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|115|Kapitel 7 Doktor Sonntag
ОглавлениеWie alle anderen Gefangenen lebte Olga in fast ständiger Furcht vor dem Winter. Nur in den ersten Frühlingswochen dachte sie nicht daran, ab dem Sommer wurde sie von der Aussicht auf den ersten Schnee heimgesucht. „Für mich ist nun das Leben im Sommer leichter u. hoffe ich nur nicht noch einen Winter hier zubringen zu müssen“, schrieb sie im Juni 1940 an Leocadia und Ligia.
Im Augenblick weckte der leichtere Sommer angenehme Gedanken an Anita, die „viel Sport“ treiben solle. „Über ihre Veranlagungen möchte ich wissen, ob u. worin sie ihrem Vater ähnlich ist.“1
Es gab sogar wieder Hoffnung auf Haftentlassung, die sich in der Erwähnung einer Geldüberweisung zeigt. Die kurz zuvor erfolgte Freilassung von Marianne Wachstein hatte vielleicht ihren Optimismus wiederbelebt.
Nicht lange, nachdem sie das schrieb, wurde Olga aber wegen der Aufführung des Theaterstücks in den Bunker gesperrt. Dass es von Juli bis November 1940 keinen Brief gibt, legt nahe, dass sie und die fünf anderen bis zum Beginn des Winters eingesperrt waren, und er wurde kalt; Aufseherinnen fanden tote Gefangene, am Boden festgefroren. Olgas Brief vom November an Carlos – der noch im brasilianischen Gefängnis saß – spielt auf ihre Einkerkerung an: „Doch wenn man schon so viel Zeit hinter sich gebracht hat, muss es möglich sein, noch ein bisschen mehr zu schaffen. … Informiere unsere Lieben über dieses Lebenszeichen von mir, … Ich habe jetzt auch wieder die Erlaubnis, Zeitung zu lesen.“2
Als Olga aus dem Bunker zurückkam, fand sie viele Veränderungen vor. Werkstätten wurden gebaut. Es gab über 1000 neue Gefangene und zwei neue Baracken. Die Polinnen waren die größte Gruppe und übten mehr Autorität aus.
Olga hatte ihre Stellung als Blockälteste verloren und wurde der Ziegelkolonne zugeteilt. Jeden Tag legten Lastkähne mit Backsteinen für die neuen |116|Gebäude am Ufer des Schwedtsees an. Die Frauen bildeten eine Kette und warfen sie einander zu, bis der Kahn entladen war. Olgas Hände waren hart, aber die zarteren Hände von anderen waren zerrissen und wurden gefühllos, als die Erfrierungen einsetzten. Manche bekamen einen Papierverband oder einen Tupfer Jod im Revier, aber nicht die Jüdinnen. SS-Standortarzt Walter Sonntag weigerte sich, Juden zu behandeln.3
Im Dezember hörte Olga wieder von Carlos und Leocadia legte ein Foto von Anita bei. „Voller Bewunderung betrachte ich ihr Bild – ihr Gesichtchen unterscheidet sich so sehr von dem des Babys, das ich kannte“, antwortete Olga und bat, nicht die Hoffnung aufzugeben, weil „ich mich jetzt – was mich verwundert – in mein Schicksal füge und nur so schnell wie möglich das Ende des Winters herbeisehne“.4
Dass Olga eine Zeitung gesehen hatte, beweist ihren Kontakt zu Genossinnen in den anderen Blocks. Zu den Ereignissen, über die berichtet wurde, gehörten zweifellos Hitlers Eroberung Frankreichs, Belgiens und der Niederlande. Im Völkischen Beobachter hätte sie die Propaganda lesen können, nach der England kurz davor stand, um Frieden zu bitten. Hitler hatte sogar einen Pakt mit Italien und Japan geschlossen.
Doch wie lange würde Hitlers Pakt mit Stalin dauern? Für Olga und ihre kommunistischen Genossinnen war das die wichtigste Frage überhaupt. Die Frauen sagten sich, Stalins Absicht werde sich bald zeigen. Olga aktualisierte ihren Miniaturatlas, der den Frontverlauf zeigte, und begann mit kleinen Papierfetzen ihre eigene Miniaturlagerzeitung zu schreiben.
Himmlers Dienstkalender verzeichnet für den 14. Januar 1941: „10.30 Abfahrt nach Ravensbrück. Besichtigung des Frauenkonzentrationslagers. Besichtigung von Ravensbrück. Übernachtung in Ravensbrück.“5 Ein Jahr nach seinem ersten Besuch fuhr Himmler erneut durch den mecklenburgischen Winterwald und diesmal übernachtete er. Höchstwahrscheinlich blieb er nicht direkt in Ravensbrück, sondern ein paar Kilometer weiter auf einem kleinen Gut im Wald namens Brückentin, das er gekauft und zum Wohnort seiner Geliebten Hedwig Potthast gemacht hatte. Die 28-Jährige war seit 1936 seine Sekretärin und, als sich 1940 die Beziehung zu seiner Ehefrau verschlechterte, wurde sie seine Geliebte. Er nannte sie „Häschen“.6
Sich eine Geliebte zu nehmen, stand völlig in Übereinstimmung mit Himmlers Ansichten über außereheliche Beziehungen. Er hatte 1937 die Lebensborn-Heime gegründet, wo SS-Offiziere mit ausgewählten arischen Frauen für den ständigen Nachschub an rein arischen Kindern sorgen sollten. Am 28. Oktober 1939 erließ er einen „Fortpflanzungserlass“, der SS-Männer aufforderte, Kinder außerhalb der Ehe zu zeugen, damit so viele |117|Kinder wie möglich geboren würden. Das brauchte nicht einmal heimlich getan zu werden.
Sein eigener Nachwuchs war etwas anderes. Vielleicht aus Rücksicht auf Häschen – er schien echte Zuneigung zu ihr zu hegen – stellte er sicher, dass ihre Rendezvous geheim blieben, und wählte als Liebesnest ein einfaches Forsthaus am Rand des kleinen Dorfs. Häschens Eltern waren gegen die Liaison ihrer Tochter mit Himmler, darum wollte sie die Beziehung geheim halten.
Brückentin war zugleich abgelegen und bequem. Da es nur etwa zehn Kilometer von Ravensbrück entfernt lag, konnte Himmler einen Besuch bei Häschen mit einem Lagerbesuch verbinden und Letzteres als Deckmantel benutzen. Gleich hinter dem Dabelowsee lag das Dorf Comthurey, wo Himmlers Freund Oswald Pohl ein Gut besaß; Pohls Frau hatte angeboten, ein Auge auf Häschen zu haben. Wenige Kilometer weiter lag Hohenlychen mit seinen berühmten Heilanstalten unter Führung der SS. Viele hohe Offiziere und NS-Größen kamen und ließen sich hier von Professor Karl Gebhardt behandeln, der bereitwillig seinem alten Freund Himmler half, indem er auf dessen Geliebte im Nachbardorf achtete.
Obwohl Himmler auch an Häschen dachte, war ihm der Januarbesuch in Ravensbrück wichtig. Er wollte Besprechungen im Lager führen und besonders Walter Sonntag, den Standortarzt der SS, treffen. Sogar der Schnee war vom Ziergarten vor Dr. Sonntags Büro weggefegt; das Revier war komplett gereinigt worden und das ganze Lager roch nach feuchtem Holz.
Seit seinem letzten Besuch hatten sich Himmlers Prioritäten verändert. Polen war unterworfen und sollte umgeformt werden, um das vom Führer versprochene deutsche Utopia zu werden. Ein neues Konzentrationslager in Oświęcim – Auschwitz – war für polnische Widerständler eingerichtet worden. Und die zwei Millionen Juden des Landes wurden aus ihren Häusern vertrieben und in Ghettos und Reservate im „Generalgouvernement“ gepfercht, dem annektierten, aber nicht ins Deutsche Reich eingegliederten Teil Polens.
Trotzdem war noch keine offizielle Lösung vorgeschlagen worden – höchstens vielleicht vertraulich –, was mit den Juden als Nächstes zu tun sei. Da Hitler nun Pläne für den Überfall auf die Sowjetunion schmiedete, um den Großteil der russischen Landmasse zu erobern, bestand eine Idee darin, die Juden hinter den Kaukasus zu vertreiben und dort zu lassen. Eine solche Lösung schuf aber eigene Probleme; die Juden mussten irgendwie unfruchtbar gemacht werden, sonst würden sie nie verschwinden. Es überrascht daher nicht, dass Himmler Anfang 1941 auch über Massensterilisation |118|nachdachte. Er hatte mit seinen bevorzugten Ärzten besprochen, ob solche Experimente in Ravensbrück durchgeführt werden sollten.
Mit der Aussicht auf eine neue Front im Osten dachte Himmler auch darüber nach, wie Ravensbrück und andere Lager ihre Ressourcen besser für die Kriegsanstrengung nutzen könnten. Zu Beginn hatte man Zwangsarbeit vor allem als Mittel von Quälerei und Disziplin benutzt, aber der Krieg schien länger zu dauern als erwartet und die Arbeitskraft der Gefangenen wurde nun nützlicher eingesetzt.
Auch die damit verbundene Frage, was mit den nicht arbeitsfähigen Gefangenen geschehen solle, beschäftigte Himmler. Über ein Jahr zuvor hatte Hitlers Euthanasieprogramm T4 begonnen und in diesem Zeitraum waren über 35.000 deutsche Männer, Frauen und Kinder, die dem Regime als Last für die staatlichen Ressourcen galten, mit Kohlenmonoxid in den geheimen Gaskammern einiger deutscher Sanatorien ermordet worden. Auch in Polen hatte man die T4-Methoden angewandt: Geistig und körperlich behinderte Menschen wurden in fahrbaren Gaswagen getötet.
Der Reichsführer SS besaß keine Autorität über das Euthanasieprogramm, wurde aber bei der Durchführung stets konsultiert. Nur wenige Wochen vor seinem Besuch in Ravensbrück intervenierte Himmler persönlich, als es in der Heilanstalt Schloss Grafeneck, südwestlich von Stuttgart, zu einer Krise kam.
Der alte Wagenschuppen des Schlosses war im Dezember 1939 zu einer Gaskammer umgebaut worden und in den nächsten 12 Monaten wurden 10.000 körperlich und geistig behinderte Männer und Frauen mit Bussen nach Grafeneck gefahren und ermordet. Im Lauf des Jahres 1940 begannen die Busse der Gemeinnützigen Kranken-Transport GmbH aber, Aufsehen zu erregen, und ein privater Informant berichtete: „In den Ortschaften um Grafeneck wird schon seit vielen Wochen gemunkelt, daß im Schloß nicht alles in Ordnung sein könne.“ Dort seien Patienten angekommen, „von denen man aber nie mehr etwas gesehen habe, und die man auch nicht besuchen könne“, und auch der „öfters aufsteigende Rauch“ sei verdächtig.7
Im November schrieb die Adlige und überzeugte Nationalsozialistin Else von Löwis einen Brief an die Ehefrau eines hohen NS-Richters und bat sie, Hitler mitzuteilen, dass die Morde die Loyalität der örtlichen Bevölkerung belasteten. Sie nahm an, der Führer wisse nichts davon, da kein Gesetz zu ihrer Autorisierung erlassen worden sei. Man müsse die Entscheidungsgewalt über Leben und Tod juristisch regeln. Die Morde hinterließen „ein Gefühl entsetzlicher Unsicherheit“ bei der örtlichen Bevölkerung. Man frage sich: „Wohin wird dieser Weg uns führen und wo wird die Grenze sein?“8
Else von Löwis’ Brief wurde an Himmler weitergeleitet, der sofort reagierte. Der Brief berührte eine wunde Stelle, denn er unterstrich die Risiken, |119|den Massenmord an Bürgern dort auszuführen, wo gewöhnliche Deutsche in der Nähe wohnten und ihn bemerken mussten.
Himmler gab die Anweisung, „Grafeneck einschlafen zu lassen“, um die Unruhe zu beenden. „Wenn die Angelegenheit so publik wird, wie offenkundig dort, so liegen Fehler in der Durchführung vor.“ Offensichtlich war der Fehler das Publikwerden der Morde, nicht das Töten an sich, denn kurz nach der Schließung von Grafeneck wurden zwei neue, aber besser getarnte Mordzentren in Deutschland eröffnet. Und das T4-Programm sollte nicht nur ausgeweitet werden, Himmler plante nun auch, seine Vergasungsmethoden zu übernehmen. Anfang 1941 fragte er bei T4-Chef Philipp Bouhler, dem Leiter der Kanzlei des Führers, an, „ob und auf welche Weise man das Personal und die Einrichtungen der T4 für die Konzentrationslager nutzbar machen könnte“.9
Beim Betreten des frisch geputzten Reviers für sein Gespräch mit Dr. Sonntag konnte Himmler selbst sehen, wie notwendig es war, „unnütze Esser“ loszuwerden. Die kleinen Krankenräume waren voller bleicher Gesichter und der Korridor voller geschwächter nackter Frauen, die auf die Behandlung warteten. Doch die neuen Vergasungspläne waren wahrscheinlich zu unfertig – und zu geheim –, um sie mit einem bloßen Lagerarzt zu besprechen. Stattdessen sprach Himmler gegenüber Dr. Sonntag das weit drängendere Problem der Gonorrhö an.
In diesen Wochen wies Himmler seinen obersten Arzt Ernst Grawitz an, Sonntag mit Experimenten an Prostituierten in Ravensbrück beginnen zu lassen, um eine Behandlungsmethode für Gonorrhö (Tripper) zu finden, und er wartete begierig auf Ergebnisse.10 Himmler war seit Langem von medizinischen Experimenten fasziniert und der Krieg hatte seinem Interesse eine neue Zweckbestimmung gegeben – die Lebenserwartung deutscher Soldaten zu steigern. Wo ließen sich Experimente besser durchführen als an den menschlichen Versuchskaninchen in den Konzentrationslagern? Im Männerlager Sachsenhausen hatte man Senfgas an Häftlingen getestet, um eine Heilungsmethode für vergiftete Frontsoldaten zu finden, und in Dachau wurden Häftlinge dem Sauerstoffmangel ausgesetzt, um herauszufinden, bei welcher Höhe ein Pilot sterben würde.
Die Anwesenheit zahlreicher infizierter Prostituierter in Ravensbrück eröffnete die Chance, Mittel gegen Syphilis und Gonorrhö zu suchen. Auf Himmlers Befehl wurden Soldaten ermutigt, Bordelle an der Front zu besuchen. Er glaubte, regelmäßiger Sex werde ihre Motivation zu kämpfen steigern, vor allem, wenn sie gegen Geschlechtskrankheiten geschützt wären. Doch nun erfuhr er mit Unwillen von Sonntag, dass die Experimente noch gar nicht begonnen hatten. Grawitz hatte die Anweisung offenbar nicht weitergegeben, weil er es entweder vergessen hatte oder unqualifizierten Lagerärzten wie Sonntag diese Aufgabe nicht zutraute.
|120|Sonntag war hauptsächlich zum Zahnarzt ausgebildet und seine medizinische Qualifikation war begrenzt, aber Himmler hielt viel von ihm, denn er hatte die Senfgasexperimente in Sachsenhausen ausgeführt. Sonntag hatte nicht gezögert, die Haut von Häftlingen mit tödlichen Bakterien zu infizieren, was riesige Schwellungen und schreckliche Schmerzen hervorrief. Der Reichsführer SS wies Sonntag also an, ohne weiteren Aufschub mit den Gonorrhötests in Ravensbrück zu beginnen.
In seiner makellosen schwarzen Uniform, das Abzeichen der SS-Totenkopfverbände an der Mütze, war der hochgewachsene Walter Sonntag eine auffallende Gestalt, wenn er mit einem Bambusstöckchen im Stiefelschaft die Lagerstraße entlang zum Krankenhaus ging. Gefangene erinnerten sich an seine Adlernase, das eckige Gesicht und die großen Ohren. Sie erinnerten sich auch an seine ungewöhnliche Körperkraft; wenn er eine Frau schlug, fiel sie stets zu Boden.
Der Beamtensohn Sonntag wurde 1907 in Metz im damals deutschen Lothringen geboren. Die Herkunft aus einer so umkämpften Grenzregion – Deutschland und Frankreich hatten seit Jahrhunderten um Lothringen gekämpft – regte schon früh seinen Nationalismus an. Beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurden die Dörfer, die er kannte, zu Schauplätzen neuen Blutvergießens. Der Vertrag von Versailles legte fest, dass die Sonntags wie Tausende anderer gedemütigter Deutscher das Land verlassen und woanders ein neues Leben beginnen mussten. Sein Vater fand Arbeit in der Landwirtschaft und Walter verbrachte seine Kindheit mit Tieren. Nach dem Schulabschluss studierte er Zahnmedizin und näherte sich den Nationalsozialisten an.
Sonntag arbeitete zunächst als Zahnarzt, wechselte dann aber zur Allgemeinmedizin, zweifellos angezogen von der wichtigen Rolle, die Ärzten in Hitlers neuem Rassenkrieg übertragen wurde. Er trat 1933 der NSDAP und wie Hunderte anderer Medizinstudenten auch der SS bei. Ärzte waren die in der SS am stärksten vertretene Berufsgruppe.
Die NS-Ideologie der Rassenhygiene war Mitte der 1930er Jahre bereits ein zentraler Teil des medizinischen Lehrplans. Ärzte sollten die germanische Rasse als Ganzes kurieren, statt sich auf den Einzelnen zu konzentrieren. Um die Volksgesundheit zu heben, wurde von Ärzten erwartet, „rassisch minderwertige“ Personen auszusondern, damit der deutsche Genpool sich reinige und gedeihe.
1939 begann Sonntag eine Dissertation über „soziale Medizin“, in der er die Ideen des Führers mit denen der Spartaner und der Gelehrten des Mittelalters verglich, die Leprakranke hätten töten lassen, wenn religiöse Skrupel es nicht verhindert hätten. Er äußerte auch seine Ansichten über Sterilisierung: „Die dauernde größere Vermehrung der weniger wertvollen Bestandteile |121|innerhalb eines Volkes, der Erbkranken und Asozialen, im Gegensatz zu den Wertvollen, muß zur Verschlechterung der Beschaffenheit des gesamten Volkes führen.“ Doch nach 1933 hatte die Staatsführung „durch eine zielbewußte Gesetzgebung die Volksentwicklung in die richtigen Bahnen gelenkt“.11 Der katholische Glaube seiner Jugend war für Sonntag offensichtlich kein Hinderungsgrund mehr, ebenso wenig die Tatsache, dass seine Schwester Hedwig an multipler Sklerose litt, die sie für eine Strafe Gottes für die Heirat mit einem Protestanten hielt.
Es gehört zu den vielen Anomalien des NS-Systems, dass Konzentrationslager überhaupt eine Einrichtung wie ein Krankenhaus besaßen. Alles an den Lagern schien darauf ausgelegt, die Gesundheit der Insassen zu zerstören und sie letztlich auf die eine oder andere Weise zu töten, nicht zu behandeln oder zu heilen. Doch, wenn man gesunde junge Gefangene als Zwangsarbeiter wollte, lag es nahe, ihre alltäglichen Krankheiten zu behandeln. Außerdem hatten die Nazis große Angst davor, dass ansteckende Krankheiten von den zusammengepferchten, unterernährten Lagerinsassen auf die Bevölkerung übergreifen könnten. Eine der Hauptfunktionen der Krankenhäuser war es darum, den Ausbruch tödlicher Seuchen zu verhindern.
Als Sonntag die Arbeit in Ravensbrück begann, besaß das Revier noch einige Merkmale eines normalen Krankenhauses. Das in einer normalen Baracke untergebrachte Lazarett hatte einen Krankensaal mit 60 Betten für die Schwerkranken. Ihre Temperatur wurde gemessen und, wenn sie bei einer Frau unter 39 Grad fiel, wurde sie zur Arbeit zurückgeschickt. Es gab einen voll ausgestatteten Operationssaal, eine Apotheke, Röntgenausstattung und eine Pathologie. Bei den täglichen „Sprechstunden“ konnte sich theoretisch jede Gefangene anstellen, um sich untersuchen zu lassen. Die beiden Ärztinnen Dr. Jansen und Dr. Gerda Weyand hatten an angesehenen Universitäten studiert. Ihnen unterstanden die ausgebildete Krankenschwester Lisbeth Krzok, „Schwester Lisa“, und mehrere andere Schwestern in der braunen Uniform der NS-Schwesternschaft.
An den täglichen Verletzungen und Erkrankungen der Häftlingsfrauen, die jeden Morgen in Fünferreihen vor dem Reviereingang Schlange standen, war aber nichts Normales. Sie klagten über Hundebisse, Wunden von Schlägen und Erfrierungen. Ebenso wenig normal war die Art, wie Schwester Lisa, die als Krankenhausschreck bekannt war, die Gefangenen anschrie, ruhig zu sein, sie sich ausziehen ließ und sie schlug, während sie warteten. Dr. Jansen saß stundenlang mit einem Kaffee da und schwatzte, bis die Sprechzeit vorbei war und die Patientinnen unbehandelt weggeschickt wurden. Die andere Ärztin, Gerda Weyand, zeigte hingegen mehr Geduld und Menschlichkeit gegenüber den Häftlingsfrauen. Sie befragte sie über ihre Symptome, untersuchte sie und schlug oder beschimpfte sie nie.
|122|Auch die bloße Anwesenheit von Funktionshäftlingen verlieh dem Revier einen gewissen Anschein von Normalität. Wie anderswo im Lager hatte man sich Gefangener zur Unterstützung bedient und nun übernahmen sie praktisch die Verwaltung des Reviers. An einem Tisch im Korridor saßen Häftlingsschwestern mit Bandagen, Salbe und Medikamenten. Umgeben vom Gedränge der Gefangenen taten sie ihr Bestes, um Furunkel, Ekzeme und Schnitte zu behandeln. Die Gefangenenärztin Doris Maase, die nachts im Krankenhaus schlief, kümmerte sich noch um Kranke, nachdem alle anderen längst weg waren.
Und in der Registratur saß eine Frau mit vollem roten Haar und hellen Augen. An der Wand neben ihr hing das Bild einer Sonnenblume, aus einer Zeitschrift gerissen, die ein SS-Arzt liegen gelassen hatte. Die vor Kurzem aus Prag eingetroffene Milena Jesenska war Journalistin und hatte eine Liebesbeziehung mit Franz Kafka gehabt. Nun trug sie die Resultate von Abstrichen bei „asozialen“ Gefangenen als Teil von Sonntags Testprogramm ein. Hier saß auch Erika Buchmann, groß, blond und blauäugig. Sie war früher Sekretärin eines Reichstagsabgeordneten der KPD gewesen und tippte jetzt als Reviersekretärin lange Krankenlisten ab, die von den Blockältesten eingereicht wurden.
Diese Frauen – Maase, Buchmann, Jesenska – mussten sauber bleiben, um im Krankenhaus arbeiten zu können, darum lebten sie in einem privilegierten Block und durften die Kleidung häufiger wechseln als gewöhnliche Gefangene. Wie andere Funktionshäftlinge trugen sie besondere Armbänder – für das Revier waren sie gelb –, die ihnen Bewegungsfreiheit im Lager erlaubten. Diese Freiheit und ihre Fähigkeit, manchen Gefangenen zu helfen, verliehen ihnen ein schwaches Gefühl der Normalität. Seit der Ankunft von Dr. Sonntag war es jedoch mit der Normalität vorbei.
An seinem ersten Tag sahen ihn alle an der Reihe wartender Frauen entlanggehen, wobei er die Schwächsten mit Stiefeln trat und bei jedem Schmerzenslaut mit dem Stock zuschlug. Er befahl einer Frau, sich ausziehen, und trat sie in den Magen. Was die Frauen am meisten erschreckte, war nicht seine Brutalität, sondern sein Lächeln.
Dass Sonntag ein Sadist war, bezweifelte keine der Gefangenen, die mit ihm im Krankenhaus arbeiteten. Es war ihm ein „besonderes Vergnügen“, gesunde Zähne zu ziehen. Wenn Frauen mit einem vereiterten Zahn zu ihm kamen, zog er stattdessen einen völlig gesunden Backenzahn. „Dieses Ziehen geschah in allen Fällen ohne Narkose oder sonstige Betäubung“, erinnerte sich Erika Buchmann.12
Nach dem Krieg sagte Erika über Gräueltaten aller Art in Ravensbrück aus, doch nichts, was sie später sah, beschrieb sie mit solcher Klarheit wie Sonntags Umgang mit den erschöpften Frauen, die im Winter 1940 mit Erfrierungen ins Revier kamen:
|123|Ich habe oft gesehen, dass Dr. Sonntag mit einem Stöckchen in der Hand vor die Patientinnen trat, mit dem Stöckchen auf die Wunden schlug, die die Frauen von Erfrierungserscheinungen II. und III. Grades hatten, und mit diesem Stöckchen auch selbst die bereits damals aus Papier bestehenden Verbände wegriss. Es machte ihm besondere Freude, mit dem Stöckchen in den blossliegenden offenen, blutenden und eitrigen Wunden herumzustochern.13
Nichts genoss Sonntag so sehr wie die Gelegenheit, eine Frau als gesund genug für die Prügelstrafe zu erklären. Eine der Pflichten des Lagerarztes bestand darin, zu entscheiden, ob eine zu 25 Hieben auf dem Bock verurteilte Frau stark genug war, dies zu überleben. Die Regeln besagten, dass Frauen mit hohem Fieber oder akuten Krankheiten nicht geschlagen werden dürften, aber Sonntag schickte sie stets auf den Bock. Er ließ die Hiebe nur unterbrechen, wenn die Frau ohnmächtig wurde, dann nahm er ihren Puls und ließ die Bestrafung fortsetzen, sobald der Puls sich stabilisierte. Wenn er aus einer der Zellen kam, wo die Bestrafung stattfand, war er immer besonders guter Laune.
Sonntag genoss nicht nur das Leiden der Gefangenen, sie ekelten ihn offensichtlich auch an. Er hasste sie und schien sie manchmal sogar zu fürchten, darum blieb er auf Distanz zu den Patientinnen und untersuchte sie, wenn überhaupt, mit seinem Stock. Unter den Erinnerungen an seinen Sadismus sind aber auch Bilder einer grotesken und oft lächerlichen Figur. Er war ein Lüstling und Dieb – häufig stahl er aus den Lebensmittelpaketen von Gefangenen – und stolzierte gern prahlerisch mit seinem Stöckchen umher. Oft sah man ihn betrunken durchs Lager toben.
„Als ich einmal mit anderen Häftlingen vom Arbeitseinsatz zurück kam und wir uns die vom Ziegelstein-Abladen offenen Finger verbinden lassen wollten, hat uns Dr. Sonntag mit Fußtritten aus dem Revier getrieben. Er war dabei betrunken“, erinnerte sich die Gefangene Maria Apfelkammer.14 Er war auch betrunken, als er ein andermal mit dem Fahrrad um den Operationstisch herumfuhr. Sonntags Eskapaden brachten Koegel zur Weißglut. Der Oberarzt weigerte sich, die Autorität des Lagerkommandanten anzuerkennen. Er hielt ihn und die meisten seiner Untergebenen für vulgär und ungebildet. Vor allem hasste er Koegel, weil dieser ihm keines der begehrten SS-Häuser am See gab. Da Sonntag unverheiratet war, bestand Koegel darauf, dass er in Fürstenberg wohnt.
Walter Sonntag bereitete nicht nur gern Schmerzen, er ertrug es auch nicht, wenn andere gegenüber Kranken und Leidenden Freundlichkeit zeigten. Eine Tages erwischte er eine Frau namens Vera Mahnke dabei: „Ich steckte gerade einer Jüdin, die im Strafblock war, ein Stückchen Brot durch den Drahtgitter zu, als Dr. Sonntag vorbeikam. Ohne mich erst zu fragen, was ich tat, schrie er mich an: ‚Was! Du altes Schwein, Du Miststück! Du |124|gibst hier der Jüdin ein Stück Brot!!??‘ und fing an mich mit den Fäusten zu verprügeln. Er schlug und trat mich so lange, bis ich bewusstlos wurde.“15
Besonders verabscheute Sonntag Juden. Vom Bürofenster aus beobachtete er angeekelt, wie die jüdische Ziegelkolonne abends von Staub und Schweiß bedeckt in ihren Holzpantinen zurück durchs Lagertor schlurfte. Die Frauen hatten es im Sommer nicht leichter als im Winter. Alle hatten Sonnenbrand und die Frauen, die noch nicht lange im Lager waren, waren ein erbärmlicher Anblick. Die Frauen, „denen die Haut bis aufs Fleisch durch diese Arbeit herunterhing, bekamen ebenfalls keinen Verband“, erinnerte sich Doris Maase.16
Manchmal bat die Kolonnenführerin im Revier um Bandagen, wusste aber, dass dies nur in Sonntags Abwesenheit möglich war. Und auch, wenn es Bandagen gab, wurden sie nie gewechselt, sodass die Wunden binnen weniger Tage eiterten und von Maden wimmelten. Einmal sah Erika Buchmann eine alte Frau aus einer solchen Kolonne auf allen Vieren ins Krankenhaus kriechen. „Der Anblick dieser Kranken war schrecklich, die Verbände hingen in Fetzen von den Beinen.“17
Ein anderes Mal ging Olga Benario vorüber. Ihre Hände waren aufgerissen und bluteten, aber, statt sie zu beschimpfen oder zu treten, schien Sonntag zum allgemeinen Erstaunen Mitleid zu empfinden und bot ihr Hilfe an. Nach zwei Jahren im Lager hatte Olga bei vielen Angehörigen des SS-Personals und bei anderen Gefangenen einen starken Eindruck hinterlassen. Vielleicht hatte Sonntag ihre hochgewachsene dunkelhaarige Gestalt auf der Lagerstraße gesehen, als er gerade mit Doris Maase sprach. Sie muss solchen Eindruck auf ihn gemacht haben, dass „Sonntag, der größte Halunke ihr erlaubte, mit Handschuhe zu arbeiten“, erinnerte sich Maria Wiedmaier.18
Sonntag zeigte auch Interesse und sogar widerwilligen Respekt für bestimmte Gefangene, die im Revier arbeiteten. Obwohl Doris Maase Halbjüdin war, verließ er sich auf ihre medizinische Erfahrung. „Maase, Maase, wo ist Maase?“, rief er oft, wie andere vor ihm. Er machte Erika Buchmann zu seiner Sekretärin und ließ sie selten aus den Augen, so abhängig war er von ihren Fähigkeiten. Ebenso wenig konnte er seine Bewunderung für Milena Jesenska verbergen, deren Aufmerksamkeit er ständig suchte. Eines Tages bot er ihr die Reste seines Frühstücks an, die sie aber entschieden ablehnte. Ein anderes Mal berührte er sie im Korridor des Reviers mit seinem Bambusstöckchen unter dem Kinn, worauf Milena es beiseitestieß. Später erzählte sie, Sonntag habe sie angestarrt und ihre Verachtung gesehen.19 Von da an unterließ er seine Avancen, schaute aber beiseite, wenn Milena anderen Frauen half.
Die Gefangenen, die für Sonntag arbeiteten, gewannen sicherlich ein gewisses Maß an Einfluss oder sogar Macht. Maase schmuggelte Medikamente |125|heraus. Jesenska vertauschte manchmal Patientenkarten von geschlechtskranken Frauen, um sie vor Sonntags Skalpell zu bewahren. Buchmann fand Gelegenheiten, kranke Gefangene aus den Arbeitskolonnen zu streichen. Und dennoch war der Preis für die Macht, anderen zu helfen, hoch; die meiste Zeit mussten sie Sonntag helfen, sie mussten seine Spritze halten, ihm chirurgische Instrumente reichen, Schriftstücke für Berlin schreiben und seine Listen führen.
Nach Himmlers Besuch im Januar 1941 begann Sonntag neue Listen zu führen. Zunächst listete er Frauen auf, die an Gonorrhö und Syphilis litten, und versuchte, eine Heilungsmethode zu finden. Es sind keine Dokumente über die Art seiner Experimente erhalten, aber alle wussten, dass sie stattfanden. Es war Milena Jesenskas Aufgabe, die Kartei der geschlechtskranken Frauen zu führen. Bei jeder neuen Patientin mit Verdacht auf Infektion wurde eine Blutprobe genommen und nach Berlin ins Labor geschickt. Die Resultate gingen zurück an Milena, um sie einzuordnen. Da sie von Sonntags „barbarischen Kuren“ wusste, versuchte sie so oft wie möglich, die Resultate zu fälschen oder in den Akten verschwinden zu lassen.20
Sonntag hatte auch begonnen, sich an Sterilisierungen zu versuchen. Inzwischen hatte Himmler mehrere neue Vorschläge für Massensterilisierungen erhalten. Ein Wissenschaftler behauptete, der Saft einer Pflanze namens Caladium seguinum (Elefantenohr) mache unfruchtbar, und Himmler fand die Idee so interessant, dass er die Pflanze in einem Treibhaus ziehen ließ, um sie an Gefangenen zu erproben. Eine andere Option war die Sterilisierung von Männern und Frauen durch starke Röntgenstrahlen. Die größte Hoffnung setzte Himmler in die Arbeit von Professor Carl Clauberg, der Frauen einen Reizerreger in den Uterus spritzte. Himmler fragte Clauberg, wie lange man brauche, um 1000 Frauen zu sterilisieren, und schlug ihm später vor, es in Ravensbrück auszuprobieren.21
Unterdessen wandte Sonntag seine eigenen Methoden an – die wir auch nicht kennen –, aber seine Versuchskaninchen scheinen zufällig ausgewählt worden zu sein. Doris Maase bemerkte, dass Sonntag die Vorstellung nicht ertrug, polnische oder tschechische Gefangene sprächen kein Deutsch; wenn eine dies behauptete, erklärte er sie für verrückt und wählte sie zur Sterilisierung aus. Hanna Sturm erinnerte sich, dass sie zwei Romamädchen im Alter von neun und elf Jahren zu Sonntag brachte, die er zu sterilisieren versuchte. Nach der Operation brachte sie beide zurück in ihren Block und „diese Kinder wurden später (1–2 Tage später) tot in ihren Betten aufgefunden“.22
Immer mehr schwangere Frauen kamen nach Ravensbrück. Von Anfang an hatte Himmler darauf bestanden, dort dürften keine Geburten stattfinden und alle Schwangeren sollten zur Entbindung in ein reguläres Krankenhaus gebracht werden, aber die wachsende Anzahl an Neuzugängen bedeutete, |126|dass die Diagnosen nicht immer stimmten. Das machte es notwendig, im Revier Abtreibungen vorzunehmen. Ohne ausgebildete Kräfte nahm Schwester Lisa die Operationen vor und verpfuschte sie oft grausam. Die Gefangenen sagten, Schwester Lisa „geriet in Sonntags Bann“; sie schien Gefallen an der grausamsten Arbeit zu finden und zeigte anderen stolz das Resultat vor, wie Erika Buchmann sich erinnerte:
Eines Tages kam eine junge, besonders schöne Zigeunerin zur Entbindung in den Operationssaal. Nach einiger Zeit meldete man aus dem OP, dass sie an einer während der Geburt eintretenden Embolie verstorben sei. Schwester Lisa erzählte, dass das Kind halb außerhalb, halb innerhalb der Mutter sei und forderte uns auf, uns „das“ anzusehen. Unter anderen weigerte auch ich mich, in den OP zu gehen. Daraufhin nahm mich Schwester Lisa kurzerhand beim Arm und zwang mich vor das Bett. Sie zog das Tuch von der Toten und ich musste sehen, was ich nicht sehen wollte. Ich glaube, dass man als Frau nicht schlimmer handeln kann, sowohl an der Toten als an der Lebenden, als Schwester Lisa das in diesem Moment tat, zweifellos nur aus Sadismus. Ich möchte hinzu fügen, dass ich heute noch das schreckliche Lachen Schwester Lisas bei meinem Entsetzen vor mir sehe.23
Schwester Lisa war aber nicht die Einzige, die in Dr. Sonntags Bann geriet. Mehrere Monate nach seiner Ankunft bemerkten die Häftlingsfrauen, dass die Ärztin Gerda Weyand ihr Verhalten änderte. Zunächst hatte sie als anständig gegenüber den Gefangenen gegolten, aber nach Sonntags Ankunft vernachlässigte sie ihre ärztlichen Pflichten und schien die Schmerzen der Patientinnen zu ignorieren.
Bald stellte sich heraus, dass Sonntag und Weyand eine Affäre hatten. Vor dem Hamburger Prozess schrieb Weyand an Erika und bat sie, für sie auszusagen. Erika lehnte ab und erinnerte Weyand an die Gräueltaten, an denen sie beteiligt gewesen war.
Im Sommer 1941 heirateten Gerda Weyand und Walter Sonntag. Damit stieg Sonntag in der SS auf und das Paar zog in eine gut ausgestattete Villa mit Zentralheizung auf der Wiese, die zum See hin abfiel. Inzwischen war das schön angelegte SS-Wohnviertel ein idyllischer Ort, um eine Familie aufzuziehen. Die Ehepaare konnten ihren Nachwuchs in einen Kindergarten am Seeufer bringen, den die Zeuginnen Jehovas beaufsichtigten, während sie zur Arbeit ins nur wenige Minuten entfernte Lager gingen. Ältere Kinder kamen in die Schule in Fürstenberg.
Wie andere SS-Familien hatten auch die Sonntags Hausangestellte, ausgewählt unter zuverlässigen Gefangenen. Sie suchten sich Hanna Sturm aus. Gerda schrieb später an Walter, sie sei nie glücklicher gewesen als in Ravensbrück, aber Hanna Sturm sagte später aus, sie habe Sonntag oft seine |127|Frau schlagen sehen. Manchmal betrank er sich so sehr, dass er Hannas Anwesenheit vergaß, während er seine neue Frau schlug.24
Walter Sonntag gibt selbst einen Einblick in das Leben seiner Familie in Ravensbrück in den Briefen, die er nach dem Verlassen des Lagers im Dezember 1941 an Gerda schrieb. Inzwischen war es Max Koegel, der Sonntag nicht ausstehen konnte, gelungen, ihn an die Front nach Leningrad versetzen zu lassen. Die Sonntags hatten sich aber geweigert, ihre SS-Villa aufzugeben, obwohl Koegel sie hinauszuwerfen versuchte. Gerda Weyand, die ihr erstes Kind austrug, war zur Entbindung in Ravensbrück geblieben.
In seinen Briefen aus Leningrad blickte Walter Sonntag oft auf sein Leben in Ravensbrück zurück. Er nannte seine Frau „Dickerchen“ und fragte nach der Villa, den Möbeln, dem Auto und den Hühnern: „sehe zu ‚ dass alles geregelt ist. … Mein liebes gutes Dickerchen Wagen, Hühne[r ?], …, Kellerfenster abholen u. zumachen lassen, … Wie regelst du die Sache mit den Hühnern, Tauben, Hund?“ Er fragte auch, ob sie die Quittung für eine Weinbestellung über 200 Mark beim örtlichen Weinhändler noch habe.25
Die Briefe zeigen Sonntags Zorn über seine Behandlung vor der Abreise, vor allem aus Anlass der Ernennung der neuen Ärztin Herta Oberheuser, die er als persönliche Kränkung auffasste. „Lb. Gerda, Du glaubst nicht, wie oft ich an Dich denke u. was für Sorgen ich mir mache wenn ich mir Dich jetzt dort ohne mich vorstelle, einer Furie von Oberhäuser mit evtl. Anhang ausgeliefert u.s.w.“ Er bittet Gerda, nicht so zu hart zu arbeiten, weil es ihr das „Dreckvolk“ nicht danken werde, womit er das SS-Personal meint.26
In einem Brief beklagt er sich, dass Gerda wie andere SS-Ehefrauen oder gar die Aufseherinnen behandelt wird, und schreibt: „Liebes Dickerchen, wir stehen doch haushoch über diesen Menschen. … Wenn Dich Seitz u. Kögel mit Aufseherinnen auf eine Stufe stellt, so kann einen das, wenn man die Bildung u. die Herkunft ihrer Frauen berücksichtigt nicht weiter wundern.“ Mit der Zeit nehmen diese Briefe einen drohenden Unterton an. Er fragt seine Frau, warum sie nicht geschrieben hat – ob das zu viel verlangt sei? Und was ist mit seinem Mantel für den Leningrader Winter? Ist seine Weinrechnung bezahlt worden?27
Irgendwann Mitte 1941 begann Dr. Sonntag mit dem Morden. Ob Gerda Weyand davon wusste, dass ihr Ehemann kaltblütig Menschen umbrachte, ist nicht klar, aber Doris Maase, die Nachtdienst im Revier hatte, sah ihn das Gebäude mit einer Spritze in der Hand betreten. Wenn er einer Patientin etwas aus medizinischen Gründen injizierte, musste sie normalerweise assistieren. Diesmal nicht. „Wir hörten wie er in ein Zimmer ging und am folgenden Morgen fanden wir in diesem Zimmer eine Leiche.“28
|128|Bis zum Sommer 1941 stieg die Todesrate bei den Gefangenen in Ravensbrück durch Erschöpfung wegen der Zwangsarbeit, durch Krankheiten, Schläge und Erfrieren ständig an. Nun fanden zum ersten Mal auch geplante Hinrichtungen statt. Sonntag injizierte tödliche Substanzen, wahrscheinlich Benzin oder Phenol. Auch hier gibt es keine Beweise, dass er auf direkten Befehl handelte, aber höchstwahrscheinlich tat er es und vermutlich kam der Befehl von Himmler.
Im Frühjahr 1941 hatte Himmler seine Pläne für die Ausweitung des Euthanasieprogramms auf die Konzentrationslager energisch vorangetrieben. Seiner Bitte an T4-Chef Philipp Bouhler, dessen Personal und Einrichtungen zur Tötung „unnützer Esser“ benutzen zu können, war bereitwillig entsprochen worden. Bereits im April 1941 wurden in Sachsenhausen Häftlinge für die Vergasung ausgewählt und Pläne entwickelt, weitere Lager in das Programm aufzunehmen. Unterdessen erhielten Ärzte in Himmlers übrigen Lagern Anweisungen, mit der Ermordung der geistig Behinderten und unheilbar Kranken zu beginnen.
Eine andere Gefangene, die die Injektionen bezeugt, ist die Kommunistin Bertha Teege, die als Lagerläuferin mehr beobachten konnte als die meisten anderen.
Eines Sonntags musste ich mit der Oberaufseherin Zimmer in den Strafblock gehen. Bei dieser Gelegenheit sagte die damalige Blockaelteste des Strafblocks zur Zimmer, dass ein Haeftling Kot gelassen haette. Zimmer aeusserte sich darauf: „Die Sau muss weg!“ Ich bekam von der Zimmer den Befehl, die Frau ins Revier zu fuehren … Am naechsten Morgen war die Frau tot. Ich sah sie selbst als Leichnam. Im Revier wurde mir von Revierhaeftlingen erzählt, dass die arme Frau zwei Stunden, nachdem sie ins Bett gelegt worden war, von der damaligen Revierschwester durch eine Injektion getoetet worden war. Obwohl die Zimmer in erster Linie für diese Toetung verantwortlich war, haette sie dennoch ohne Dr. Sonntags Befehl niemals durchgefuehrt werden koennen.29
Eines Tages sagte eine junge Prostituierte aus Hanna Sturms Zimmermannskolonne, sie könne nicht mehr arbeiten, weil ihr „der Kopf zerspringe“. Sie erzählte Hanna, Sonntag habe sie bestellt und einen Scheidenabstrich gemacht, angeblich ein Test auf Geschlechtskrankheiten. Er befahl ihr, sich umzudrehen, sagte: „Auch Sie sind schon reif“ und injizierte ihr etwas in den Oberschenkel. Wenige Stunden später war die Frau tot. „Eine polnische Mitgefangene, die Aerztin war, erklaerte, als ich ihr die Leiche zeigte, die gänzlich entstellt war, dass es sich hier nur um Benzininjektionen handeln konnte.“30
Sonntags Verhalten in dieser Zeit kam vielen Gefangenen immer unheimlicher vor, nicht nur wegen der Morde, sondern wegen seiner Äußerungen. |129|Es war, als müsse er ein Geheimnis loswerden. Eine Gefangene, die um diese Zeit mit einer Fußverletzung zu ihm kam, erinnerte sich, dass er betrunken damit prahlte, er verbringe die Zeit mit dem Ausstellen von Totenscheinen, aber einmal werde der Tag kommen, wenn alle umgebracht würden.
Ein anderes Mal befahl er seiner Sekretärin Erika Buchmann, durch die Baracken zu gehen und alle Frauen mit schwarzen und grünen Winkeln – die Kriminellen und „Asozialen“ – aufzulisten, die Tätowierungen trugen. Sie sollte, was sie mehrmals an Sonntagen tat, sich diese Tätowierungen selbst ansehen und notieren, welcher Art diese waren, Kopf, Schlange usw. „Beim 2. oder 3. mal fragte ich ihn: ‚Warum und wozu lassen Sie diese Tätowierungen eigentlich notieren?‘ Daraufhin lachte er mich an und meinte: ‚Na, so hübsche Bilderchen kann man doch immer gebrauchen!‘“31
Erika sagte später aus, anderen Gefangenen nie von diesen Tätowierungslisten erzählt zu haben; die Revierhelferinnen sprachen selten über das, was sie sahen. Wenn ein Spitzel mithörte, würden sie ihren Posten verlieren. In jedem Fall konnten sie nicht die Bedeutung dessen erfassen, was sie mitbekamen. Als Sonntag von Erika die Tätowierungsliste wollte, schien er anzudeuten, was kommen würde. Doch erst nach dem Krieg erfuhr sie beim Buchenwald-Prozess, dass die SS aus der tätowierten Haut von ermordeten Häftlingen Bucheinbände, Lampenschirme und andere Trophäen gemacht hatte.
Bis zum Ende des Sommers waren mehrere Frauen aus der Ziegelkolonne Sonntags Mordserie zum Opfer gefallen. Die meisten waren unter der Anstrengung des Sandschaufelns oder Backsteinwerfens zusammengebrochen und für die Arbeit nicht mehr zu gebrauchen. Eines Tages kam Olga mit der Kolonne zurück und trug in den Armen den ausgezehrten Körper einer Frau, dünn wie der eines Kinds. Olga ging zum Krankenhaus und hoffte wohl, Doris Maase anzutreffen, traf aber auf Dr. Sonntag, der sie durchs Bürofenster hatte kommen sehen.
Vielleicht hatte ein letzter Funken Menschlichkeit Sonntag früher dazu gebracht, Olgas Hände zu behandeln und ihr Handschuhe zu geben, aber der Anblick Olgas – einer Jüdin –, die nun um Mitleid für die erschöpfte Gestalt in ihren Armen bat, hatte die gegenteilige Wirkung. Ihre Bitte genügte, um einen ungezähmten Wutausbruch auszulösen, und er brüllte: „Du Judensau, raus mit dir, nimm das Judenschwein wieder mit“ und verjagte sie.32
Er trat Olga und sie stürzte mit der Frau, die sie trug, zu Boden. Olga wurde, so ihre Freundin Maria Wiedmaier, von Sonntag schwer zusammengeschlagen. Sie wurde von Aufseherinnen weggebracht und |130|kam erneut in Einzelhaft im Bunker. Wie lange sie dort blieb, ist nicht genau zu sagen, aber Maria sagte, es seien mehrere Wochen gewesen.
Wieder geben Olgas Briefe einen Hinweis auf den Ablauf der Ereignisse. Im Mai 1941 hatte sie an Carlos geschrieben: „Man hofft vom Herbst auf den Frühling u. denkt voll Sorge dann wieder an den kommenden Winter. Wie lange noch? das ist die einzige Frage, die brennend vor einem steht.“33 Danach gibt es bis September keine Briefe mehr an Carlos oder Leocadia, was nahelegt, dass Sonntags Attacke auf Olga und die zerbrechliche Frau in ihren Armen im Juni stattfand. Höchstwahrscheinlich verbrachte sie den Sommer in einer dunklen Einzelzelle, wo sie Briefe weder schreiben noch empfangen konnte.
Man weiß nicht, wer die Frau war, die Olga zum Krankenhaus trug, und was aus ihr wurde, aber heute ist sie in Olgas Armen als Teil der Skulptur Tragende zu sehen, die auf den Schwedtsee hinausschaut.