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|28|Kapitel 2 Die Sandgrube

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„Hände runter! Zu fünfen antreten! Ausrichten!“1 Gruppenweise lässt man die gefangenen Frauen vorwärtsmarschieren, auf ein neues Gebäude zur Rechten des Tores zu, wo das nächste Ritual beginnt: das Bad. Die erste Gruppe tritt ein. Sie nehmen Tische wahr, an denen Aufseherinnen sitzen, und Stapel mit gestreiften Kleidern. Alles muss runter. Die Frauen beginnen sich auszuziehen. „Schnell, schnell.“ Einige stehen da, mit Damenbinden und Gürteln um ihren Leib, und blicken fragend zu den Aufseherinnen, die sie anschreien: „Alles runter.“

Und alles kommt runter, um in große braune Papiertüten geworfen zu werden, zusammen mit den Kleidern und sämtlichen Habseligkeiten. Die Gefangenen geben alles ab: letzte Briefe, Fotografien von Kindern, bestickte Taschentücher, gestrickte Mützen, kleine Körbe, Gedichte, Kämme. Bis nichts mehr übrig ist. Auch Eheringe.

Splitternackt starren die Frauen wieder auf ihre Füße, einige jedoch schauen auf und schreien, als sie die männlichen SS-Offiziere erblicken, die die ganze Zeit in ihrer Nähe gestanden und sie angestiert haben. Die Offiziere lachen und rufen den beschämten und gedemütigten Frauen Beleidigungen zu.

Dann kommen die Aufseherinnen mit den Rasierern und einige der Frauen werden beiseitegezogen. „Beeilt euch, beeilt euch!“ – und das Haar der Gefangenen, die es getroffen hat, wird bis auf die Kopfhaut abrasiert. Dann tritt eine andere Frau hervor. Sie zwingt die Betreffenden, sich breitbeinig hinzustellen, und rasiert ihr Schamhaar.

Binnen weniger Stunden nach ihrer Ankunft am 15. Mai 1939 waren die ersten der 867 Gefangenen, die man von Lichtenburg nach Ravensbrück überstellt hatte, ihrer Kleider entledigt, gewaschen, auf Läuse untersucht und in vielen Fällen rasiert worden, denn die Oberaufseherin duldete kein |29|Ungeziefer. Den Gefangenen wurde die neue Häftlingskleidung ausgegeben: blau-weiß gestreifte Kleider und Jacken, ein weißes Kopftuch, Socken und grobe pantoffelartige Holzschuhe.

Jeder Insassin wurde eine Nummer zugeteilt, die auf ein kleines Stück Stoff gedruckt war. Sie entsprach der Nummer, die sie bei ihrer Ankunft in Lichtenburg bekommen hatten – von 1 bis 867. Den Frauen wurde auch ein farbiger Winkel ausgehändigt. Man gab ihnen Nadel und Faden und befahl ihnen, dieses Kennzeichen an die rechte Schulter ihrer Jacken zu nähen. Der Winkel zeigte an, welcher Kategorie die Gefangene zugeteilt worden war: Schwarz für „Asoziale“ – Prostituierte, Bettlerinnen, Kleinkriminelle, Lesbierinnen; Grün für Kriminelle; Rot für politische Gefangene; Lila für Zeugen Jehovas; Gelb für Juden. Die jüdischen Frauen wurden je nach Verhaftungsgrund unterteilt. Alle Jüdinnen bekamen gelbe Winkel, aber diejenigen, die wegen politischer Vergehen verhaftet und als „Pol. Jude“ registriert waren, trugen ihr gelbes Dreieck auf rotem Untergrund. Die politischen Jüdinnen stellten die größte Kategorie, die jene 97 wegen Rassenschande, Beziehungen mit Nichtjuden, verhafteten Frauen einschloss. Jüdinnen, die als „Asoziale“ aufgegriffen wurden, trugen den gelben Winkel auf schwarzem Untergrund.2

Sobald die Nummern und Winkel angenäht waren, ertönte aus den Lautsprechern eine Sirene und die Frauen stellten sich wieder auf dem Appellplatz auf, bevor sie unter Aufsicht der jeweiligen Blockführer je nach Kategorie in separate Blocks marschierten. Die Jüdinnen wurden in den „Judenblock“ geschickt, nur Olga Benario nahm eine andere Richtung.

Innerhalb der Blocks wurde jeder eine Schlafkoje zugewiesen, eine Schale, ein Teller, eine Aluminiumtasse, Messer, Gabel und Löffel und überdies ein kleines Stofftuch, um die Utensilien abzutrocknen und zu polieren. Jeder Fussel auf diesen Gegenständen wurde Langefeld gemeldet, die genaue Anweisungen über den Vorgang des Polierens erteilt hatte. Wie in der Lagerordnung festgelegt, hatte sich Langefeld die Kontrolle über „weibliche Angelegenheiten“ gesichert, was ihr die alleinige Autorität über die Wohnbaracken gab. Koegel und seinen Männern war es nur in Begleitung einer Aufseherin gestattet, diese zu betreten.3

Zur Körperhygiene erhielt jede Gefangene eine Zahnbürste, einen Zahnputzbecher, ein Stück Seife und ein kleines Handtuch. Ging etwas davon verloren, zog das eine „Meldung“ an die Oberaufseherin nach sich. Jeder Frau war zur Aufbewahrung dieser Dinge ein schmales Regal zugeteilt worden. Wurde etwas falsch eingeordnet, folgte ebenfalls eine „Meldung“.

Wie in allen Lagern bestimmte eine Menge Regeln preußischer Art das „Bettenbauen“, aber Langefeld gab zusätzlich ihre eigenen Anweisungen: Die Kissen sollten so aufgeschüttelt werden, dass die Ecken im rechten |30|Winkel zum Bett standen. Die Matratze absolut glatt zu streichen, war unmöglich, da sie mit Holzspänen gefüllt war.

Alle Frauen erinnerten sich, dass besondere Präzision gefordert war, wenn es um das Falten der blau-weiß karierten Decke am Kopfende ging. „Die Decke musste direkt über dem Kissen liegen und so angeordnet sein, dass ihre Karos absolut gerade entlang der Bettkante verliefen“, so beschrieb es Fritzi Jaroslavsky, eine österreichische Gefangene, die, während sie sprach, nervös am Saum einer Tischdecke herumfaltete.4 „Wenn nur zwei Zentimeter Stoff die Matratze überlappten, dann hatte das zur Folge, dass die Aufseherin hereinkam, ‚Faule Kuh, dummes Miststück‘ und ‚Meldung!‘ schrie, während sie dich trat oder schlug.“

Am schlimmsten waren die Regeln des Appells. Um fünf Uhr morgens weckte eine Sirene das Lager und die Gefangenen mussten aus ihren Blocks marschieren, um sich in Fünferreihen, die Hände seitlich an den Körper gelegt, aufrecht, in militärischer Manier aufzustellen, während das Durchzählen stattfand. Selbst in dieser Anfangszeit dauerte es eine halbe Stunde, die richtigen Zahlen zu ermitteln, und um fünf Uhr morgens blies ein kalter Wind vom Schwedtsee her, der durch die dünnen Baumwollkleider drang. „Achtung Achtung! Hände runter! Zu fünfen antreten!“ Langefeld hielt den Appell manchmal persönlich ab, überließ diese Aufgabe aber für gewöhnlich ihrer Stellvertreterin, Emma Zimmer, die zuvor auch in Lichtenburg gearbeitet hatte. Zimmer, 51 Jahre alt, mit einem „losen Handgelenk“ – sie verteilte gerne Schläge –, lief zwischen den Reihen auf und ab mit einem dicken Aktenordner, den sie den Insassinnen bei der kleinsten Bewegung oder dem leisesten Geräusch um den Kopf schlug. Manchmal, meist, wenn sie betrunken war, begann Zimmer – deren Spitzname bei den Gefangenen „Tante Emma“ war –, mit ihren schweren Stiefeln um sich zu treten.

Langefeld prügelte oder trat niemals, nur manchmal erhielt eine Frau eine Ohrfeige, vor allem während sie „die Meldung“ hörte. Die Gefangene, die ein Vergehen begangen hatte, wurde in Langefelds Büro gebracht, um sich für die Tat zu verantworten – eine verlorene Tasse oder eine falsch gefaltete Decke –, und sie hatte die Möglichkeit, sich zu rechtfertigen. Langefeld gab dann ihr Urteil ab und, wenn die Schuld erwiesen war, ohrfeigte sie die Gefangene und verkündete die Strafe, wie etwa das Reinigen der Toiletten. Langefelds bevorzugte Strafe war es jedoch, die Schuldige für mehrere Stunden ohne Nahrung im Stehen verharren zu lassen. Wenn die stehende Frau in Ohnmacht fiel, ließ man sie eine Weile liegen, bevor man sie wegtrug. Für schwere Fälle sah Langefeld in der Regel den Gebrauch von Zwangsjacken und das Übergießen mit eiskaltem Wasser vor.

Sobald Zimmer das morgendliche Durchzählen beendet hatte, kehrten die Frauen in ihre Blöcke zurück, wo eine schwarze, als Kaffee bezeichnete Flüssigkeit und ein Stück Brot ausgeteilt wurden. Es handelte sich um die |31|Tagesration, die entweder jetzt verzehrt oder für später im Regal aufbewahrt werden konnte. Die Sirenen heulten erneut und die Einteilung in Arbeitskolonnen begann. Die Gefangenen mussten sich wieder in Reihe aufstellen und wurden losgeschickt, um ihre Werkzeuge zu holen und dann Sand zu schaufeln oder eine Straße zu bauen, deutsche Marschlieder singend. Nach ihrer Rückkehr am Abend wurden sie alle erneut gezählt.

Innerhalb weniger Tage waren die meisten der Lichtenburg-Insassinnen nach Ravensbrück gebracht worden. Langefelds Regeln waren verinnerlicht und eine Ordnung war etabliert worden. Die Papiertüten mit den Habseligkeiten der Gefangenen waren in die Wäscherei gelangt, wo die Kleider gereinigt und dann mit einem riesigen Dampfbügeleisen glatt gebügelt wurden. Jedes einzelne Stück wurde dann wieder in die jeweilige nummerierte braune Tüte eingeordnet und in die Effektenkammer nebenan gebracht.

Die Effektenkammer war in vier Räume aufgeteilt. In einem stand ein langer, von Böcken getragener Tisch, auf dem man alle Kleider und Besitztümer der Gefangenen auskippte, um sie sorgfältig zu sortieren. In einem angrenzenden Raum war ein Büro untergebracht, mit zwei Schreibtischen, zwei Schreibmaschinen und einem großen Stahlschrank, der Hunderte von Karteikarten enthielt, auf die Name und Nummer jeder Gefangenen und Angaben über jedes Kleidungsstück und jegliche Habe getippt waren. Kopien der Karteikarten gingen an Langefelds Büro. (Wie Häftlingssekretärinnen berichteten, enthielten einige Gefangenenakten fünf Jahre später, als das Lager befreit wurde, genügend Papier, um drei Quadratmeter damit zu pflastern.)

Wertsachen wurden zur sicheren Aufbewahrung in die Stahlschränke eingeschlossen und gewissenhaft notiert. Die Kleider wurden gefaltet und kamen in ganz neue braune Papiertüten, die an Haken gehängt wurden. In einem großen Dachraum über Langefelds Büro wurden diese Haken an Schienen befestigt. Wenn irgendjemand freigelassen wurde, dann schickte man ihn in die Effektenkammer, wo er seine Nummer einer Arbeiterin gab, die dann auf den Dachspeicher stieg und die entsprechende Kleidertüte mit einem Speicherstock hervorholte.

Als später Gefangene aus Polen, Russland und Frankreich ankamen, brachten einige von ihnen ganze Koffer voller persönlicher Dinge mit, die allesamt in Tüten verstaut und ebenso einzeln aufgelistet wurden, wie Edith Sparmann, eine deutsch-tschechische Gefangene, die in der Effektenkammer arbeitete, berichtete. Die Tüten bestanden aus enorm starkem braunen Papier, das an den Seiten vernäht war. Einer der Räume enthielt nichts anderes als diese braunen Papiertüten, die für große Transporte bereitstanden. „Es häufte sich eine Menge wunderliches Zeug an“, erzählte Edith, die sich auch daran erinnerte, dass Langefeld oft in die Effektenkammer |32|kam, um nach dem Rechten zu sehen. „Sie war nicht so schlecht wie manche von ihnen. Sie erlaubte meiner Mutter, ihren Ehering anzubehalten.“5

In den ersten Tagen wurden den Gefangenen auch Aufgaben in der Küche zugewiesen und die Rationen, die für jeden Block sorgfältig berechnet waren, richteten sich nach der Zählung der Häftlinge am Abend zuvor. Im Revier, der Krankenstation, musste sich jede Gefangene einer Vaginaluntersuchung unterziehen und, wenn eine Frau an Syphilis litt, dann wurde das in ihrer Akte vermerkt.6 Jede Frau, bei der man eine Schwangerschaft feststellte, wurde fortgeschafft, um ihr Kind in einem nahe gelegenen Krankenhaus in Templin zu bekommen. Das Baby wurde zur Adoption freigegeben und die Frau zurückgebracht.

Die Zählung nach den ersten sieben Tagen – einschließlich einiger Neuankömmlinge zusätzlich zu den Gefangenen aus Lichtenburg – ergab eine Gesamtzahl von 974 Lagerinsassinnen.7 Von diesen trugen 114 Frauen rote Winkel (politische Gefangene), 388 lilafarbene (Zeugen Jehovas), 119 grüne (Kriminelle), 240 schwarze („Asoziale“), 137 trugen gelbe (Juden) und einige Kategorien überschnitten sich. Von nun an wurde jedem Neuzugang eine fortlaufende Nummer zugeteilt, sodass für die Aufseher und ebenso für die anderen Gefangenen allein aufgrund dieser Nummer erkennbar war, wer am längsten im Lager und wer erst kürzlich dazugekommen war. Die erste Gefangene, die eine „reine“ Ravensbrücknummer erhielt (was bedeutete, dass sie nicht aus Lichtenburg gekommen war), war eine 37 Jahre alte Deutschlehrerin mit Namen Clara Rupp, die wegen kommunistischen Widerstands festgenommen worden war. Sie kam am 25. Mai an und erhielt die Nummer 1415.

Am Ende der ersten Woche waren die Karten aller neuen Insassinnen abgeschrieben und abgeheftet worden und ihre Kleider hatte man in braune Papiertüten gepackt, die genau über Langefelds Kopf hingen. Und dennoch hatte Langefelds Arbeit gerade erst begonnen.

Johanna Langefelds Büro, das sich in einem gewöhnlichen Block nahe am Tor befand, war nicht so groß wie das aufwendige, aus Stein gebaute Hauptquartier des Kommandanten, aber ihr Block war ideal gelegen. Von ihrem Schreibtisch aus konnte sie den Appellplatz überblicken und vieles beobachten, was dort vor sich ging.

Zudem war ihr Büro gut mit Personal ausgestattet. Reihen von Angestellten und Sekretärinnen saßen an Schreibtischen, während die Gefangenen Schlange standen, um die Einzelheiten ihrer Verhaftung, ihrer Kranken- und Familiengeschichte anzugeben. All das wurde in mehrere verschiedene Akten eingetragen. Langefelds Kurier brachte dann Kopien dieser Auskünfte zu den betreffenden Abteilungen im ganzen Lager.

|33|In der Anfangszeit gab es eine Vielfalt administrativer Angelegenheiten zu erledigen. Es kamen Nachfragen von den Polizeibehörden. Würde das KZ das Entgelt für die Zugfahrt einer Gefangenen übernehmen? Sollte Düsseldorf einen Hut nachsenden? Vom Deutschen Roten Kreuz trafen Briefe mit Informationen über Gefangene ein, die das Internationale Komitee vom Roten Kreuz in Genf eingeholt hatte. Eine Tochter, Tanja Benesch, erbat Nachricht über ihre Mutter Susi. Und Langefeld musste Max Koegel darüber unterrichten, dass die Waschmaschinen des Lagers ausschließlich für die Kleider und Laken der Gefangenen bestimmt waren. Er würde seine Bekleidung andernorts reinigen lassen müssen.

Auch wurden weitere Tätigkeiten an die Häftlinge verteilt. Hanna Sturm, eine österreichische Kommunistin und Schreinerin, wurde angewiesen, Zäune zu errichten und Nägel einzuschlagen. Viele disziplinarische Probleme entstanden. Eine weitere Österreicherin, Marianne Wachstein, kam mit nichts als einem Nachthemd am Leib und wusste nicht mehr, wer sie war.

Hedwig Apfel, die angab, eine Opernsängerin zu sein und aus Wien kam, warf am ersten Tag ihre Matratze zu Boden und hatte seitdem nicht mehr aufgehört, zu schreien. Einige Tage nachdem das Lager in Betrieb genommen war, wurde eine landesweite Suche nach der Sintiza Katharina Waitz, der Trapezkünstlerin, ausgerufen, die abermals entkommen war, auch wenn keiner wusste, wie.

Die Zeuginnen Jehovas verursachten erneut Ärger für Max Koegel, diesmal, weil sie sein Angebot, sie zu entlassen, ausschlugen. Es wurde ihnen gesagt, dass sie im Gegenzug für ihre Freilassung lediglich ein Schriftstück zu unterzeichnen hätten, auf dem stand, dass sie ihrem Glauben abschworen, aber sie alle lehnten das ab und wiederholten, es sei der Führer der Antichrist. Vor allem ihr Aufstand in Lichtenburg hatte Koegel dazu veranlasst, einen Zellenblock für Ravensbrück zu fordern. Er berichtete dem SSObersten Theodor Eicke einige Wochen vor der Öffnung des Lagers: „Außerdem ist es unmöglich, die Ordnung im Lager aufrecht zu erhalten, wenn der Trotz dieser hysterischen Weiber nicht durch strengen Arrest gebrochen werden kann, da im Lager keine anderen empfindlichen Strafen angewandt werden dürfen. Mit Kostentzug allein können sie nicht zur Ordnung gebracht werden.“8

Obwohl dieses erste Ersuchen abgelehnt wurde, sicherte sich Koegel die Erlaubnis, einen gewöhnlichen Wohnblock in einen Strafblock umzufunktionieren, und mehrere „hysterische Weiber“ wurden bald dort hineingesperrt. Der Strafblock lag ein wenig abseits von den anderen Blocks, hinter Stacheldraht. Gefangene wurden dort eingewiesen wegen Vergehen wie etwa wiederholtes Zuspätkommen zum Appell, wenn sie ihr Bett nicht nach den Regeln gemacht oder einem Befehl nicht gehorcht hatten. Die Gefangenen des Strafblocks mussten länger arbeiten, in den schlimmsten |34|Arbeitskolonnen, ohne einen freien Tag. Bestrafungen wie Zwangsjacken oder das Übergießen mit eiskaltem Wasser waren an der Tagesordnung.

Dem Strafblock wurden auf einer Seite einige Isolationszellen aus Holz angegliedert. Die Berliner Gestapo hatte den Bau solcher Zellen gefordert, um darin Gefangene unterzubringen, die noch verhört werden mussten. Bald jedoch kamen auch andere Frauen in Einzelhaft, unter ihnen Marianne Wachstein, die Österreicherin, die „nur mit einem Nachthemd und darüber einen Unterrock (Combination) und Sandalen bekleidet“9 angekommen war. Sie wurde eingesperrt, weil sie sich geweigert hatte, ein Dokument über ihre Verhaftung zu unterschreiben, und dagegen protestierte, dass ihre Menschenrechte verletzt wurden.

Wie Marianne später erläuterte, verweigerte sie ihre Unterschrift, weil sie keine Ahnung hatte, warum sie hier war. 25 Stunden zuvor war sie bewusstlos aus einer Gefängniszelle in Wien geholt worden, in die man sie wegen Beleidigung des Führers gesperrt hatte. „Dann erinnere ich mich nur daran plötzlich im Gefängniswagen aufgewacht zu sein, wie oben bekleidet, allein in einer 2er Zelle. Ich griff und zwickte mich in den Arm, ich glaubte zu träumen. … Im Gefängniswagen frug ich, was mit mir geschehe u erhielt die Antwort, dass ich in eine Nervenheilanstalt komme, was mich freute. Doch als ich von Salzburg weiter auf Transport gebracht wurde, erkannte ich, dass ich ins Altreich verschleppt wurde, dies regte mich fürchterlich auf, so dass ich überhaupt allein nicht mehr stehen, noch gehen konnte.“ Ein Aufseher schrie sie an und begann, ihr Schläge auf den Hinterkopf zu geben, um sie so zum Aufstehen zu zwingen. „Ich konnte aber nicht. Da fing ich an zu brechen und brach und brach, war schon ganz nass u es hörte nicht auf. Da packte er mich, hob mich auf, haute mich auf die Bank hin und schlug die Türe zu.“10 Ohne es zu ahnen, war Marianne in Ravensbrück eingeliefert worden, wo man sie zwingen wollte, ein Dokument zu unterzeichnen, das sie nicht einmal lesen durfte. „… und da ich zur Unterschrift gedrängt wurde, sagte ich klipp und klar, dass ich nicht unterschreibe ohne zu lesen, …, Gott werde mir helfen, dass die Kommunisten schon rächen werden, was an uns geschehe.“11

Zu diesem Zeitpunkt war Marianne zum Kommandanten gebracht worden, der sie 42 Tage lang unter „verschärften Arrest“ stellte, das Höchstmaß gemäß der Strafblockregeln, die mehrere Seiten umfassten. Diejenigen, die zu Einzelhaft unter „einfachem Arrest“ verurteilt waren, bekamen eine Matratze, eine Decke und durften ein wenig Licht in ihrer Zelle haben. Kaffee und Brot wurden einmal am Tag ausgegeben und eine warme Mahlzeit alle vier Tage. Gefangene, die unter „verschärftem Arrest“ standen, bekamen die gleichen Rationen, wurden jedoch in dunkle Zellen gesperrt, ohne Matratze und Decke, mit nichts als einem Eimer.

|35|Koegel entschied über alle Strafblockfälle, ohne Langefeld zu konsultieren, doch ihre Stellvertreterin, Emma Zimmer, die den Block leitete, hielt die Oberaufseherin informiert. Laut Ilse Gostynski waren einige Aufseherinnen in der Anfangszeit offenkundig so unzufrieden mit den herrschenden Bedingungen, dass sie gehen mussten. „Unter anderen war dort eine Aufseherin, die lesbisch veranlagt war, sich aber hochanständig zu den Frauen benommen hat. … Sie war oft total betrunken. … Sie wurde entlassen. … Die Aufseherinnen wechselten oft, weil sie es nicht ertragen konnten, die Häftlinge so zu behandeln, wie es gewünscht wurde. Drei gingen innerhalb von vier Wochen.“12

Langefeld selbst behauptete später, dass sie bei ihrer Ankunft in Ravensbrück immer noch geglaubt hatte, ihre Aufgabe bestünde darin, Prostituierte umzuschulen. Die Wahrheit war, dass sie ein solches Angebot nicht ablehnen konnte, vor allem, wenn es vom Reichsführer SS selbst kam. Sie war nun die wichtigste Frau in Himmlers Lagerimperium. Und allein die Lebensbedingungen waren so verlockend, dass es sehr schwer war, fortzugehen.

Als sie ihre Wohnquartiere in Augenschein nahmen, waren Langefeld und alle ihre Aufseherinnen mit Sicherheit angenehm überrascht. Etliche dieser Frauen waren Witwen oder geschieden und sie waren wie Langefeld von Lichtenburg hierhergekommen, nachdem sie jahrelang in Gefängnissen oder Arbeitshäusern ihren Dienst verrichtet hatten. Eine Frau mittleren Alters mit Namen Ella Pietsch, die als Aufseherin in einem Arbeitshaus ausgebildet worden war, wusste nicht, wo sie sonst hätte hingehen können. Ebenso erging es Jane Bernigau, die zuvor in Waisenhäusern gearbeitet hatte. Beide bewarben sich auf die Stelle in Ravensbrück wegen des Gehalts und der Sicherheit.

Bei anderen handelte es sich um Fabrikarbeiterinnen, die ihre Stelle verloren hatten. Ottilie Lotz bekam den Job durch Zufall. Nachdem ihr Mann gestorben war, zog Lotz nach Lichtenburg, um nah bei ihrer Tochter sein zu können. Sie hatte in der Burg eine Anstellung als Schreibkraft gefunden und war dann zur Aufseherin befördert worden.

Diese weibliche Belegschaft war in schmucken Häusern mit Giebeldach und Seeblick untergebracht, die zwischen Pinien standen. Die Gebäude befanden sich nur etwa 100 Meter vor dem Lager, sodass dieses bequem erreichbar und doch weit genug entfernt war, um nach der Arbeit genügend Abstand zu schaffen. Viele dieser Häuser waren noch im Bau, und ringsherum arbeiteten die Gefangenen – sie wuchteten Ziegelsteine von den Kähnen, die am Seeufer vertäut lagen. Einen Teil dieser Unterkünfte hatte man jedoch bereits fertiggestellt. Im Inneren waren sie stilvoll eingerichtet. Die Zimmer führten zu einem zentralen Treppenhaus und jedes war mit hübschen Vorhängen und neuen Polstermöbeln ausgestattet. Zwei Frauen teilten |36|sich einen Raum und jede von ihnen besaß einen eigenen Kleiderschrank und eine Kommode.

Die Wohnung der Oberaufseherin war geräumiger als die anderen und es wurde ihr gestattet, dort mit ihrem mittlerweile elf Jahre alten Sohn Herbert zu leben. Er würde die örtliche Schule besuchen. Den Müttern wurden Plätze in einem Kindergarten für die Belegschaft versprochen, der bald öffnen sollte – mehrere alleinerziehende Mütter kamen mit ihren Kindern.

Weiter oben am Hang, zwischen den Bäumen, standen die weitläufigen Villen der SS-Offiziere, umgeben von großen Gärten. Die Villa von Max Koegel, der mit seiner Frau Marga dort lebte, war mit Parkettböden ausgestattet und hatte ein elegantes, mit Schnitzereien verziertes Treppenhaus. Ringsum am Gebäude hingen Geweihe und andere Jagdtrophäen. Auch die Veranda war mit Geweihen behängt.

Für alle Lager war es üblich, dass die SS-Unterkünfte, fern ab vom eigentlichen Schauplatz, inmitten schöner Natur lagen. Das sollte bewirken, dass sich das SS-Personal in seiner häuslichen Umgebung wohlfühlte. In Ravensbrück hatten die Männer ihren eigenen SS-Sportplatz, während die Frauen im Sommer auf dem See Boot fahren oder im Wald picknicken konnten.

Für die jüngeren Frauen waren nicht nur Bezahlung und Lebensbedingungen ein Antrieb: die Aussicht, einem gut aussehenden SS-Offizier zu begegnen, bot einen weiteren Anreiz. Für die Lesben hingegen – eine bedeutende Minderheit – hielt Ravensbrück zu einer Zeit, in der die lesbische Liebe und die Homosexualität an sich verachtet wurden, die besondere Möglichkeit bereit, andere Frauen zu treffen. Überdies waren die neuen Angestellten erfreut, dass ihnen eine gut bevorratete Betriebskantine zur Verfügung stand, und in der hübschen Stadt Fürstenberg gab es ein Kino, mehrere Kneipen und einen Friseursalon, der die neueste Dauerwelle anbot. Bereits kurz nach ihrer Ankunft sandten die Frauen Postkarten an ihre Familien und Freunde, auf denen sie stolz über ihren neuen Arbeitsplatz berichteten. Einige ehemalige Aufseherinnen horteten Fotoalben und Tagebücher aus ihrer Zeit in Ravensbrück mit Bildern von ihrer „luxuriösen“ Wohnungseinrichtung.

Die Hundeführerinnen, die einen speziellen Status genossen, machten Fotos, auf denen sie mit ihren Hunden zu sehen sind. Gertrud Rabestein, die Frau, die in Lichtenburg als „Eisen-Gustav“ verschrien war, ließ sich mit Britta, ihrer Deutschen Schäferhündin, vor den Mauern des Lagers aufnehmen.13 Rabestein war geschieden und hatte das Sorgerecht für ihren Sohn verloren. Sie stellte ein Album zusammen, um ihm etwas von ihrem Leben im Lager zu zeigen. Die Hunde wären „auf die Anstaltskleidung dressiert“ worden, erklärte sie später. Gleich neben den Bildern von Gertrud |37|mit Britta zeigten andere glückliche Szenen mit Mutter und Sohn im Urlaub.

Als Rabesteins Nachkriegsprozess geführt wurde, rief man ihren Sohn als Zeugen auf und er sagte aus, ihr Motto habe gelautet: „Landgraf werde hart.“14 Er berichtete weiter, sie habe ihm gerne die Geschichte vom Schmied erzählt, der sein glühendes Eisen schlägt, bis es hart wird.

Die Aufseherinnen lebten sich bald ein und Langefeld wies ihnen die Aufgaben zu. Einigen wurde die Verantwortung für einen Block übertragen, während andere draußen die Arbeitskommandos zu beaufsichtigten hatten. Langefeld erklärte allen, wie sie sich zu verhalten hatten. Etwa die Arme zu verschränken oder sich vor den Gefangenen hinzusetzen, war verboten und der Austausch von Tratsch war ein Entlassungsgrund. Die Aufseherinnen durften die Quartiere der Männer nur mit Langefelds Erlaubnis aufsuchen.

Was die Behandlung der Gefangenen betraf, war jedoch bald offenkundig, dass viele Aufseherinnen – besonders jene draußen bei den Arbeitskolonnen – Koegels Vorgaben folgten und nicht ihren. Von ihrem Büro aus konnte Langefeld beobachten, wie täglich Frauen mit blutenden Beinen und Armen aus der Sandgrube kamen. Und sogar von ihrer Wohnung aus konnte sie deren Schreie hören.

Edith Fraede erzog ihren Hund dazu, die Gefangenen auf dem Weg zwischen den Lagertoren und der Sandgrube anzuknurren und nach ihnen zu schnappen. Wenn eine Gefangene vor Schreck ihre Schaufel fallen ließ, trat Fraede auf sie ein, bis sie zu Boden ging, oder hob die Schaufel auf und hieb ihr damit in den Rücken. Fraede war etwa 30 Jahre alt, groß und blond. Anders als ihre Kollegin wartete Rabestein zwar meist ab, bis die Arbeit im Gange war, bevor sie um sich schlug, aber indessen zerrte auch Britta schon an der Leine.

Während der Anfangszeit hatten die Hundeführerinnen ihre Tiere noch nicht im Griff. Sie waren noch unerfahren und hatten es im Frühling und Sommer besonders schwer, wenn die Hündinnen läufig und die Hunde unruhig waren.15 Wenn also eine Gefangene hinfiel oder auf den See zustürzte, um etwas zu trinken, zogen die Hunde so stark an der Leine, dass die Aufseherinnen sie einfach losließen.

Zu dieser Zeit befand sich die Sandgrube kurz vor den Lagermauern, nah am See, unweit des Geländes, auf dem die SS-Häuser gebaut wurden.

Sobald die Arbeitskolonnen die Grube erreicht hatten, mussten sich die Frauen in einer Reihe aufstellen und mit dem Schaufeln beginnen. Gegen neun brannte die Sonne bereits vom Himmel und der Schweiß rann ihnen den Rücken hinunter. Sie mussten den Sand von einem Haufen auf einen anderen schippen, bis aller Sand drüben war. Dann schaufelten sie ihn wieder |38|zurück, während die Aufseherinnen schrien: „Schnell, schnell, ihr faulen Stücke!“ Eine andere Gruppe warf den Sand ein oder zwei Meter weit einen Hügel hinauf. „Volle Schaufeln, volle Schaufeln, dreckige Kühe! Abschaum! Schlampen! Schmutzige Weibsstücke!“ Die Schaufeln waren zu kurz oder zu lang, verbogen oder kaputt.

Manchmal musste eine Kolonne den Sand auf einen Wagen häufen und diesen auf provisorische Schienen hieven. Häufig sprang ein Wagen aus den Schienen und die Frauen versuchten ihn zu halten; kippte er dennoch, landete alles auf dem Boden und sie mussten den Sand erneut hochschippen. Mit steigenden Temperaturen schrien und fluchten die Aufseherinnen noch lauter. Sie schlugen den Frauen erneut in den Rücken und traten jene, die ohnmächtig wurden.

Andere Arbeitskolonnen entluden Kohle und Steine von einem Lastkahn am See. Die Frauen schleppten Säcke auf ihrem Rücken, während eine andere Gruppe auf dem Hügel Steinwalzen zog, um den Boden für den Bau einer Straße zu ebnen. Es gab eine riesige Walze und eine kleinere. An deren Griffen waren Seile befestigt, die die Frauen umfassten und zogen. Immerhin hatte das Walzen für die Straße einen Zweck. Das Sandschaufeln hatte keinen. (Die Häftlinge in Himmlers neuen Männerlagern Mauthausen und Flossenbürg dagegen arbeiteten in Steinbrüchen und schlugen Granit, um Berlin zu Hitlers imaginärer Welthauptstadt Germania umzubauen.)

Bald begannen die Gefangenen, den Sand zu hassen. Die Zeuginnen Jehovas glaubten, dass die Arbeit speziell für sie vorgesehen war, um sie dazu zu bringen, ihren Gott aufzugeben16, aber vielen entging nicht, dass es die jüdischen Frauen waren, die am meisten litten: Sie schienen schwächer und, wie manche sagten, weniger an Mühsal gewöhnt. Gegen Mittag waren die Frauen in der Sandgrube auf Stirn und Armen von der Sonne verbrannt und ihre Kehlen waren ausgetrocknet. Wenn Sand in ihre hölzernen Schuhe geriet, rieb er ihre Fußsohlen auf und scheuerte, bis sich Blasen bildeten. Die Sandgrube war bald von Blutspuren durchzogen.

Rabestein und Britta beaufsichtigten die Gruppe, die Lasten entlud. Auf dem Hügel stehend, beobachteten sie, wie die Gefangenen Säcke mit Kohle oder Steinen schleppten und sie am Rand des Sees auf Karren türmten. Die Frauen schoben die Karren den Hügel hinauf zu einem Abladeplatz, aber um dorthin zu gelangen, mussten sie eine behelfsmäßige Brücke aus Holzplanken überqueren. Oftmals rutschten die älteren Frauen jedoch von den Planken ab und fielen ins Wasser. Wenn das passierte, schrien die Aufseherinnen und traten die hingefallenen Frauen. Eines Tages schlug eine Frau Rabestein mit einer Hacke auf den Kopf, um sich zu rächen. Sie wurde in den Strafblock geschickt und nie wieder gesehen.

Manchmal suchte Rabestein wahllos einige Frauen aus, ließ sie hinter einem Steinhaufen eine Reihe bilden und trat mit ihren Stiefeln auf sie ein. |39|Oder sie befahl einer Gefangenen, Schutt von einem riesigen Haufen zu schaufeln, indem sie von unten her grub, bis der Haufen begann, einzubrechen. Die Gefangene musste weiterschaufeln, bis der Haufen schließlich auf sie herunterstürzte und sie lebendig begraben wurde. Rabestein betrachtete das als ein Spiel und nannte es „Abdecken“.17 Anschließend wurde die Gefangene zerschrammt und halb erstickt von ihren Gefährtinnen ausgegraben.

Auf einem Stuhl in ihrer hölzernen Zelle stehend, beobachtete Marianne Wachstein ein ähnliches „Spiel“, das vor ihrem Fenster im Gange war:

Ich sah hinaus und sah folgendes: Ein junges, schwaches Weib – wie ich später hörte soll sie Langer heissen, lupuskrank sein u. bereits ein Stück der Nase durch aufgenähtes Fleisch ersetzt haben – wollte nicht Sand schippen. Sie wurde fest geschlagen, sie nahm doch die Schaufel nicht. Man packte sie – dies soll die Kolonnenführerin Gefangene Lohmann getan haben – schleppte sie zu einem Brunnen, hielt sie fest hiess den dicken Wasserstrahl überall, wo er hintraf, auf sie niedersausen: Dann wurde sie ganz nass, wie sie war, in einem Sandhaufen eingegraben, nur Kopf draussen, dann wurde sogar Kopf u. Gesicht fortlaufend mit Sand bedeckt, sie machte sich immer wieder frei und nachdem dieses Spiel längere Zeit dauerte, wurde sie ausgegraben u. musste mit dem Gesicht zur Wand stehen. (∗ Das Ganze dauerte so lange dass … x Male inzwischen vom Schemel stieg u mich setzte.)18

Wachstein bemerkte, dass die Aufseherin und auch ein „Militärmann“ dabei zusahen.

Hanna Sturm, die österreichische Schreinerin, begriff bald, wie die Mechanismen im Lager funktionierten. Nicht alle Insassinnen wurden in Arbeitskolonnen außerhalb der Lagermauern eingeteilt. Hannas Fertigkeiten – sie beherrschte das Schlosser- und Glaserhandwerk ebenso wie die Schreinerei – waren zu wertvoll, um sie an zwecklose Plackerei zu verschwenden, und so wurde sie als Hilfskraft eingesetzt, was es ihr ermöglichte, in den Büros und Blocks zu stöbern. Dort sammelte sie Dinge – etwa eine alte Zeitung oder sogar ein Messer –, die sie zurück in ihren eigenen Block schmuggelte. Die beste ihrer frühen Entdeckungen war eine zerfledderte Ausgabe von Krieg und Frieden. Goebbels hatte lange zuvor alle Bücher von Tolstoi zusammen mit anderen aufrührerischen Werken von Autoren wie Kipling, Hemingway, Remarque und Gide verboten. Sie wurden meist entweder verbrannt oder als Toilettenpapier verwendet und Hannas Buch stammte vermutlich aus einer Lieferung für die Latrinen. Sie hoffte auf eine Gelegenheit, es mit ihren Kameradinnen zu lesen.

|40|Angesichts der Tatsache, dass jede Minute des Tages nun von heulenden Sirenen und Regeln bestimmt wurde, war es schwierig, mit Freunden zu sprechen. Es gab keine Ecken, keine versteckten Gänge, in die die Gefangenen schlüpfen konnten, um nicht gesehen zu werden. Innerhalb der Baracken waren die Frauen so eng zusammengepfercht, sie wurden so aufmerksam bewacht und immer in Bewegung gehalten, dass individuelle Kontakte oder die Bildung kleiner Gruppen praktisch unmöglich waren, und genau das wurde durch die vorgegebene Lebensweise im Block bezweckt.

Die Ärztin Doris Maase verabscheute es, ständig von der Masse umgeben zu sein, gab jedoch ihrer Misere in einem zensierten Brief nach Hause nur vorsichtig Ausdruck: „Ich wünsche mir so sehr so veranlagt zu sein, daß mich Blödheit und Dummheit nicht aus der Ruhe bringen, aber bei aller Mühe gelingt es mir nicht. So paradox es klingt, mit der Zeit wünscht man sich, Einsiedler zu sein, je mehr man mit Menschen zusammen ist.“19

Gefangenen, die als Blockovas, Blockälteste, bezeichnet wurden, hatte man die Verantwortung für die Baracken übertragen und sie angewiesen, für Disziplin zu sorgen. Manchmal, wenn ihre Blockälteste nicht in der Nähe war, klopfte Hanna, kurz bevor das Licht ausging, an die Koje unterhalb, in der ihre kommunistische Freundin Käthe Rentmeister lag, und Käthe gab das Zeichen einer anderen Genossin, Tilde Klose, weiter, die wiederum unter ihr schlief. Die Frauen tauschten dann einige Worte über Hannas neusten Fund aus und, wenn die Blockova guter Stimmung war, dann war ein kurzes Gespräch von Zeit zu Zeit sogar gestattet.

Eine oder zwei dieser neu eingesetzten Blockältesten – meist Trägerinnen von grünen und schwarzen Winkeln – führten sich von Anfang an wie Tyrannen auf. Gewisse Namen – Kaiser, Knoll und Ratzeweit – waren unter den politischen Gefangenen aus Lichtenburg bereits für Ärger bekannt. Aber die meisten dieser ersten Insassinnen von Ravensbrück hatten bereits viele Jahre gemeinsam in Gefängnissen zugebracht und gelernt, miteinander zurechtzukommen, was immer auch ihre Hintergründe waren. Ein Stück Filz in unterschiedlichen Farben an ihren gestreiften Jacken sollte sie nicht über Nacht zu Feinden machen.

An Sonntagen gab es eine Atempause. Doch nicht jeder war sonntags von der Arbeit befreit: der Judenblock, Block 11, und die Gefangenen des Strafblocks mussten wie jeden Tag arbeiten. Es gab zur Mittagszeit auch einen Sonntagsappell und Reinigungsarbeiten waren zu erledigen. Aber am späten Nachmittag machten sich alle Gefangenen auf zu einem obligatorischen „Spaziergang“ – eine Art aufgezwungener Freizeitbummel, der entlang der Lagerstraße zu Musik absolviert wurde. Die Aufseher im Torhaus schalteten die öffentliche Lautsprecheranlage auf deutsches Radio um und Marschlieder schmetterten heraus, was aber zumindest bedeutete, dass die |41|Frauen frei miteinander sprechen konnten, da die Wärter sie nicht hören konnten.

Nach diesem Spaziergang war es manchmal möglich, in Ruhe auf einer Pritsche zu liegen oder Kleider zu waschen und „normal“ zu sein. Es gab einen Sonntagsklecks Marmelade, ein Eckchen Margarine und Wurst. Gefangene, die das Glück hatten, Geld von zu Hause erhalten zu haben, konnten dieses im Lagerladen ausgeben, der innerhalb der Betriebskantine eingerichtet war. Dort wurden Kekse, Zahnpasta oder Seife verkauft. Während dieser „Freizeit“ versuchten Hannas Kameradinnen hinter dem Block zusammenzukommen, um ihr Buch zu lesen. Eine las laut vor, während eine andere Wache hielt. Sie konnten ihr Glück kaum fassen, Tolstoi in einem Konzentrationslager zu finden.20

An Sonntagen lasen die Gefangenen auch Briefe ihrer Angehörigen und antworteten. Ein Brief pro Monat war erlaubt und in diesen Vorkriegstagen konnten die Frauen noch ausführlich schreiben, solange sie weder politische Dinge noch das Lager erwähnten. In ihren Briefen nach Hause sprach Doris Maase davon, dass auch sie Bücher gelesen hatte. Doris arbeitete als Krankenschwester im Revier, wo sie nachts auch schlief. Noch war es möglich, Päckchen von daheim zu erhalten, auch Bücher, und es gab sogar eine Art Lagerbibliothek – eine Zusammenstellung genehmigter Bücher, die mehrere Ausgaben von Mein Kampf enthielt.

„Heute bemühe ich mich, richtig Sonntag zu machen“, schrieb Doris im Juni 1939 an ihre Schwester. „Ich lese gerade ‚Und ewig singen die Wälder‘ von Gulbranson. Gefällt mir sehr gut …“21 Doris’ Ehemann Klaus war in Buchenwald inhaftiert. So tauschten beide zensierte Briefe aus und lasen zwischen den Zeilen. Als Häftling in Buchenwald wusste Klaus, was Doris durchmachte. Sie selbst konnte ihm natürlich nichts über die Brutalität erzählen, die sie erlebte.

Aus ihren späteren Berichten wissen wir, dass Doris durch die Fenster des Reviers zu beobachten pflegte, wie die Arbeitskolonnen zum Tor gebracht wurden, begleitet von einem SS-Offizier, der sie absichtlich durch einen großen Tümpel waten liess, sodass sie triefend nass mit der Arbeit begannen.

Im Juni brach Olga Benarios Kameradin Sabo (Elise Saborowski Ewert), ihre Mitverschwörerin aus den Tagen in Brasilien, während der Arbeit in der Sandgrube plötzlich zusammen. Sabo war während ihrer Zeit in einem brasilianischen Gefängnis vergewaltigt und gefoltert worden und hatte sich davon nicht mehr erholt. Fraede trat auf sie ein, aber Sabo schaffte es nicht, aufzustehen, und wurde schließlich ins Revier gebracht, wo Doris helfen sollte. „Maase, wo ist Maase?“, ertönte es Tag für Tag um die Verbandsstation herum. „Jung, es gibt so vieles, was ich kaum mit anderen Menschen |42|besprechen kann. So viel wartet auf Dich“, schrieb sie in einem Brief an Klaus.22

An einem anderen Sonntag zeigte sich Doris in einem Brief an ihre Familie erfreut über die guten Neuigkeiten von zu Hause – „Ich wollte es anfangs kaum glauben, daß es noch so etwas erfreuliches gibt. Mir ist fast, als wäre ich dabei gewesen“ –, aber hinter ihrem Bemühen, heiter zu klingen, konnte sie ihre Furcht um die Angehörigen draußen nicht verbergen. Doris’ Vater, ebenfalls Arzt, war Jude und sie wusste, dass dieser Zweig der Familie mit Näherrücken des Krieges zunehmend in Gefahr war. Neue Gesetze machten jede Form normalen Lebens in Deutschland unmöglich und Doris Vater war es bereits verboten worden, zu praktizieren. Zwar war ihre Mutter keine Jüdin – was erklärt, warum Doris im Lager besser behandelt wurde als andere jüdische Frauen –, doch auch der Druck auf „Mischehen“ wuchs, indem die Paare gezwungen wurden, eine Scheidung in Betracht zu ziehen oder zu emigrieren.

An anderer Stelle im Brief fragt Doris: „Erholen sich die Eltern gut? Ich stelle mir vor, daß dort Rosen blühen und im Garten jeden Tag etwas anderes zu tun und zu ernten ist und daß die alten Herrschaften doch viel Freude daran haben, so lange sie es noch haben.“23 Dem nächsten Brief jedoch entnahm sie, dass ihre Mutter und ihr Vater den Kanal überquerten, und sie hoffte auf Nachrichten.

„Sonst geht es mir, wie immer, gut“, schrieb Doris ihren Lieben und man ist fast verleitet, ihr zu glauben, denn sie fuhr fort: „Mein Haar ist lang in einem soliden Knoten und ich erblühe zusehends von innen und von außen.“ Was sie jedoch mit „erblühen“ meinte, ist schwer zu sagen. Wir wissen aus ihren späteren Schilderungen, dass die Temperaturen in der Sandgrube während der zweiten Junihälfte anstiegen und dass die Frauen, die Doris behandelte, mit verbrannter Haut, Wunden und Geschwüren kamen. Was den Gefangenen aber noch mehr zusetzte, waren die schrecklichen Schreie, die nun aus dem Strafblock drangen. Die Frauen hatten kürzlich erfahren, dass Olga in einem der stickigen Holzverschläge festgehalten wurde. Doris schrieb in einem Brief nach Hause: „Ihr Guten, es ist soo heiß …“24

Es war Ilse Gostynski, die als Erste herausfand, dass Olga in Einzelhaft saß. Ilse hatte die Aufgabe, die Klosetteimer der Zellen zu leeren, und es gelang ihr, einige Worte mit Olga zu wechseln, die sie bereits in Lichtenburg kennengelernt hatte und deren Geschichte sie tief beeindruckte. Ilse hatte Olga als „eine junge Frau aus München, sehr schön und sehr intelligent“, in Erinnerung.25 „In Ravensbrück wurde sie schlecht behandelt, sie bekam fast nichts zu essen.“

|43|Die Zellen waren aus dünnem Holz gezimmert, nur zwei mal zwei Meter groß und ohne Belüftung. Olga hatte dort nichts als eine Strohmatratze und einen Eimer. Ilse sorgte dafür, dass Hanna Sturm von Olgas Notlage erfuhr, und Hanna schaffte es, Kekse und Brot für Olga zusammenzubekommen, die Ilse beim nächsten Leeren der Kübel in die Zelle schmuggelte. Die Kameradinnen schickten ihr außerdem Nachrichten. Wenn Zimmer sie erwischt hätte, wäre Ilse ebenfalls eingesperrt worden. Dennoch ergriff sie die Gelegenheit, Olga etwas Gutes zu tun. „Sie legte etwas Süsses hin oder einen Zettel mit ein paar tröstenden Worten von einigen Mitgefangenen.“26

Nicht lange, nachdem sie Olga gefunden hatten, wurde Ilse mitgeteilt, dass man sie entlassen würde. Olgas Verbindung zur Außenwelt riss also wieder ab.

Während die Brutalität immer mehr zunahm, war das „Normalste“ und dabei doch Erstaunlichste wohl die Tatsache, dass zugleich regelmäßig Gefangene freigelassen wurden. Ilse war durch ihre englischen Kontakte an ein Visum gekommen. Als man ihr sagte, dass sie das Lager verlassen darf, wurde sie zuerst in die Effektenkammer geschickt, wo man ihr die Kleider, in denen sie angekommen war, mit allen Wertgegenständen zurückgab, und dann stand es ihr frei, zu gehen. Noch am selben Tag reiste sie mit dem Zug nach Berlin ab und ein oder zwei Wochen später brachte sie ein anderer Zug nach Hoek van Holland, von wo aus sie mit einer Fähre über den Kanal nach Harwich an der Küste von Essex fuhr. Hier empfingen sie ihre kommunistische Freunde, die auch dafür gesorgt hatten, dass sie die nötigen Papiere für ihre Befreiung bekam.

Auf englischem Boden in Sicherheit, erzählte Ilse ihren Freunden über Olga Benario und drängte sie, die Familie ihres Ehemannes in Brasilien zu kontaktieren. Ihr eigener Fall sollte Olgas Familie neue Hoffnung geben, dass auch sie eine Freilassung erwirken könnten, wenn sie es schafften, ein Visum zu besorgen, bevor der Krieg ausbrach. Einige Monate nach ihrer Ankunft in England war Ilse als Deutsche zur feindlichen Ausländerin erklärt und in einem Internierungslager auf der Isle of Man festgesetzt worden.

Als der Krieg vorüber war, heiratete Ilse und bekam eine Tochter, Marlene. Sie war zudem wieder mit ihrer Zwillingsschwester Else vereint, die sich während des Kriegs in Norwegen versteckt gehalten hatte. Mit der Zeit fanden die Schwestern heraus, dass ihre Eltern in Auschwitz umgekommen waren und dass viele Freunde dasselbe Schicksal ereilt hatte. 1951 versuchte Ilse, ihre Geschichte niederzuschreiben und ihre Jahre in Moringen, Lichtenburg und Ravensbrück knapp zu schildern. Frustriert über ihre Unfähigkeit, das „unendliche Weh und Leid“ zu beschreiben, verfasste sie ein Postskriptum, um sich bei den Lesern zu entschuldigen: „Beim Durchlesen des Berichts ist es mit wiederum ganz klar geworden, dass ich |44|eigentlich ‚nichts‘ zu berichten habe. … Es tut mir leid, dass ich nicht in der Lage war, ein vollständigeres Bild zu geben.“27

Nachdem sie ihren Bericht fertiggestellt hatte, sprach Ilse nie wieder über das Lager, so erzählte ihre Tochter Marlene. „Sie litt unter dem besonderen Schmerz und der Schuld derjenigen, die das Glück gehabt hatten rauszukommen, bevor das Schlimmste begann.“ In einem Café im Norden Londons hielt Marlene, mittlerweile Künstlerin, ein Bild hoch, das sie selbst gemalt hatte und das Ilse und Else als Töchter aus bürgerlichem deutschen Hause in Musselinkleidern zeigt, „bevor sie rebellierten und davon liefen, um im Wald zu kampieren und Marx zu lesen“, so erklärte die Tochter.

Auf einem anderen Bild mit dem Titel Bars (Gitterstäbe) zeigt Marlene ihre Mutter in ihren letzten Tagen schlafend im Bett. „Sie ist im Alter wieder schön geworden“, heißt es in Marlenes Kommentar. „Sie wird umsorgt wie ein Baby und spricht oder lächelt niemals. Ich sehe, wie der Schatten ihrer Gefangenschaft über ihr Lebensende fällt, eine niemals abgeschlossene Angelegenheit. An einem anderen Ort oder zu einer anderen Zeit hätte der Schatten auf mich oder mein Kind fallen können. Würde ich so tapfer sein?“

Als Ilse nach England abgereist war, nahm die Anzahl der Neuankömmlinge zu. Unter ihnen war eine tschechische Journalistin, Jozka Jaburkova, die in Prag nach dem Einmarsch der Deutschen am 16. März 1939 festgenommen worden war. Kaum war die tschechische Hauptstadt gefallen, wurde jeglicher Widerstand zerschlagen, die Intellektuellen wurden verfolgt und die Zeitungen eingestellt, auch Die Säerin, ein kommunistisch-feministisches Magazin, das Jozka herausgab.

Bei ihrer Ankunft im Lager litt Jozka unter schrecklichen Kopfschmerzen, sie war bei ihrer Vernehmung schwer misshandelt worden, doch schnell fand sie kommunistische Genossinnen, die sich ihrer annahmen.28 Ihre Ankunft stärkte die Moral im politischen Block, wo ihr Name bereits bekannt war. Jozka selbst wiederum freute sich, als sie erfuhr, dass sich Olga Benario hier im Lager befand. Sie hatte sich an der Kampagne zu Olgas Befreiung beteiligt. Hanna lud Jozka zum Tolstoi-Lesezirkel ein und Jozka unterhielt diesen nicht nur mit ihren Prophezeiungen über die bevorstehende kommunistische Revolution, sondern auch mit ihren Märchengeschichten. Sie hatte einst eine Sammlung solcher Geschichten unter dem Titel Eva im Wunderland veröffentlicht.

Am 28. Juni, zwei Monate nach der Eröffnung des Lagers, traf der bisher größte Konvoi mit neuen Häftlingen ein. Mitten in der Nacht wurden 450 Roma und Sinti aus dem österreichischen Burgenland durch die Tore getrieben, viele von ihnen schlotterten in ihren Nachtgewändern, einige klammerten sich aneinander fest, andere waren schwanger oder trugen ihre Kinder |45|auf dem Arm. Die meisten hatten lange schwarze Zöpfe und sie alle schrien und weinten.

Der Krieg stand nun unmittelbar bevor und Hitler eröffnete auch im Rassenkrieg eine neue Front und ließ 3000 österreichische Sinti und Roma verhaften, von denen die meisten seit Generationen im Burgenland gelebt hatten.29 Frauen und Männer wurden aus ihren Betten gezerrt, ohne Vorwarnung verschleppt und nach Geschlechtern getrennt. Ein fünfzehnjähriges Mädchen namens Bella wurde aus dem Bett geholt und im Nachthemd abtransportiert, während ihre Mutter hinter dem Wagen herlief. „Wie sie mich fortgebracht haben, da war sie hochschwanger“, erinnerte sich Bella. „Sie ist mir nachgerannt, bis nach Pinkafeld ist sie mir nachgerannt, bis zur Kaserne. Mit dem hochschwangeren Bauch.“30 Die meisten Frauen wurden zunächst im Pinkafelder Gemeindehaus zusammengepfercht, wo lokale Schlägertrupps, die sich als Polizisten aufspielten, sie gemeinsam mit der deutschen SS erwarteten. Viele wurden von SS-Männern aus dem Dorf vergewaltigt. Mit Lastwagen wurden die Frauen in ein Gefängnis bei Graz überstellt. Bevor sie losfuhren, reichte ein Polizeikommandant, der den Konvoi begleitete, Bella ein belegtes Brot. „‚Mädl‘, hat er gesagt, ‚da hast, nimm dir das mit, du wirst es brauchen!‘ ‚Nein‘, hab ich gesagt, ‚ich brauch nichts, ich eß nichts!‘ ‚Du wirst es aber essen‘, hat er gesagt, ‚weil der Hunger tut weh, ich weiß es. Nimm es dir mit!‘ ‚Na gut, wenn du’s glaubst‘, hab ich gesagt, ‚nehm ich es mit.‘“31

Im Gefängnis von Feldbach bei Graz wurden sie von Wärtern mit Polizeihunden empfangen. Die Frauen, die hier zusammenkamen, waren aus zahllosen Dörfern des Burgenlandes hergebracht worden und alle schilderten den gleichen Terror. Gisela Sarközi war zusammen mit ihrer Schwester verhaftet worden: „… und dann sind sie in der Nacht gekommen, überall sind die SS-Männer gekommen und aus der Ortschaft der Bürgermeister, der ein Hitler war, ein großer, und ein paar SS-Männer, und dann haben sie überall geklopft an den Türen, und wir mußten raus. Nicht einmal anziehen haben sie uns gelassen.“32 Gisela wurde in die Stadt Oberwart gebracht, wo ihre Mutter sie noch mit Kleidern versorgte. Von dort aus wurde sie nach Graz abtransportiert.

Theresia Pfeifer und ihre Schwester Anna wurden aus ihrem Haus getrieben, festgenommen und, nachdem andere versucht hatten, zu entkommen, wurden ihnen Fesseln angelegt. Man verfrachtete sie erst auf Viehwagen, bis sie in einem Zug zwei Tage und zwei Nächte lang weitertransportiert wurden, die Männer nach Dachau, die Frauen nach Ravensbrück. Als der Zug in Fürstenberg anhielt, war es stockdunkel und niemand wusste, wo sie sich befanden.

„Ja, da sind sie um vier Uhr in der Frühe gestanden, mit den Hunden, die SSler“, berichtete Gisela Sarközi-Samer. „Da haben wir uns zu zweit zusammenstellen |46|müssen, dann haben sie uns ins Bad hineingeführt … Draußen haben wir uns vor den SSlern alle nackt ausziehen müssen, und dann haben wir hineingehen müssen unter eine Dusche.“33 Und Theresia Pfeifer schrieb über ihre Ankunft in Ravensbrück: „Wie wir das gesehen haben, hat alles geweint und geschrien. Doch hat man müssen ruhig sein, sonst hätten sie uns hintereinander erschossen, die SSler.“34 Theresias Zöpfe wurden abgeschnitten, ihr Körperhaar abrasiert. Sie bekam einen schwarzen Winkel und musste diesen an ihre gestreifte Häftlingsjacke nähen. Mehrere kreischende Frauen wurden in den Strafblock gebracht, die anderen in die Baracken geschickt. Alle marschierten am nächsten Morgen in die Sandgrube.

Ab Juli wusste jeder in Deutschland, dass der Überfall auf Polen bevorstand. Deutschstämmige, die in Polen lebten, strömten zurück in die Heimat und Goebbels verschärfte den Propagandakrieg gegen Polen, während die KZ-Wächter den Hass gegen „dreckige Slawen“ schürten. Die Aufseherinnen sprachen auch von Ehemännern, Brüdern und Söhnen, die einberufen worden waren, um an der Front zu dienen. Sogar Pastor Märker in Fürstenberg hatte sich freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet. Im Fürstenberger Kirchenbuch fehlen die Seiten zu den Kriegsjahren; herausgerissen hat sie höchstwahrscheinlich der Pastor, um seine Aktivitäten zu vertuschen.

Als befände sich das Lager selbst im Kriegszustand, wurde es regelmäßig von hochrangigen Militärs inspiziert, was Langefeld auf eine Bewährungsprobe stellte. Nachdem sie das gesamte Lager während der Inspektion eines Fliegergenerals für mehrere Stunden hatte antreten lassen, fragte dieser, wo denn hier der Kommandant sei, man höre kein Kommando. Langefeld erwiderte, dass es auch ohne Schreierei abginge.

Im Vorfeld des Krieges wurden die Sicherheitsmaßnahmen um das Lager für den Fall einer „Meuterei“ verschärft. Der Strafblock füllte sich und rings um den Appellplatz standen Frauen, Stunde für Stunde, barfuß, mit dem Gesicht zur Wand, als würden sie Strafe stehen für ein Verbrechen.

Im politischen Block war es für die kommunistische Gruppe schwierig, sich auszutauschen, denn Koegels Spione waren überall. Jozka Jaburkova wurde eines Tages durch einen Spitzel verraten, nachdem sie ihren Lappen ein Klosett hinuntergespült hatte, was die gesamte Kanalisation verstopfte. Bei den Aufseherinnen verhasst wegen ihres unerhörten Mutes, wurden Jozka stets die schlimmsten Arbeiten auferlegt. Nun ließ man sie mit dem Gesicht zur Wand viele Stunden lang stehen.

Dann, am 18. Juli, machte es die Runde, dass Olgas Zelle leer war. Sie hatte in Begleitung der Gestapo das Lager verlassen. Ihre Genossinnen aus dem Tolstoi-Lesezirkel glaubten, dass man sie zu einem erneuten Verhör durch Hitlers Geheimpolizei nach Berlin gebracht hatte. Sie sagten sich, |47|dass Olgas Abtransport im Vorfeld des Krieges zeige, wie sehr die Faschisten den kommunistischen Widerstand noch immer fürchteten und wie wertvoll Olgas Kopf noch immer für sie war. Spätere Hinweise geben eine andere Erklärung: Sie verließ das Lager vermutlich im Juli 1939 nicht wegen eines weiteren Verhörs, sondern, weil die Gestapo ihrer Entlassung zugestimmt hatte.

Die Belege dafür, dass Olga freigelassen werden sollte, finden sich zum Teil in einem Bericht der Gestapo über die Umstände ihrer Entlassung aus Ravensbrück, der auch eine merkwürdig detaillierte Beschreibung dessen liefert, was sie damals anhatte: „Bekleidung: Buntes Kleid m. Rotem Gürtel, schwarzer dreiviertellanger Mantel, beige Sandaletten, helle Strümpfe. Gepäck: gelbe Handtasche.“35 Offensichtlich war sie vor ihrer Abreise in die Effektenkammer geführt worden und hatte ihre Zivilkleidung zurückbekommen. Die einzigen Gefangenen, die Ravensbrück 1939 in Zivilkleidung verließen, waren diejenigen, die man freiließ.

Anita Benario Prestes, Olgas Tochter, die heute in Brasilien lebt und an der Universität von Rio de Janeiro lehrt, besitzt weitere Anhaltspunkte dafür, dass ihre Mutter freikommen sollte. Anita war damals natürlich zu jung, um die Verhandlungen um Olgas Freilassung zu verfolgen, aber ihre Großmutter, Leocadia, und ihre Tante Ligia erzählten ihr später, was geschah. Sie gaben Anita auch ihre Korrespondenz mit der Gestapo, jedes Schriftstück, das sie dorthin gesandt hatten, und alle Briefe ihrer Mutter an Carlos.

Während Carlos weiterhin in einem brasilianischen Gefängnis inhaftiert war, hatten Leocadia und Ligia ihren Kampf um Olgas Freilassung aus Ravensbrück fortgesetzt. Zuerst hatten sie wenig Hoffnung, erzählte Anita, aber sie wurden durch einen Brief von Ilse Gostynski aus England ermutigt, die sie davon überzeugte, es weiter zu versuchen. So schrieben die Prestes-Frauen im Juni 1939 erneut an die deutschen Behörden und setzten sich für Olga ein. Bald darauf erhielten sie Antwort von der Reichszentrale für jüdische Auswanderung, die ihnen mitteilte, dass die Gestapo bereit wäre, Olga freizulassen, allerdings unter der Bedingung, dass sie unverzüglich nach Übersee emigrierte. Der Brief legte ihnen sogar hilfreich nahe, sich wegen Olgas Visum so bald wie möglich an Mexiko zu wenden.

Leocadia reiste also nach Mexiko. Mit etwas Verzögerung konnte sie das Visum und andere amtliche Urkunden beschaffen und schickte sie, wie zu dieser Zeit erforderlich, über New York nach Deutschland. „Sie war voller Hoffnung, dass meine Mutter frei kommen würde, aber wusste auch, dass die Zeit drängte. War der Krieg einmal ausgebrochen, würde es für Olga unmöglich sein, zu uns zu gelangen“, erzählte Anita. Sie blieb eine Weile in Mexiko, um die Bestätigung zu erhalten, dass das Visum in Berlin angekommen war, aber selbst am 25. August war noch keine Nachricht eingetroffen. |48|„Mittlerweile war sie verzweifelt“, berichtete Anita. „Und ebenso erging es meiner Mutter.“

Anita erfuhr von den Gefühlen ihrer Mutter durch deren zahlreiche Briefe an Leocadia und Carlos, aus denen quälend deutlich hervorgeht, wie wenig Hoffnung Olga noch hatte, jemals wieder mit ihrem Kind vereint zu sein, das ihr 1937 im Berliner Gefängnis weggenommen worden war. Als wolle sie versuchen, Anita aus der Ferne zu bemuttern, erkundigt sie sich in allen Einzelheiten nach ihrem Gesundheitszustand und ihrer Versorgung und gibt Leocadia Anweisungen, dass Anita genügend Sonne bekommen, ihre Haare kurz tragen und schlichte Kleidung tragen soll. „Nichts ist schädlicher als ihr das Bewusstsein zu geben, dass sie etwas Besonderes sei, anders als die anderen Kinder ihrer Umgebung.“36 Und Olga sorgte sich, dass Anita vielleicht nicht in der Lage wäre, die Sprache ihrer brasilianischen Familie zu erlernen. „Es wird auch eine große Schwierigkeit für sie gewesen sein, dass Ihr eine andere Sprache mit ihr sprecht. Ich weiß, dafür trifft mich die Schuld – ich hätte wenigstens französisch mit ihr sprechen können. Aber seht, ich kann die Kindersprache eben nur in meiner Muttersprache, und dann war wohl auch mein alter Optimismus daran schuld, der mich hoffen machte, dass es nicht zu dieser Trennung komme …“ 37 (Heute spricht Anita kein Wort Deutsch und liest die Briefe ihrer Mutter in portugiesischer Übersetzung.)

Mitte August 1939, einen Monat, nachdem sie Ravensbrück verlassen hatte, wartete Olga noch immer in ihrem vorläufigen Berliner Gefängnis auf Bestätigung über den Eingang ihrer für die Emigration angeforderten Dokumente. Es war ihr gestattet, die nationalsozialistische Zeitung Völkischer Beobachter zu lesen, und so wusste sie, dass der Krieg unmittelbar bevorstand. Wenn die Kampfhandlungen einmal ausgebrochen waren, würde es für sie keine Chance mehr geben, aus Deutschland herauszukommen.

„Ich kann aber auch jetzt ihrem [Ligias] Optimismus nur den schwärzesten Pessimismus entgegenstellen. Und dies leider nicht ohne Grund. – Seid mir nicht böse, dass ich es schreibe“, so gesteht Olga gegenüber Leocadia am 15. August.38 Und schließlich scheint sie den Willen verloren zu haben, überhaupt noch zu schreiben: „Seht ihr, anfangs war ich böse über den so kurz bemessenen Briefbogen, aber jetzt sehe ich, dass ich auch von nichts mehr zu schreiben wüsste.“39

Während Olga in Berlin ausharrte, waren ihre in Ravensbrück zurückgebliebenen Kameradinnen neuen Schrecken ausgesetzt. Nur kurz nachdem Olga das Lager verlassen hatte, waren Hanna Sturm und ihr Lesekreis beim Rezitieren von Tolstoi in flagranti erwischt worden. Als sie zu Koegel geschickt wurden, um ihre Strafe zu erhalten, sah Hanna die Spionin, die sie verraten hatte, neben ihm stehen und spuckte nach ihr, woraufhin Koegel |49|Hanna ins Gesicht schlug und ankündigte, „ihr Disziplin beizubringen“40. Ehe sie sich versah, wurde sie in eine dunkle, kahle hölzerne Zelle gesperrt, wie vor ihr Olga.

Hanna Sturm war ebenso gut oder schlecht dafür gerüstet, diese Einzelhaft zu überleben, wie all die anderen Frauen. Geboren im Burgenland, in einer armen Bauernfamilie mit tschechischen Wurzeln, war sie mit acht Jahren zur Feldarbeit geschickt worden und schlug Nägel in Zäune, bevor sie lesen konnte. Als junge Frau zog es sie ins „Rote Wien“ und während der politischen Machtkämpfe in den 1930er Jahren schloss sie sich einer Gewerkschaft an, beteiligte sich an antifaschistischen Aktionen und landete mehrfach hinter Gittern. Auch sie war in die Verliese von Lichtenburg gesperrt worden. Aber Hanna hatte niemals eine Zelle wie diese gesehen und, als sie ihre Geschichte später niederschrieb, war ihre Erinnerung an diesen ersten Zellenblock noch mindestens so lebendig wie an alles andere, was ihr seitdem widerfahren war. Hanna Sturms Schilderung ist auch deshalb unschätzbar wertvoll, weil nur zwei Gefangene einen Bericht über den ersten hölzernen Zellenblock in Ravensbrück hinterlassen haben. Er wurde Ende 1939 abgerissen und die Beweise dafür, dass er überhaupt jemals existierte, wurden zerstört.

Abgesehen von den wenigen Ritzen in der Wand, war Hannas Verschlag vollkommen dunkel. Er war wie eine „Kiste“, erinnerte sie sich, „zwei Meter breit und ebenso lang“.41 Da sie unter „verschärften Arrest“ gestellt wurde, bekam Hanna kein Bett und keine Matratze. Sie hatte nichts als den Boden, auf dem sie saß. Eine richtige Mahlzeit wurde einmal die Woche an einem Donnerstag ausgegeben. An allen übrigen Tagen bestand die Verpflegung lediglich aus 100 Gramm Brot und einer Schale mit etwas, was als Kaffee galt.

Als Hanna zum ersten Mal eingesperrt wurde, schloss sie ihre Augen und versuchte sich so an die Dunkelheit zu gewöhnen. Wenn sie zur Toilette musste, dann tastete sie sich an der Wand entlang bis zu einem Kübel, der für die Notdurft bereitstand. Zwar war es unmöglich, etwas zu sehen, aber Hanna konnte eine ganze Menge hören.

Bald darauf vernahm Hanna Geschrei im Hof draußen. Durch einen Riss in der Wand konnte sie beobachten, dass die Schreie von einer Mitgefangenen kamen, die alle nur als „die Zigeunerin“ kannten. Sie war vor Angst wahnsinnig geworden und wurde in den Strafblock gegenüber gezerrt. Dann drang der Lärm von Schlägen nach draußen und Zimmer schrie: „Wirst du Luder schweigen? Warte, ich ziehe dir die Zwangsjacke über, dann wirst du schweigen, du Sau du!“42 Hanna konnte eine weitere wohlbekannte Stimme ausmachen: die von Margot Kaiser, einer deutschen Gefangenen, die als Zimmers Gehilfin arbeitete und im ganzen Lager verhasst war. Kaiser ging los, um die Zwangsjacke zu holen. Die Schreie verstummten |50|plötzlich, Hanna hörte jetzt nur noch ein Wimmern und dann gar nichts mehr. Zimmer schien die misshandelte Zigeunerin vergessen zu haben, bis mehrere Stunden später erneut Geschrei anhob, als sie tot in ihrer Zelle aufgefunden wurde.

Hanna hörte Zimmer sagen: „Wie ein krepierter Hund liegt sie da, das Zigeunerpack macht einem nur Scherereien.“43 Zimmer brüllte eine Anweisung an Kaiser und die Umstehenden, ihr zu helfen. Hanna hörte nun nichts mehr, aber andere Gefangene sahen, wie der Körper der Toten an den Haaren aus dem Strafblock geschleift wurde und man ihren blutigen, mit Kiefernnadeln gespickten Körper in den Waschraum zog.

Die Frauen erfuhren später, dass die als Zigeunerin Eingesperrte verrückt geworden war, weil man ihr zuvor ihr sechs Wochen altes Baby aus dem Arm gerissen hatte. Sie stillte noch und ihre Brüste waren angeschwollen und hart geworden, was ihre Qual vergrößerte. Keiner kannte ihren Namen und es gibt keinen offiziellen Bericht über ihren Tod. Möglicherweise war sie die erste Gefangene, die in Ravensbrück ermordet wurde, obwohl den Lagerakten zufolge eine andere, die 50 Jahre alte Amalie Pfeiffer, eine Romni aus dem Burgenlandtransport, die erste Gefangene war, die im Lager starb.

Amalies Tod war sorgfältig vermerkt und sogar von einem Arzt bestätigt worden und der Sterbeeintrag ist erhalten. Dieser besagt, dass Amalie Pfeiffer, geborene Karoly (Zigeunerin), wohnhaft in Neustift an der Lafnitz (Ostmark) und dort am 5. Juli 1890 geboren, am 24. August 1939 um vier Uhr in Ravensbrück im Frauenkonzentrationslager starb. Todesursache: „Selbstmord durch Durchtrennung der Halsschlagader links lt. Bescheinigung des Lagerarztes“.44

Nach dem Tod der namenlosen Zigeunerin wurde es ruhiger im Zellenblock. Hanna fand Möglichkeiten, ihre Haft angenehmer zu gestalten. Zimmer hatte sie nicht gründlich genug durchsucht und wie immer hatte sie etwas Nützliches unter ihren Kleidern verborgen. Diesmal war es eine Schere. Die Wände waren so dünn, dass es ihr gelang, Bretter zu lockern, und sie fand bald heraus, dass sie sich mit den Frauen nebenan im Flüsterton unterhalten konnte. Eine ihrer Nachbarinnen hieß Lene und war Zeugin Jehovas, wie sie Hanna erzählte. Bald hörte Zimmer jedoch die Stimmen und brüllte: „Ruhe da, ihr Affen!“45

Nach einer Weile hörte Hanna verrücktes Gelächter aus der Nachbarzelle auf der anderen Seite schallen. „Ein Irrenhaus“, dachte sie, aber dann bemerkte sie, dass die „Irre“ immer dann lachte, wenn sie Zimmers Stimme hörte. Als sie dem Klatsch und Tratsch der Aufseherinnen lauschte, erfuhr Hanna, dass es sich bei der Frau um Hedwig Apfel, eine Musikerin, vielleicht Opernsängerin, handelte. Apfel war Jüdin und ihre Familie hatte den Nazis ein Vermögen bezahlt, um ihre Freilassung zu erwirken. Hanna |51|wusste auch, dass sich eine Amerikanerin im Zellenblock befand, die „laut vor sich hin betete“. „Sie ruft nach Jesus Christus und stößt unartikulierte Schreie aus.“46 Die „Amerikanerin“ könnte Olgas Mitverschwörerin Sabo gewesen sein, die viele Jahre in Kanada gelebt hatte und den Sommer über im Zellenblock eingesperrt war. Jedes Mal, wenn Sabo betete, löste sie damit Hedwigs hysterisches Lachen aus.

Hedwig provozierte Zimmer. Als Zimmer die Tür öffnete, hatte Hedwig mit dem Klosetteimer gewartet, den sie über ihrem Kopf leerte. Zimmer schrie: „Judensau!“47 Hedwig äffte sie nach: „Judensau, Judensau.“ Manchmal rannte Hedwig aus ihrer Zelle in die freie Zone des Strafblocks, wo ihr Margot Kaiser hinterherjagte, um sie wieder einzufangen.48

Hanna hatte indessen mithilfe ihrer Schere kleine Löcher in die Zellenwand gebohrt, durch die hindurch sie in ihre beiden Nachbarzellen sehen konnte. Eines Tages schließlich stieß Zimmer Hannas Tür auf und schob Hedwig Apfel herein. Hedwig kicherte und war aufgrund der Dunkelheit offenbar verunsichert. Als sie bemerkte, dass sich auch Hanna in der Zelle befand, schlug sie ihr vor, mit ihr zu tanzen. Hanna antwortete, sie würde lieber singen. Hedwig begann also zu singen: „Für dich, weil du eine von uns bist.“ Und Hanna dachte: „Die ist doch gar nicht so dumm.“ „Weißt du“, sagte Hedwig, „ich spiele verrückt. Ich mag die Deutschen nicht und die Alte hat Angst, seit ich ihr den Kübel ins Gesicht geschüttet habe. Wenn sie jetzt kommt, spucke ich ihr ins Gesicht, du wirst sehen, wie sie davonläuft.“49

Von diesem Moment an wurden Apfel und Sturm enge Freundinnen, was Zimmer nicht behagte. Sie brachte Hedwig fort und Hanna blieb allein zurück. Hedwig kam auch nicht mehr in ihre frühere Zelle zurück. Dort saß nun eine andere Frau, mit der sich Hanna ebenfalls versuchte anzufreunden. Sie klopfte an die Wand und fragte: „Wer bist du?“

„Ich bin Susi, und du?“

„Ich bin Hanna.“

Am nächsten Tag erfuhr Hanna, dass Susi die österreichische Kommunistin Susi Benesch war. Susi war schwer erkrankt. Ihr gesamter Körper war mit Furunkeln übersät. Sie konnte weder liegen noch sitzen und nachts lief sie ununterbrochen herum, sodass niemand im gesamten Zellenblock schlafen konnte. Eines morgens holte Zimmer Susi für einen Tag aus ihrem Verschlag und schickte sie hinaus zum Arbeiten, offenbar mit dem Gedanken, sie durch das Schleppen von Steinen zu ermüden, damit sie in der Nacht besser schlief. Als Susi am Abend zurückkehrte, sagte sie zu Hanna: „Wenn es auch schwer ist, Steine zu tragen, aber ich bin draußen, unter Menschen, und ich glaube, daß sie mich aus dem Bunker erlösen.“50 Am nächsten Tag kehrte Susi nicht zurück. Hanna hatte wieder niemanden mehr, mit dem sie sprechen konnte, und sie begann, ihr Zeitgefühl zu verlieren. Aber sie hörte andere Frauen umherlaufen und manchmal sprechen oder schreien.

|52|Eine der Gefangenen, die Hanna hörte, muss Marianne Wachstein gewesen sein, die Frau, die in ihrem Nachthemd aus Wien gekommen war. Wie Hanna hinterließ Marianne eine detaillierte Schilderung ihres Aufenthaltes im hölzernen Zellenblock und viele Erfahrungen der beiden stimmten überein, auch wenn sich die Umstände, unter denen sie schließlich ihren Bericht verfassten, unterschieden.

Hanna konnte ihre Geschichte erst erzählen, als der Krieg zu Ende war, aber Marianne schrieb ihre Erlebnisse bereits sechs Monate, nachdem sich alles zugetragen hatte, unzensiert nieder. Im Februar 1940 kam Marianne überraschend frei, um in Wien im Prozess gegen ihren Mann auszusagen, einen jüdischen Geschäftsmann, den die Nationalsozialisten der Korruption beschuldigten. Sie verfasste ihren Bericht in den ersten Wochen nach ihrer Freilassung, während sie sich in einem Wiener Krankenhaus erholte. Ihre Darstellung ist deshalb einzigartig, weil sie praktisch zeitgleich mit den Ereignissen entstand. „Das Konzentrationslager Ravensbrück bei Fürstenberg in Mecklenburg ist ein Zwangsarbeitslager“, so begann sie.

Die Arbeiten, die ich Frauen dort verrichten sah – ich selbst bin nervenkrank und arbeitsunfähig – sind z.B.: es sind 2 steinerne Strassenwalzen, eine sogenannte kleine und eine große; an diesen Strassenwalzen sind Seile, jedes Seil hat einen Quergriff, diesen Quergriff mussten die Frauen packen und die Strassenwalzen ziehen; oder Sand schippen, wieder andere den Sand in Holzkisten, die auf Holzunterlagen sind, wegtragen ecc. Im Sommer war die Arbeitszeit 9 Stunden täglich, Samstag bis Mittag.

Es ist 3x täglich – nur Samstag und Sonntag 2x – sogenannter ‚Zählappell‘ d.h. das ganze Lager muss sich, jeder Block (ein Block umfasst ca. 140–150 Personen u. sind diese in einer Holzbaracke untergebracht) vor seiner Baracke in je 4 hintereinander, nebeneinander soldatisch stramm, die Hände am Leib, aufstellen u. ruhig stehen bleiben, bis das gesamte Lager von der Frau Oberin und einer Frau Aufseherin gezählt ist, d.h. jeder Blockwart (die Aufsicht über den gesamten Block) meldet der Vorgenannten die Belegstärke. Jeder Zählappell dauert 20 Minuten circa.

Das Lager umfasst 17 Baracken, mit je ca. für 150 Personen Platz, wovon eine Baracke Judenbaracke ist.51

Anschließend spricht Marianne von ihrer Ankunft in Ravensbrück und berichtet dann darüber, was ihr in der hölzernen Zelle widerfahren ist. Es gab überhaupt kein Licht. Die Aufseherin Zimmer kam herein und sie wurde angebrüllt: „Da werden sie jetzt krepieren, verhungern, da kommen sie nicht mehr lebend heraus.“ Marianne antwortete: „Wenn Gott will, dass ich sterbe, so werde ich eben hier sterben.“ Darauf führte Zimmer Marianne auf den Gang und befahl ihr, sich bis aufs Hemd vollständig zu entkleiden, |53|„worauf ich in eine Zwangsjacke hineinschlüpfen musste. … Es wurden mir die Hände so fest geschnürt, dass meine rechte Hand ca. 14 Tage geschwollen war u. der Körper auch sehr fest geschnürt, auch beim Hals, dann wurde ich wieder in die Zelle zurückgeführt. … Durch die feste Schnürung wurde mir sehr übel, ich verlor das Bewusstsein, nun soll ich einen Schreikrampf gehabt haben.“52

Als Marianne erwachte, wurde sie von einem Mann in Uniform drangsaliert. Es war Koegels Adjutant Egon Zill, der ihr mit der Faust auf die Nase schlug und ihr Tritte in den nackten Unterschenkel gab, während Zimmer an ihren Haaren riss. Wehrlos, da sie noch in der Zwangsjacke steckte, wurde sie vor Schmerz wieder ohnmächtig und, als sie wieder zu Bewusstsein kam, stellte sie fest, dass sie in ihren eigenen Exkrementen lag, ohne Zwangsjacke. Sie verbrachte die folgende Nacht zähneklappernd, nur in einem Nachthemd in ihrer Zelle.

Am nächsten Tag gab man ihr eine Decke und am dritten Tag einen Strohsack und eine weitere Decke, aber sie bekam drei Tage nichts zu essen. Als Nächstes sagte man Marianne, dass sie zu drei weiteren Wochen Arrest verurteilt ist, weil sie in der Zelle geschrien und in ihren eigenen Exkrementen gelegen hat.

Wie Hanna Sturm lernte Marianne Hedwig Apfel kennen. Und wie Hanna wurde sie zur Strafe gezwungen, eine Zelle mit Hedwig zu teilen. Anders als Hanna allerdings hatte Marianne keinen Zweifel daran, dass Hedwig Apfel verrückt war. Wenn Zimmer an ihre Tür kam, schleuderte Apfel Wasser nach ihr und spuckte in Richtung der Türe und auf den Strohsack. „Sie – ich bitte um Verzeihung – verunreinigte sich mit Diarrhö, die sie nicht wegwusch, sondern einfach die Füsse hinunterrinnen liess, sie wusch sich nicht, sondern spuckte in die Hände u. verrieb die Spucke im Gesicht u. in die Hände – das war ihr sich waschen.“53

Es gab ein Doppelstockbett in der Zelle und Apfel schlief oben. Nachts kam sie herunter und setzte sich an Mariannes Bett, aber Marianne hatte nicht den Wunsch, Freundschaft zu schließen und sagte ihr, sie solle weggehen. So zerrte Apfel an Mariannes Decken und riss das Leintuch unter ihr heraus und „sie hielt in den Nächten stundenlang Vorträge, wüste Reden, sie lästerte Tag und Nacht Gott, sie hatte schon Hände bezw Arme und Beine so dünn wie eine Spinne“.54

Wegen des Lärms wagten die Aufseherinnen nicht, die Zelle zu betreten. Am dritten Tag saß die „verrückte“ Apfel oben auf ihrem Stockbett, kippte ihren Kaffee über Mariannes Kopf, warf Dinge nach ihr und schrie sie an. Zimmer öffnete die Zellentür, aber wagte immer noch nicht, den Raum zu betreten. Schließlich schickte sie Margot Kaiser hinein, Marianne wurde herausgeholt und wieder in ihre eigene Zelle gesperrt, bevor man sie entließ und in ihren Block zurückschickte.

|54|Anfang September, lange nachdem Marianne Wachstein den Zellenblock verlassen hatte, war Hanna dort noch immer allein in der Dunkelheit eingeschlossen, ohne Hoffnung auf Befreiung. Sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren, aber spähte noch immer durch die Löcher in die Nachbarzellen, um zu sehen, ob sich irgendjemand dort aufhielt. Eine der Zellen sah verglichen mit ihrer eigenen wirklich komfortabel aus. Es standen dort ein Bett mit einer Decke und ein Stuhl, aber der Raum war noch immer leer. Eine Weile später – sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war – hörte Hanna, wie jemand in der Zelle sprach und erkannte die Stimme. Es war Olga Benario.

Wie sowohl Leocadia als auch Olga in den letzten Augusttagen befürchtet hatten, war Olgas mexikanisches Visum in der Post stecken geblieben – genau genommen, war es nicht einmal über New York hinausgekommen. Am 1. September marschierten die deutschen Truppen in Polen ein und der Krieg machte jede Chance zunichte, dass Olga Deutschland noch verlassen konnte. Am 8. September brachte die Gestapo sie zurück nach Ravensbrück.

Da sie (aus unerklärten Gründen) nun weniger als Bedrohung angesehen wurde, waren ihre Haftbedingungen weniger streng als zuvor. Sie bekam regelmäßig etwas zu essen und durfte Post empfangen. Unter ihren Briefen war auch ein Umschlag aus dem Mexikanischen Konsulat in Hamburg, der eine Kopie des nun eingetroffenen Visums enthielt. Wie Olga aber sehr wohl wusste, kam diese zu spät – und Kopien reichten ohnehin nicht aus.

Unter den neuen und strengeren Bestimmungen der Kriegszensur schrieb Olga am 27. September an Leocadia und Ligia:

Meine Lieben!

… Bin wieder im Lager Ravensbrück in den gleichen Umständen wie vor der Reise nach Berlin. Habe vom mexikanischen Konsulat, Hamburg, Einreise nach Mexiko erhalten, aber fürchte keinen Gebrauch davon machen zu können. Ich weiss aber, dass Ihr weiter für mich alles mögliche unternehmt. Schickt beiliegenden Brief an Carlos weiter u. schreibt mir bitte mehr Einzelheiten über Anita-Leocadia. … Seid vielmals umarmt und küsst mein Kindchen von mir. Eure Olga.55

Sobald sie konnte, machte sich Hanna bei Olga bemerkbar, indem sie durch eines der kleinen Löcher, die sie in die Wand gebohrt hatte, hindurchflüsterte. Olga war überrascht, ihre Freundin nebenan zu finden, und erzählte ihr, dass sie vom Arrest der Tolstoi-Leserinnen gehört hatte, als sie ins Lager zurückgekehrt war.

|55|Hanna sagte, dass sie ausgehungert würde und so bot Olga an, ihr Essen mit ihr zu teilen, und es gelang ihnen, das Loch in der Wand so zu vergrößern, dass Olga Hanna Brot hindurchschieben konnte – so, wie Hanna Brot zu Olga gebracht hatte, als diese einige Monate zuvor hatte hungern müssen. „Das Essen zu Mittag teilen wir. Aber wie? Du mußt etwas Warmes haben“, beschloss Olga. „Paß auf, du hältst den Mund zum Loch und ich füttere dich, und das Brot gebe ich dir nur in der Frühe, wenn die Alte den Kaffee reingeschoben hat. So werden wir durchkommen.“56

Olga sagte Hanna auch, dass sie Neuigkeiten für sie habe, aber sie mussten sich beeilen, diese auszutauschen, bevor „die Alte“ zurückkam. Die Neuigkeit war, dass der Krieg ausgebrochen war. In ihrer Zelle isoliert, hatte Hanna keine Ahnung davon gehabt und so gab ihr Olga all das weiter, was sie in Berlin erfahren hatte. Bald wusste es der ganze Zellenblock, denn Zimmer verkündete jeden Tag beim Kaffeeausteilen den Heeresbericht und „frohlockte über die Siege“.57

Ohne Haar und ohne Namen

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