Читать книгу Ohne Haar und ohne Namen - Sarah Helm - Страница 7
|VII|Vorwort
Оглавление„Denket, ob dies eine Frau sei, die kein Haar mehr hat und keinen Namen.“ Primo Levi hat uns, die wir in behaglichen Wohnungen leben, mit diesen Zeilen aufgerufen, die Frauen in Erinnerung zu behalten, die von den Nazis in den Konzentrationslagern erniedrigt worden sind. Um der Humanität willen.
Im März 1945 kam meine Mutter Aenne Saefkow aus dem Gefängnis mit dem letzten Transport von Berlin nach Ravensbrück, in diese Hölle für Frauen. Sie lebte mit dem tiefen Kummer im Herzen, dass mein Vater Anton Saefkow im September 1944 hingerichtet worden war und dass sie uns Kinder bei ihrer Verhaftung in Ungewissheit zurücklassen musste. Bei ihrer Ankunft im Lager, verängstigt wie alle, wurde sie zur Entlausung vor die Gefangene Martha Desrumaux gesetzt. Die Französin sagte kein Wort. Aber sie pfiff ihr ein paar Takte eines bekannten Arbeiterliedes ins Ohr und wartete, ob die Eingelieferte reagierte. So spürte meine Mutter im Augenblick tiefer Erniedrigung etwas von jener Solidarität, die Menschen über Grenzen hinweg verbindet, noch bevor ihr deutsche Gefangene halfen, zu überleben. Im Chaos der letzten Wochen gab es keine offizielle Registrierung mehr. Deshalb gab ihr Ilse Hunger, sie arbeitete im Arbeitseinsatzbüro, heimlich die Haftnummer 108.273, die Nummer einer toten Französin. Meine Mutter fertigte sich selbst ein Stoffteil an mit einem roten Winkel und der Nummer. Das rettete sie in Ravensbrück aus noch größerer Lebensgefahr. Meine Mutter hat mir später davon berichtet und mir ihre Freundinnen vorgestellt, die sie selbst so verehrte. Aus verschiedenen Ländern kommend, trafen sie sich bei uns in Berlin. Das war schon die Zeit Mitte der 50er Jahre, als sie gemeinsam begannen, einen Gedenkort für die Frauen von Ravensbrück zu errichten.
Als Jahrzehnte später die englische Journalistin Sarah Helm Kontakt zum Internationalen Ravensbrück-Komitee aufnahm, erzählte ich ihr von meinen vielen und intensiven Begegnungen mit Ravensbrückerinnen. Sarah Helm machte sich auf den Weg, diese und andere Überlebende und deren nächste Angehörige zu befragen, bevor sie ihre Erinnerungen nicht mehr mit uns teilen können. Sarah Helm kam nicht als Erste: Schon früh nach Kriegsende gab es in den einzelnen Ländern Aufzeichnungen über das Grauen von Ravensbrück. Aber ein gemeinsamer Blick auf die Frauen in Ost und West war über Jahrzehnte schwer zu verwirklichen. So verschieden waren die Lebensverhältnisse der Frauen, bevor sie nach Ravensbrück |VIII|deportiert wurden. So unterschiedlich waren die Frauen, die das Lager überlebten. Hier litten und kämpften Frauen aus Polen, Frankreich, Deutschland, der Sowjetunion – Menschen aus insgesamt 20 Ländern und mit etwa 40 verschiedenen Nationalitäten.
Als Sarah Helm sich auf den Weg machte, den Menschen aus Ravensbrück und ihren Lebensgeschichten nachzuspüren, hatte sich der Eiserne Vorhang gehoben und zu Beginn der 90er Jahre waren die Archive geöffnet. Viele junge Wissenschaftler, zumeist Frauen, wollten nachholen, was im Dickicht des Ost-West-Konfliktes über das Frauenkonzentrationslager liegen geblieben war. Was machte dieses Lager so besonders? Wie gelang es politischen Gefangenen, Widerstandskämpferinnen und Rotarmistinnen, Jüdinnen, Zeuginnen Jehovas und auch Frauen, die als „asozial“ stigmatisiert oder wegen sogenannter Rassenschande inhaftiert waren, gemeinsam zu überleben?
In diesen Jahren der letzten noch lebenden Zeuginnen hat Sarah Helm sie besucht und konnte mit ihnen, gerade auch von Frau zu Frau, über das Unaussprechliche reden. Eine unglaubliche journalistische und vor allem menschliche Leistung. Als Historikerin weiß ich, wie mühsam es in jedem Land ist, neues Wissen zutage zu fördern, gerade weil so viele Frauen nie angehört wurden und manche erst spät zu sprechen begannen. Sarah Helm ist das gelungen. Und sie hat ihre Schicksale aus allen Teilen der Welt zu einer Erzählung verbunden. Entstanden ist eine kollektive Biografie, die die Ravensbrückerinnen aus Ost und West wieder zusammenführt, so, wie sie im Lager einst vereint waren.
Wenn ich das Buch in die Hand nehme, durch seine Seiten blättere und lese, dann sehe ich die verschiedenen Frauen vor mir. Ich sehe, wie sie zusammenleben mussten, nach den Regeln der SS, und ich sehe sie täglich um ihr Überleben kämpfen. Sarah Helm stellt die Menschen in den Mittelpunkt, und durch ihre wunderbare Erzählweise gelingt es ihr, die Geschichte von Ravensbrück und die Erfahrungen der Frauen auch allen begreiflich zu machen, die den Überlebenden nicht mehr nahekommen können.
Bärbel Schindler-Saefkow