewann im Krankenhaus die Kraft, ihren Bericht über Ravensbrück zu schreiben, den sie an einen Hofrat Dr. Wilhelm bei Gericht adressierte.

Marianne hatte keine Angst, ins Lager zurückgeschickt zu werden, darum übte sie keine Selbstzensur und formulierte ihren Bericht sogar als Zeugenaussage. Ebenso, wie sie geglaubt hatte, in Ravensbrück gegen den SS-Lagerkommandanten protestieren zu können, als stamme er aus einer normalen Welt, meinte sie nun, das Wiener Gericht werde ihren Warnungen Gehör schenken und die Naziverbrecher auf der Grundlage ihrer Aussage anklagen. Sie schlug sogar vor, ihre Vorwürfe durch Anwälte prüfen zu lassen, indem sie mit anderen Zeuginnen im Lager sprachen, und nannte einige österreichisch-jüdische Frauen wie Toni Hahn, Anny Schmauser, Luise Olschewsky und Käthe Piskal. Sie erwähnte auch die österreichische Kommunistin „u. Arierin“ Susi Benesch, die mit ihr im Bunker gewesen war.

„Zur Wahrheitsfindung wäre es jedoch notwendig, dass man die Zeugen von Ravensbrück wegführt um sie einzuvernehmen, da sich dort keine trauen dürfte die Wahrheit zu sagen, denn es sind dort mittelalterliche Strafen – z.B. wie geschildert die Zwangsjacke, ferner Prügelstrafe 25-Hiebe, Strafstehen.“

Als Marianne ihren Bericht über Ravensbrück schrieb, hatte sie keine Ahnung, wohin die von ihr geschilderten Ereignisse führen würden. Zu diesem Zeitpunkt wurden die ersten Vergasungszentren für Hitlers neues Euthanasieprogramm gerade eingerichtet. Ihr Bericht spricht darum zu uns vor dem Holocaust und seine Arglosigkeit ist verblüffend. Dennoch glaubte Marianne offensichtlich, als Zeugin eines schrecklichen Verbrechens sei sie von Gott befreit worden, um es der Welt mitzuteilen.

Nicht lange nach der Abfassung ihres Berichts wurde Marianne Wachstein wieder nach Ravensbrück deportiert und starb im Februar 1942 als eines der ersten Ravensbrücker Opfer in den Mordzentren der Euthanasieverbrechen. Wer auch immer ihren Bericht in Wien erhielt, hielt ihn während des Kriegs zurück und Mariannes Warnung an die Welt kam erst Ende der 1950er Jahre ans Licht, als er anonym ans Gedenkarchiv des Lagers geschickt wurde.

Ohne Haar und ohne Namen

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