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|153|Kapitel 9 Bernburg
ОглавлениеAnfang Januar 1942 fiel fast pausenlos Schnee und lag über 15 Zentimeter dick auf den Barackendächern, doch am Tag von Friederike (Fritzi) Jaroslavskys Ankunft hellte es sich auf. Sie war mit nur einem Bewacher mit dem Zug aus Wien gekommen. Der blaue Himmel munterte Fritzi auf. Sie war erst 17 Jahre alt und hatte ein Jahr in einem Gestapogefängnis gesessen, weil sie der Widerstandszelle ihres Vaters geholfen hatte.
Seit Beginn des Jahres 1942 kamen immer mehr ausländische Widerstandskämpferinnen ins Lager, da die Deutschen den Widerstand in den besetzten Ländern ausrotten wollten. Fritzis Vater Eduard Jaroslavsky, ein sozialdemokratischer Industriearbeiter, war einer von Tausenden Österreichern, die drei Jahre nach dem Anschluss weiterhin im Untergrund arbeiteten. Fritzi hielt ihre Hilfe für selbstverständlich, viele ihrer Freunde ebenso. Ihre Rolle war „ganz gewöhnlich – gar nichts“: Sie arbeitete als Sekretärin und holte aus einer Wäscherei in der Nähe ihres Büros geheime Botschaften ab. Die Wäscherei diente der Zelle ihres Vaters als „Briefkasten“. „Die Inhaberin rief mich ab und zu an und sagte: ‚Ihre Wäsche ist fertig‘, und ich wusste, dass eine Nachricht gekommen war, die ich abholen sollte. Ich brachte sie dann zu meinem Vater.“1
Anfang Januar 1941 nahm die Gestapo die Inhaberin fest und beschlagnahmte ihr Geschäftstelefonbuch mit allen Namen der Widerstandszelle. Fritzi verbrachte das ganze Jahr in einem Wiener Gefängnis. Im Juni bekam sie Besuch von ihrer Mutter und erfuhr, dass ihr Vater in Berlin unter dem Fallbeil gestorben war. „Meine Mutter wurde gefragt, ob sie seine Asche haben wollte, wofür sie bezahlen müsste. Sie hatte das Geld nicht.“
Der Bewacher, der Fritzi nach Ravensbrück begleitete, erzählte ihr, er habe auch ihren Vater zur Hinrichtung begleitet. Dennoch war er freundlich zu Fritzi und beruhigte sie, es gebe an ihrem Bestimmungsort nichts zu fürchten; wahrscheinlich werde sie auf dem Feld arbeiten. Das Lager schien |154|zunächst nicht erschreckender als das Gestapogefängnis. Zu ihrem großen Erstaunen waren andere Österreicherinnen da, um sie willkommen zu heißen. Sie wussten, dass sie kam: Gefangene in der Schreibstube hatten ein Telex von der Wiener Gestapozentrale gesehen und die Nachricht an Rosa Jochmann weitergegeben.
Auch das kommunistische Netzwerk erfuhr von ihrer Ankunft. Da Fritzi direkt aus Wien kam, war sie eine potenzielle Informationsquelle und so kam Olga Benario selbst mit Maria Wiedmaier in den Zugangsblock, um sie zu finden. „Ich hörte, zwei wichtige Gefangene wollen mit mir reden“, erzählte Fritzi mir in ihrer Wiener Wohnung.2 Im Lager war sie eine der jüngsten und die 1925 Geborene blieb eine der jüngsten Überlebenden. „Ich sollte hinauskommen, weil sie mit mir auf der Lagerstraße sprechen wollten. Ich wurde hinausgeführt und sah zwei Gestalten an der Blockecke stehen. Es war möglich, zu reden, aber wir passten auf, dass niemand zuhörte. Sie fragten, ob ich Neuigkeiten aus Österreich hätte.“
Fritzis Erinnerungen an Olga und Maria beim Sammeln von Informationen geben einen seltenen Einblick, wie diese beiden früheren sowjetischen Agentinnen – Jüdin und Nichtjüdin – zusammenarbeiteten und ihr Können immer noch anzuwenden suchten. „Sie machten Eindruck auf mich. Sie schienen viel zu wissen, und es war klar, dass sie schon lange da waren. Ich hatte natürlich Respekt vor ihnen. Ich war sehr jung.“
„Wie sahen sie aus?“
„Eine von ihnen lächelte und sagte mir, ich hätte hier Freunde. Ich glaube, das war Olga. Vor allem wollten sie aber hören, was ich wusste, und das war nicht viel. Ich war ja seit 12 Monaten eingesperrt.“
Dennoch konnte Fritzi von den Festnahmen der Untergrundkämpfer und den Judendeportationen aus Österreich berichten, von denen sie im Gefängnis erfahren hatte. Im Zug hörte sie Fahrgäste von den alliierten Bombenangriffen auf das Ruhrgebiet und die russische Gegenoffensive vor Moskau erzählen. „Und ich erzählte ihnen von der Arbeit meines Vaters und was mit ihm geschehen war. Das war schön für mich. Ich hatte den Eindruck, sie würden sich um mich kümmern.“
Ein paar Tage später bewerkstelligte Rosa Jochmann Fritzis Umzug in Block 1, wo sie direkt über Rosa schlief. Fritzi wusste, dass sie Glück hatte, aus dem Zugangsblock heraus zu sein, wo „Frauen jeder Art“ waren; in Block 1 fand sie Frauen, die einander verstanden. Hier konnten sie über Menschen in der Heimat reden. „Es war, als ob man mit Freunden zusammenlebt. Es war im Lager leicht zu sehen, was einer war. Die aus den anderen Blocks sahen nicht so sauber und gut ernährt aus wie wir in Block 1.“
Es gelang Rosa, alles Mögliche für die Gefangenen zu organisieren, sie hatten manchmal sogar Kohle für den Ofen. Für Fritzi fand sie einen Posten in der Schreibstube. „Sie hat mich wohl irgendwie bemuttert. Ja, sie hat |155|sich immer für die Jungen interessiert.“ Alle in Block 1 benahmen sich gut und niemand stahl, nur einmal wurde eine Frau erwischt, als sie ein Brot aus einem Schrank stahl, und jemand verständigte eine Aufseherin. „Das Mädchen bekam 25 Schläge und wurde in den Bunker geschickt, wo sie starb.“
Wenn es morgens den schwarzen Kaffee und abends die Suppe gab, übernahm Rosa das Austeilen im Tagesraum. „Sie ließ uns leise reden, über die Arbeit des Tages oder die Nachrichten von Zuhause.“ Manche deutschen Frauen hatten Ehemänner oder Brüder an der Front und einige hatten Verwandte oder Freunde bei den Bombenangriffen verloren.
Fritzis Tischälteste war die deutsche Kommunistin Anni Wamser, die das Brot schnitt und auf die Regale der Gefangenen verteilte. Auch Maria Wiedmaier und Rosas deutsche Freundin Cäcilie Helten – kurz Cilli – saßen an diesem Tisch. Fritzi erzählt, dass Rosa und Cilli meist zusammen waren und nach dem Krieg lebten sie in Wien offen als lesbisches Paar.
Durch Rosa begegnete Fritzi bald auch Österreicherinnen aus anderen Blocks. Frau Lange war mit einem Mann verheiratet, der der Untergrundzelle von Fritzis Vater angehört hatte. Sie war Jüdin, aber wegen ihrer Widerstandsarbeit verhaftet worden. Wenn Fritzi sie auf der Lagerstraße traf, wechselten sie ein paar Worte. „Alle wollten unbedingt Neuigkeiten von draußen hören, aber wenn jemand nach meinem Vater fragte, fing ich an zu weinen.“
Die Tirolerin Fini Schneider, etwa 30 Jahre alt und ebenfalls Jüdin, nahm Fritzi unter ihre Fittiche. Fritzi erinnert sich gern an ihre Freundschaft, die sich in den ersten Wochen entwickelte: Sie waren die „österreichische Familie“. Häufig sah sie Rosa Jochmann neben Käthe Leichter hergehen, „ganz ins Gespräch vertieft“.
Etwa zu diesem Zeitpunkt besuchte Himmler das Lager, woran Fritzi sich erinnerte, weil das Gerücht umlief, der Reichsführer habe Rosa die Entlassung angeboten, aber sie habe sich geweigert. „Wir hörten, sie habe zu ihm gesagt, sie würde im Lager gebraucht und wolle nicht weg.“ Ich fragte Fritzi, ob sie das für wahr hielt.
„Es könnte wahr sein. Aber die Leute redeten nicht gern darüber.“
Die Lagerälteste Bertha Teege hatte Himmlers Besuch im Januar ungeduldig erwartet, da sie auf ihre Entlassung hoffte, darum „setzte unter uns Politischen eine gewisse Nervosität ein. Wer hat diesesmal Dusel?“ Doch der „Reichsheini“, wie Himmler mitunter genannt wurde, war schlechter Laune. Zuerst regte er sich über einen unrasierten SS-Mann auf, dann hatte er einen Wutausbruch wegen des langsamen Arbeitstempos der Schneiderei. Vor seiner Abfahrt besuchte Himmler Block 1, fragte Rosa Jochmann, warum sie da sei, ermahnte sie – „bessern Sie sich“ – und dann „verschwand er, ohne eine Entlassung vorgenommen zu haben, aus dem Lager.“3
|156|Himmlers Besuch vom Januar taucht in seinem Dienstkalender nicht auf, obwohl ein Anruf von Max Koegel am 13. Januar erwähnt wird: „12.00 SS Stbf Koegel. … Die Frauen weigerten sich, Kriegsarbeiten zu leisten, und wurden dafür mit 25 bis 50 Stockhieben, Schlafen bei offenem Fenster ohne Strohsack und Decke sowie Essensentzug bestraft.“4 Das war eine neue Protestphase einer Gruppe extrem auftretender Zeuginnen Jehovas, die jede Arbeit als Kriegsarbeit ablehnten. In diesem Fall weigerten sie sich, Stroh abzuladen: Es war für die Pferde, die Pferde dienten der Wehrmacht und die Wehrmacht führte Krieg.
Der Protest der Zeuginnen Jehovas hätte aber nicht ausgereicht, um Himmler nach Ravensbrück zu holen. In der ersten Januarwoche 1942 war er wieder in Russland und bei der Rückkehr nach Deutschland hatte er viel zu tun. Er beschäftigte sich mit der „Endlösung der Judenfrage“, die am 20. Januar bei einer dringenden Sitzung unter Vorsitz Heydrichs in einer Villa am Berliner Wannsee besprochen werden sollte. Heydrich war zu diesem Zeitpunkt Chef des Reichssicherheitshauptamts (RSHA) und stellvertretender Reichsprotektor von Böhmen und Mähren.
Wahrscheinlich war es die sowjetische Gegenoffensive vor Moskau im Herbst 1941, die Hitler schließlich dazu trieb, seinen Ideen über die Vernichtung der europäischen Juden eine feste Form zu geben. In den ersten Kriegstagen hatte man es für möglich gehalten, die Juden nach Madagaskar oder anderswo in Afrika zu deportieren, doch dies war schon lange verworfen worden und, da die Sowjets nun zurückschlugen, erübrigte sich auch Hitlers Hoffnung, die Juden weit in den russischen Osten zu treiben.
Niemand weiß, wann Hitler den Massenmord endgültig beschloss. Der Führer hatte stets geschworen, die Juden zu vernichten, aber bis jetzt hatte noch keine Lösung zur Verfügung gestanden. Die Massenerschießung sowjetischer Juden hatte sich als ineffektiv und schlecht für die Moral der Truppe erwiesen. Gas dagegen hatte sich beim Euthanasieprogramm bewährt und bewiesen, dass der Massenmord an unschuldigen Zivilisten technisch möglich war und dass deutsche Amtsträger und Bürokraten bereit waren, daran mitzuwirken.
Bis zum Sommer 1941 waren in den T4-Gaskammern mindestens 80.000 Deutsche gestorben. Obwohl Hitler das Programm für beendet erklärt hatte, waren einige Vergasungszentren in deutschen Heilanstalten für das Programm 14f13 zur Ermordung unerwünschter Gefangener aus Himmlers KZs benutzt worden. Und im Dezember 1941 – noch vor der Wannseekonferenz – setzte man bereits Gas zur Ermordung deportierter deutscher Juden in einem neuen Lager namens Chelmno bei Łódź ein. Hier wurde Kohlenmonoxid in den Laderaum fahrbarer Gaswagen gepumpt. Überdies waren Mitarbeiter des T4-Programms nach Polen geschickt worden, um zu |157|prüfen, wie die Vergasungsmethode aus deutschen Heilanstalten zur Ermordung der europäischen Juden eingesetzt werden könne.
Solche Angelegenheiten werden in die Erörterungen in Wannsee eingeflossen sein und, obwohl Himmler in der Sitzung selbst nicht gebraucht wurde, wird er als Hitlers Verantwortlicher für den Massenmord gewünscht haben, in der Nähe zu sein. Die Entwicklungen im Frauenlager waren mit den Themen der Konferenz in Wannsee verbunden. Etwa zur selben Zeit standen die ersten Vergasungen von Häftlingsfrauen bevor und ein Besuch in Ravensbrück erschien sinnvoll, um die Vorbereitungen zu inspizieren.
Auch persönliche Gründe können Himmler wieder in diese Gegend geführt haben. Wir wissen, dass seine Geliebte Hedwig Potthast (Häschen) zum ersten Mal von ihm schwanger war und die Geburt für Mitte Februar erwartet wurde. Wahrscheinlich verband Himmler deshalb wie gewohnt seine Inspektion in Ravensbrück mit einem Besuch bei Häschen, entweder auf seinem nahe gelegenen Gut Brückentin oder in der Hohenlychener Heilanstalt. Man hatte in Hohenlychen Vorkehrungen für die Geburt getroffen und der Chefarzt Karl Gebhardt wollte die Entbindung persönlich vornehmen.
Am 5. Januar 1942 verbreitete die Nachricht, dass die Ärztekommission zurück in Ravensbrück war, Unruhe im Lager. Fritzi erinnert sich, dass man bald nach ihrer Ankunft davon sprach, es werde etwas Schreckliches passieren, „aber niemand wusste, was“. Rosa Jochmann in der Koje unter ihr war sehr nervös. „Ich konnte sehen, dass viele der älteren Frauen Angst hatten. Es wurde viel diskutiert.“5 Auf der Lagerstraße sprachen die Österreicherinnen und vor allem die jüdischen Mädchen darüber. Fritzi erinnert sich:
Fini Schneider machte sich keine Sorgen. Sie wusste, man würde sie irgendwohin abtransportieren, aber sie sagte zu mir, sie würde an einen besseren Ort kommen. Sie war so eine hübsche junge Frau. Ich sehe sie noch vor mir, wie sie mich auf der Lagerstraße anlächelte. Sie war immer fröhlich und optimistisch, aber vielleicht versuchte sie ihre Ängste vor mir zu verbergen.
Zu seiner Rückkehr nach Ravensbrück schrieb Mennecke, der an Hühneraugen litt, am 5. Januar wieder an „Mausli“: Er ging zunächst mal in die Stadt, um Besorgungen zu machen, bemerkte, dass die Ansichtskarten rar geworden waren, und kaufte zwei Päckchen Hühneraugenpflaster. Ein Wagen brachte ihn zum Lager, um die Arbeit an den „Bögen“ zu beginnen. Abends war er sehr hungrig: „Jetzt erst essen, ei, ei!“
Nach sechs Wochen Abwesenheit fand Mennecke Veränderungen vor. Dr. Sonntag war an die Ostfront abgereist und ein neuer Arzt namens Gerhard Schiedlausky begrüßte Mennecke mit der Nachricht, seine Frau habe gerade ein Kind bekommen.
|158|Schiedlausky bewohnte eines der „schönen Häuser“ in der SS-Siedlung, Sonntag dagegen sei „schon seit 14 Tagen vor Leningrad in Stellung; er friert stark!“ Seit Beginn des sowjetischen Gegenangriffs bei Moskau herrschte eine widerwärtige antirussische Stimmung unter den SS-Offizieren. Auch Mennecke verabscheute die Russen und schrieb später von der Ostfront: „Man sieht es ja den russischen Menschen an, wie sie direkt im Dreck geboren und aufgewachsen sind und infolgedessen nichts anderes kennen. … Ein Einzelleben gilt hier genau so wenig, wie in irgendeiner tieferen Tiergattung.“6
Da er noch mit einem SS-Hauptsturmführer namens Vogl plauderte, der bei Rostow ein Bein verloren hatte und auf dem Weg zum Krankenhaus Hohenlychen war, begann er erst gegen halb drei mit der Arbeit und „schaffte dann noch 30 Akten“. Er teilte es Nitsche telefonisch mit, aber dieser war „sehr freundlich, erkundigte sich auch nach Dir“. Mennecke sollte die aktuellen Bögen am 15. Januar nach Berlin bringen. „Für Mitte Januar bin ich in Groß-Rosen angemeldet “, in diesem Männerlager sollten seine nächsten Selektionen stattfinden. Im Brief heißt es weiter: „Um 17.15h war ich im Hotel, zog mich um (den grauen Anzug an), machte ein Fußbad und bandagierte in aller Gemütsruhe meine Hühneraugen.“
Am nächsten Tag begutachtete Mennecke 181 „Pat.“ – „sämtlich Arierinnen mit zahlreichen Vorstrafen. Nun folgen noch etwa 70 Arierinnen und 90-100 Jüdinnen“ – und hoffte, rechtzeitig alle Akten zu bearbeiten, um am Mittwochvormittag wieder in Berlin zu sein. „Nur mit Wehmut kann man sich das anhören, daß die Russen neue Ausladungen auf der Krim vornehmen. – Na, es wird schon werden.“7
Am 8. Januar beginnt sein Brief an „Mutti“ mit der üblichen Schilderung des Essens, danach machte er einen Spaziergang im Schnee. Nachts wurde er im Schlaf gestört, denn im Nebenzimmer saß „eine Gesellschaft SS-Unterführer mit Bräuten, die eine Flasche Wein nach der andern köpften“.8
Am 9. Januar schrieb er abends: „Melde gehorsamst: Vati als ganz sauberes Schweinchen sitzt vor Dir! Ist das ein schönes Gefühl, so den ganzen Dreck von 4 Wochen abgespült zu haben, aber schöner ist es doch bei weitem, wenn Mutti das macht!“ Er hatte am Tag noch ein paar Akten geschafft und fuhr nachmittags nach Hohenlychen, wo er sich mit einem Mann traf, der sagte, er würde ihm „Stoff gut verpackt in Holzkiste“ zusenden – wahrscheinlich Alkoholika vom Schwarzmarkt.9
Am 12. Januar bereitete Mennecke sich auf die Abreise vor: „Meine liebste Eva-Mutti! Meinen letzten Brief aus Fürstenberg beginne ich um … Mitternacht – im Nachthemd.“ Nach der Arbeit am letzten Tag waren „die Bögen … fein säuberlich alphabetisch geordnet u. verpackt. Beim Kommandanten habe ich mich verabschiedet, die Rechnung vom Mittagessen (à 1,05) ist bezahlt und für gestern u. heute habe ich keine Marken abgegeben!“ |159|Auch die Koffer waren gepackt. „O ja, Vati kann es auch noch! Ich glaube sogar, ich kann stolz auf dieses Kofferpacken sein, denn es liegt alles wunderbar schlank u. ich hoffe, es wird nichts verkrumpeln.“ Damit verließ Friedrich Mennecke Ravensbrück endgültig.10
∗
Am Sonntag, dem 1. Februar, verstärkten sich die Gerüchte. Die Effektenkammer hatte einen Haufen frischer Zivilkleidung bekommen und niemand kannte den Grund. Man redete weiter darüber, wer auf „der Liste“ stehe. Sekretärinnen aus der Schreibstube sprachen von einem „Sondertransport“, ein Wort, das sie auf Schriftstücken gesehen hatten, dessen Bedeutung aber niemand kannte. Fini erzählte Fritzi, sie wisse, dass ihr Name auf der Liste stehe. „Das ist, was sie glaubte“, sagte Fritzi. „Ich war davon sehr erschreckt, aber Fini sagte, ich solle mir keine Sorgen um sie machen. Sie glaubte, sie würde in ein Sanatorium kommen.“
Auch Frau Lange stand auf der Liste, so hieß es zumindest, und Käthe Leichter auch. Doch Käthe hatte ebenfalls keine Angst und wenn, so zeigte sie es nicht und sagte rasch zu anderen, alles werde gut werden. Alle Frauen, die auf der Liste zu stehen glaubten, waren angsterfüllt, aber Freundinnen versuchten sie zu beruhigen und wiederholten neue Gerüchte, sie sollten in einer Munitionsfabrik arbeiten. Alle beruhigten einander, aber niemand fühlte sich beruhigt.
Im Krankenhaus war bereits klar, dass niemand von den Kranken oder Verkrüppelten verschont würde, und alle Frauen mit schwarzen und grünen Dreiecken erwarteten, selektiert zu werden, aber die Listen änderten sich dauernd und es gab noch Hoffnung. Manche redeten von Ausbruch oder Revolte, aber Teege und Mauer gaben – vielleicht von Langefeld – die Anweisung weiter, ruhig zu bleiben. Langefeld selbst wird in den Erzählungen über diese angstvollen Tage selten erwähnt, höchstens als Gestalt, die aus der Distanz zusah und oft mit ihrer Stellvertreterin Zimmer verwechselt wird.
Fritzi erinnert sich, dass Rosa Jochmann keineswegs ruhig war. Von ihrer Koje aus sah sie ihre wachsende Besorgnis und auch, dass sie mit Käthe Leichter reden wollte. Rosa erzählte später, dass Käthe zu ihr sagte: „‚Rosa, wir müssten einen Film haben, wir müssten das drehen können, das werden die Leute nicht glauben und nicht fassen können, dass es so etwas überhaupt gibt. Und du wirst es sehen, sie werden es uns nicht glauben, wenn es einmal aus sein wird.‘ Und damals waren noch gar nicht die Vergasungen.“11
Am Abend des 3. Februar, eines Dienstags, waren die Gefangenen zum Appell angetreten, aber es herrschte kaum Zweifel, dass die Abfahrt des Sondertransports kurz bevorstand. Als die Lichter ausgingen, erwarteten |160|ihn die meisten für den nächsten Tag. Nach dem Durchzählen beim Appell wurden die Namenlisten wie üblich zurück ins Büro zu Zimmer gebracht, aber statt sie einer Sekretärin weiterzugeben, las sie die Listen selbst aus.
Die polnische Gefangene Ojcumila Falkowska, die in der SS-Kantine arbeitete, kam als Erste an solide Informationen über die Liste, weil sie sie sah. „Ich sollte einer bestimmten Gruppe von Aufseherinnen größere Portionen geben“, sagte Ojcumila aus. „Die Aufseherin Zimmer passte nicht auf und ließ die Namensliste auf dem Tisch liegen, also ergriff ich die Gelegenheit und schaute darauf. Ich sah, dass keine polnischen Namen darauf waren, die meisten waren Gefangene aus dem Strafblock.“ 12
Die SS-Fahrer von Rosenberg, Huber, Karl und Doering und der Transportchef Josef Bertl aßen in der Kantine und redeten über den Transport am nächsten Tag. „Da wo sie hinkommen, brauchen sie nichts“, sagte einer. Ojcumila musste auch den Fahrern größere Portionen servieren, „um sie für ihre abstoßende Arbeit zu belohnen“.
Als die Nachtwache ihre letzte Runde gemacht hatte, waren die Blocks still, aber nur wenige schliefen. Treffen fanden statt auf den Holzpritschen, um zu besprechen, was zu tun wäre, während Gefangene zwischen den Blocks hin und her gingen, um Abschied zu nehmen. Rosa Jochmann besuchte Käthe Leichter.
Im jüdischen Block fand Rosa allgemeinen Schrecken vor. Die Gruppe aus Wien – Marianne Wachstein, Modesta Finkelstein und Leontine Kestenbaum – erwartete ebenso, weggebracht zu werden, wie Herta Cohen und andere deutsch-jüdische „Asoziale“, denen „Rassenschande“ vorgeworfen wurde. Nur eine kleine Gruppe von jüdischen Politischen, darunter Rosas Freundin Käthe Leichter, hegte anscheinend noch Zweifel. „90 % waren überzeugt, dass sie sterben werden“, sagte Rosa später. „Aber die Käthe hat gesagt: ‚Schau sie dir an, die wären doch wahnsinnig, wir sind doch stark, die werden uns ins Bergwerk stecken.‘“ Rosa erfuhr nie, ob Käthe das sagte, um es für die Zurückbleibenden leichter zu machen, oder ob sie es wirklich glaubte. „Ich werde nie wissen, was die Käthe in Wirklichkeit gemeint hat. … Wir haben dieses furchtbare Abschiednehmen erlebt.“
An diesem Abend teile Bertha Teege den kommunistischen Anführerinnen mit, was geschehen werde – wahrscheinlich wusste sie es von Langefeld. Die selektierten Frauen sollten früh am Morgen zu einer erneuten ärztlichen Untersuchung ins Badehaus geschickt werden. Der jüdische Block würde auf jeden Fall zusammen mit anderen aufgerufen werden.
Auf der Basis dieses Wissens beschlossen Bertha und Maria Wiedmaier, Olga zu informieren, und gingen zum jüdischen Block, um ihre Genossin zu finden. Als sie Olga von dem Plan erzählten, die Gefangenen in den frühen Morgenstunden im Badehaus zu versammeln, vermutete sie sofort, |161|dass es das Ende wäre: „Alle Genossinnen ohne Ausnahme erklärten, dass es sich nur um einen Arbeitstransport handeln könnte. Trotzdem beharrte Olga, ‚Nein, das ist ein Vernichtungstransport.‘“ Bertha und Maria versuchten sie zu beruhigen. Maria erinnerte sich: „Olga versprach: ‚Wenn ich merke, dass es zur Vernichtung geht, werde ich mich wehren‘. Eingehend hat sie mit mehreren Genossen aus Berlin … die Flucht besprochen.“13
Um zwei Uhr nachts war nur das Wachzimmer erleuchtet, wo die Aufseherin Jane Bernigau auf ihre Befehle wartete. Dann kam von Langefeld oder vielleicht von Zimmer die Anweisung, zum Badehaus zu gehen. Bernigau war für diese Nacht sorgfältig ausgewählt worden; sie war 33 Jahre alt, gerade von der Ausbildung in Mauthausen zurück und wartete auf ihre Beförderung. Im Badehaus wies Langefeld oder Zimmer sie an, „eine größere Anzahl von Frauen für einen Transport fertig zu machen“.14
Die Gefangenen wurden aus dem Schlaf gebrüllt und viele hinausbeordert. Der Alarm kam früher als erwartet und überrumpelte sie. Als Erste wurden die jüdischen Frauen aus ihrem Block geführt, aber nicht alle wurden aufgerufen. Unter den Zurückbleibenden war Olga Benario. Diese Gruppe wurde auch nicht zuerst ins Badehaus geführt, sondern zum Strafblock. Eugenie von Skene, eine Insassin des Strafblocks, sagte aus, die Hundeführerin Edith Fraede habe die Frauen auf Zimmers Befehl in den Block gebracht. Viele Gefangene aus dem Strafblock wurden selbst aufgerufen und zusammen mit den Jüdinnen durchs Lager zum Badehaus nahe dem Tor geführt. Hier trafen auch Zeuginnen Jehovas und „Asoziale“ ein.
Im Revier brach Chaos aus. Wer gehen konnte – Asthmatikerinnen, Frauen mit Tbc, Delirium oder Geschlechtskrankheiten –, wurde nach draußen getrieben und raffte Krücken und Brillen zusammen. Die anderen wurden später geholt, bis dahin blieben sie auf ihren Pritschen oder lagen auf der Erde. Im Badehaus ging Langefeld (oder Zimmer) eine lange Namenliste durch. Bernigau und die anderen Aufseherinnen sollten die Gefangenen ausziehen und durchsuchen, dann bekamen die Frauen Zivilkleidung. „Die neue Kleidung bestand aus Kleid, Jacke und Unterwäsche. Die alte Wäsche kam in die Wäscherei und wurde später für andere Häftlinge wieder neu ausgegeben“, sagte Bernigau aus. Binnen zehn Minuten fuhren Lastwagen am Tor vor.15
Die ganze Zeit über mussten die anderen Gefangenen in ihren Blocks bleiben, ohne hinauszuschauen, doch das Personal im Revier sah Fahrer neben den Lastwagen stehen. Milena Jesenska spähte aus einem Revierfenster, als das Signal kam, die Kranken aufzuladen. Grete erzählte später: „Am Abend berichtete Milena mir voller Entsetzen, wie man die Schwerkranken auf die Strohschütten in die Lastwagen gekippt hätte, wie unmenschlich man dabei mit den Leidenden verfahren sei. Von dem Augenblick an gab es für sie keinen Zweifel mehr über das Ziel dieser Transporte.“16 |162|Die einzige im Revier verbliebene Gefangene war Milenas und Gretes Freundin Lotte Henschel, deren Name in letzter Minute von der Liste gestrichen worden war. „Von den mit mir zur gleichen Zeit in der Infektionsabteilung des Krankenreviers befindlichen Kranken [sind] alle auf Krankentransporte gekommen“, sagte Lotte.17
Auch Emmy Handke sah vom Revier aus zu und bemerkte, dass „vollständig gesunde, blutjunge Mädchen zusammen mit ganz alten Frauen, Gelähmten und Schwerkranken“ weggebracht wurden. „Ich mußte helfen, einige Schwerkranke auf Bahren ins Auto zu schaffen. Dort wurden sie uns von SS-Männern abgenommen, und wir waren wie erstarrt vor Entsetzen, als wir sahen, daß sie z.B. eine gelähmte Frau wie ein totes Stück Vieh auf den Wagen warfen.“18
Auch die Lagerältesten Luise Mauer und Bertha Teege halfen beim Verladen der Opfer. „U.a. befand sich auch eine gelähmte Frau aus Block 1 unter diesen Häftlingen. Da sie nicht in der Lage war, selbst zu gehen, beschaffte Frau Tege und ich eine Bahre aus dem Krankenrevier, mit der wir die Frau aus dem Lager heraustrugen. Wir trugen sie zum Lagertor, wo ein Lastwagen bereitstand“, sagte Luise aus. Der Schutzhaftlagerführer Meyer schlug Bertha ins Gesicht, weil sie der kranken Gefangenen half.19
Noch jetzt gelang es zurückbleibenden Gefangenen, ein letztes Wort mit ihren Freundinnen zu wechseln, und die Opfer versuchten, Botschaften, Andenken oder bloße Worte an ihre Familien zu kritzeln. Fritzi erinnert sich, dass Fini, die hinten auf dem Lastwagen saß, ihr lächelnd zuwinkte. „Selbst da dachte sie noch, sie käme irgendwo hin, wo es besser ist – da bin ich sicher.“
Maria Apfelkammer, die in der Effektenkammer arbeitete, sah wie ihre kommunistischen Freundinnen Tilde Klose und Lina Bertram – die beiden Tbc-Patientinnen, die mit Lotte Henschel freikommen sollten – zu den Wagen gebracht wurden. Sie sah auch den Abschied einer anderen Genossin. Mina Valeske konnte kaum gehen, schaffte es aber, mit ihrem Stock zum Lastwagen zu humpeln.
Rosa Jochmann kam heraus, um ihren Genossinnen zum Abschied zuzuwinken, und Käthe sagte ihr auf der Lagerstraße unter dem Sternenhimmel: „‚Rosa, wenn es doch so sein sollte, dass ich nicht mehr nach Hause komme, dann grüße meine drei Buben.‘ Sie hat immer auch [ihren Ehemann] Otto miteinbezogen, sie hatte ja nur zwei Söhne. … Ich weiß es nicht, und ich werde es nie wissen, ob die Käthe wirklich nicht an das Ende geglaubt hat.“
Das ganze Lager – Aufseherinnen und Gefangene – stand schweigend da, als die Planen der Lastwagen heruntergelassen und festgekettet wurden und die Wagen abfuhren.
|163|Am nächsten Tag ging das Lagerleben weiter, aber die Gefangenen merkten, dass manche Frauen einfach verschwunden waren. Rosa Jochmann spähte in den jüdischen Block und „der ganze Block ist gegangen. Auch bei den Zeugen Jehovas waren viele Betten leer. Die hätten ja jeden Tag nach Hause gehen können. … Die brauchten nur beispielsweise am Montag unterschreiben, dass sie dem Jehova abschwören, und am Dienstag in der Früh wären sie nach Hause gegangen. Von Tausenden haben es fünf getan.“ Das Revier war ebenfalls leer – bis auf Lotte. Der halbe Strafblock war fort.20
Wie viele Gefangene in dieser Nacht genau weggebracht wurden oder wer sie waren, ist nie geklärt worden. Die Sekretärinnen waren dazu in der besten Position, weil sie die Papierarbeit machten. Maria Adamska sagte, sobald die Lastwagen abgefahren seien, habe sie die Akten bestimmter Häftlingsfrauen holen müssen und die meisten seien Juden gewesen, dazu Alte und Kranke. Ihre Akten wurden in die neue Lagerregistratur gebracht und einige Tage dort gelassen, bevor sie zurück in die politische Abteilung kamen und in einem Stahlschrank eingeschlossen wurden. Rosas Eindruck, der jüdische Block sei geräumt worden, war falsch, denn Dutzende, auch Olga, waren noch da.
Es wusste auch niemand, wohin die Frauen gekommen waren oder was aus ihnen geworden war. Koegel befahl den Häftlingssekretärinnen einfach, „Sondertransport“ oder „Sonderbehandlung“ auf die Akten der Verschwundenen zu schreiben, in manchen Fällen auch nur „Überstellung in ein anderes Lager“.
Am folgenden Tag wusste keine der Gefangenen etwas Genaues, wie Koegel Himmler, als er ihn drei Tage darauf traf, mitteilen konnte.
∗
Im Gegensatz zu Himmlers Besuch im Januar ist das Treffen mit Koegel am 7. Februar 1942 in dessen Kalender verzeichnet: „SS-Ostubaf. [Obersturmbannführer] Koegel Professor de Crinis.“ Professor Max de Crinis war ein führender T4-Psychiater.21
Der Eintrag ist in doppelter Hinsicht interessant. Zunächst nennt er ungewöhnlicherweise nicht den Ort des Treffens. Da Ravensbrück nicht erwähnt ist, könnte es in Himmlers Dienstzug stattgefunden haben, in dem er damals umherfuhr. Wahrscheinlicher ist aber das SS-Krankenhaus Hohenlychen. Karl Gebhardt hatte sich bereit erklärt, Hedwig Potthast zu entbinden, und „Häschens“ Wehen standen unmittelbar bevor. Es ist deshalb möglich, dass Himmler erneut seine Mordgeschäfte mit einem Besuch bei ihr verband. Hohenlychen war ruhig und gut für ein Gespräch geeignet und auf Gebhardts Verschwiegenheit war Verlass.
|164|Das Thema der Unterredung („Bibelforscher“) ist ebenfalls auffällig. Zweifellos beschwerte Koegel sich wie immer über die gläubigen Frauen, aber es überrascht, dass sie drei Tage nach dem Vergasungstransport vom 4. Februar für Himmler oder Koegel Priorität haben sollten, und selbst, wenn es so war, warum war Max de Crinis dabei?
Der Österreicher de Crinis war eine graue Eminenz des Euthanasieprogramms und wohl der intellektuell bedeutendste Arzt hinter den T4-Vergasungen. Friedrich Mennecke sagte bei seinem Prozess aus, dass de Crinis anwesend war, als T4-Ärzte im Februar 1940 zusammenkamen, um den Euthanasieplan zu entwerfen. De Crinis bewegte sich auch in den höchsten Regimekreisen und stand Reinhard Heydrich besonders nah.
Was Himmler mit de Crinis besprach, ist unbekannt. Angesichts de Crinis’ detaillierter Kenntnis der Euthanasievergasungen kann man annehmen, dass auch die Judenvernichtung ein Thema war. Die Verbindung zwischen der Ermordung der Behinderten (T4), der Ermordung „unnützer Esser“ in Konzentrationslagern (14f13) und der drei Wochen zuvor in Wannsee gefällten Entscheidung zur Vergasung aller Juden in Europa symbolisiert sich in de Crinis’ Anwesenheit. Alle drei Mordprogramme waren Stufen des NS-Völkermords und die dabei benutzten Methoden – vor allem die Anwendung von Gas – waren ähnlich. Zum selben Zeitpunkt hielten de Crinis’ T4-Kollegen sich in Polen auf, um dabei zu helfen, ihre Erfahrungen für den Judenmord in den geplanten neuen Todeslagern zu nutzen. Und zweifellos konnte de Crinis Rat bei weiteren Vergasungen in Deutschland geben, darunter den nächsten Vergasungen von Frauen aus Ravensbrück.
Ein Schlüsselaspekt der Vergasungen vor Ort war die weiterhin notwendige Geheimhaltung. Es war von Vorteil, die Mordkampagnen gegen die Juden viele Hundert Kilometer weiter östlich durchzuführen, fern ab von der deutschen Öffentlichkeit, aber die Vergasung der Frauen aus Ravensbrück hatte in einem T4-Mordzentrum in Deutschland stattgefunden. Wegen der früheren Proteste in der Umgebung dieser Zentren durfte niemand etwas erfahren.
Dass von der Ravensbrücker Aktion nichts durchgesickert war, muss Himmler und de Crinis also erfreut haben. Kirchenführer hatten weggeschaut, die Einwohner von Fürstenberg hatten nicht auf die Lastwagen geachtet, die das Lager verließen, und Koegel konnte berichten, dass niemand das Ziel der Wagen kannte – die Gefangenen gewiss nicht. Das Geheimnis der ersten Massenvergasung von Frauen durch die Nazis war gut gehütet worden – doch während diese drei Männer sich trafen, wurde das Geheimnis in Ravensbrück buchstäblich ausgekippt.
Ein oder zwei Tage nach dem Abtransport der Frauen kamen dieselben Lastwagen, die sie weggebracht hatten, zurück und hielten vor der Effektenkammer. |165|Die Planen wurden zurückgeworfen und ein Haufen Kleider fiel mit anderen Gegenständen heraus – Krücken, Schlingen, Gebissen, Brillen, Stöcken. Gefangene, die diesen Haufen sortierten, fanden die Kleider und persönliche Habe der Verschwundenen. Erneut wusste die Effektenkammer die Neuigkeit als Erste und die Neuigkeit besagte, dass die Frauen tot sein mussten.
Nicht die Kleider waren der Beweis. Als Teil der Vertuschung hatte man den Frauen vor der Abfahrt gesagt, sie sollten ihre Häftlingskleidung mit den Nummern, die sie identifizieren konnten, ausziehen und zufällige, nicht identifizierbare Zivilkleidung anziehen. Doch daneben lagen die Besitztümer der Frauen, die ihren Freundinnen im Lager bekannt waren: Schlingen, Krücken, Brillen, und ihre Besitzerinnen hätten nicht auf sie verzichten können.
Maria Apfelkammer war erschüttert, als sie den Stock aus dem Haufen zog, mit dem ihre Freundin Mina Valeske zum Lastwagen gehumpelt war. Er trug sogar Minas Namen und Lagernummer. Auch ihre unverkennbare Brille war dabei. Luise Mauer erinnerte sich: „Unsere Kameradin Türner vom Block 1 konnte ohne zwei Stöcke überhaupt nicht gehen. Und ihre Stöcke waren auch dabei, also konnte Frau Türner nicht in dem Spital sein. Und warum sollten die Gebisse zurückgekommen sein, wenn deren Besitzerinnen noch leben sollten?“22
Luise sagte, sie habe von einer Zeugin Jehovas, die den Lastwagen entlud, erfahren, dass eine Liste der Frauen mit einem Kreuz vor jedem Namen zurückgekommen sei. Die inhaftierte Hebamme Gerda Quernheim erinnerte sich, sie habe im Revier Beinprothesen und Bruchbänder zurückbekommen. „Wir erkannten diese Gegenstände sofort … Wir stellten mit Entsetzen fest, daß diese Frauen nicht mehr am Leben sein konnten.“
Sogar die Aufseherinnen schienen verblüfft zu sein. Erna Zimmer fragte den Lagerkommandanten, warum die Kleider zurückgekommen seien. Er antwortete, sie seien Lagereigentum. „Ich glaubte ihm, aber ich hatte meine Zweifel. 1942 hatte ich das Gefühl, es sei nicht mehr alles in Ordnung.“
Die Aufseherin Jane Bernigau sagte aus, die Wachen hätten den Zweck der Transporte damals nicht gekannt, „wir wunderten uns lediglich darüber, daß einige Tage später die Kleidung der Häftlinge zurückkam. Jetzt erst wurde unter dem Stammpersonal allgemein verlautbart, daß diese Transporte Todeskandidaten waren. Von offizieller Stelle wurde jedoch darüber strengstes Stillschweigen bewahrt.“23
Rosa Jochmann erinnerte sich, dass es keinerlei Zweifel gab, was geschehen war:
|166|Und da haben wir gewusst, dass die tot sind … in der nächsten halben Stunde hat es das ganze Lager gewusst. … Wir haben ja sonst auch am Sonntagvormittag eine Liederstunde veranstaltet, … Aber von dem Moment an war eine solche tödliche Stille im Lager, nicht ausgemacht. Ich habe nicht mehr schreien brauchen …, sondern es war so, als wären alle gelähmt.24
Etwa vier Wochen später verbreitete sich das Gerücht, die Lastwagen kämen erneut, um Frauen mitzunehmen. Nun sahen alle, dass der Sondertransport vom 4. Februar erst der Anfang gewesen war. An diesem Punkt schossen Spekulationen über den Bestimmungsort der Frauen ins Kraut. Nach manchen Gerüchten kamen sie in ein neues Konzentrationslager, aber Eugenie von Skene hörte einen SS-Mann sagen, das neue Lager sei im Himmel.
Das hartnäckigste Gerücht besagte, sie seien nach Buch bei Berlin gebracht worden, wo es große Heilanstalten gab. Luise Mauer hörte, die Frauen seien zu medizinischen Experimenten nach Buch gebracht worden. Andere sagten, sie seien auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet worden. Hanna Sturm fragte den Lagerarzt nach dem Ziel der Transporte. „Er sagte, die Gefangenen kämen in Sanatorien in Buch.“ Maria Adamska sagte: „Wir hörten von SS-Leuten, die Frauen wären in ein Krankenhaus in Buch gebracht und dort mit Elektroschocks getötet worden. Einer der SS-Männer hatte es mit eigenen Augen gesehen.“
Irgendwann kamen eine oder mehrere Frauen auf die Idee, die als Nächstes selektierten Gefangenen sollten Botschaften in ihren Kleidern verstecken, wo sie hingebracht würden. Sie sollten kleine Zettel schreiben, wohin sie fuhren und was sie sahen. In der Kleidung verborgen, vielleicht in einem Saum, würden ihre Kameradinnen sie finden, wenn die Kleider zurückkamen.
Beim nächsten Transport war die Geheimhaltung doppelt so streng. Die SS hatte aus früheren Fehlern gelernt. Dieses Mal nahm sie den Frauen alle persönlichen Gegenstände wie Eheringe und Beinprothesen vorher ab. „Also wussten wir, wer weggebracht werden sollte“, erinnert Eugenie von Skene.25 Doch der Plan mit den geheimen Botschaften wurde trotzdem mit mehreren Freiwilligen durchgeführt. Während die Frauen vor der Abfahrt von Kopf bis Fuß durchsucht wurden, versteckten Gefangene, die im Badehaus arbeiteten, Papierschnipsel und Bleistiftstummel an Orten, wo die Frauen sie finden würden.
Beim zweiten Transport waren mehr jüdische Frauen und auch viele mit grünen und schwarzen Winkeln dabei. Nanda Herbermann schrieb: „Auch viele meiner Dirnen aus Block II fielen darunter. Meistens handelte es sich um Häftlinge, die körperlich krank und siech oder schwach waren und darum nicht zum vollen Arbeitseinsatz gebraucht werden konnten.“26 Luise |167|Mauer sagte, diesmal seien die Frauen mit grünen und schwarzen Winkeln weggebracht worden – bis auf die „Prügelgarde“, womit sie die Kriminellen und Prostituierten meinte, die freiwillig die Prügelstrafe am Bock ausführten.27
Wie schon erwähnt, hatte Gretes Freundin Else Krug, die Düsseldorfer Prostituierte, sich geweigert, den Zeuginnen Jehovas Schläge zu verabreichen. Else saß seit dem Sommer im Strafblock und war nun für den zweiten Sondertransport vorgesehen. Sie war bereit, eine Botschaft zu verstecken. Rosa Jochmann erinnerte sich, dass diesmal ein schönes und intelligentes jüdisches Mädchen namens Bugi auf der Liste stand, und auch sie meldete sich freiwillig. Sorgfältig prägten sie sich ein, welche Kleider die Frauen trugen, als sie wegfuhren.
Auch diesmal kam der Lastwagen wenige Tage später zurück und eine kurze Suche brachte Elses und Bugis Kleider zum Vorschein. Laut Eugenie von Skene wurde Elses Botschaft zuerst gefunden. Sie sagt nicht, was in dem Brief stand, aber offenbar erwähnte Else Buch. Alle hätten das Gefühl gehabt, die Frauen seien ermordet worden, doch der erste konkrete Beweis war ein Brief, der in ihre Jacke genäht war, als ihr Besitz aus Buch zurückkam.28
Bugis Botschaft sagte nichts von Buch. Auf einem winzigen Stück Papier, das in ihrem Rocksaum versteckt war, schrieb sie: „Fahren durch Bernau. Sind in Dessau. Überall gute Aufnahme“ – und damit brach es ab. Auch Bernau ist ein Vorort von Berlin und Dessau liegt südwestlich der Hauptstadt an der Elbe. Eine weitere Botschaft kam von einer Österreicherin. Luise Mauer erzählt, dass sie in einem Ärmel versteckt war und lautete: „Gelandet sind wir in Dessau. … man hat uns gesagt, wir kämen jetzt zum Baden, würden neu eingekleidet und bekämen eine Arbeit zugeteilt.“29
Diese Botschaften ließen keinen Schluss über den Bestimmungsort zu. Elses Zettel hatte den Verdacht auf Buch bestärkt, aber einige andere erwähnten auch Dessau, das viel weiter südlich lag. Nichtsdestotrotz galten die Botschaften als Bestätigung des Todes und, als die Nachricht von ihnen sich verbreitete, lag „tödliche Stille“ über dem Lager, wie Rosa Jochmann sagte.30
Unterdessen hatten Gefangene in den Schreibstuben konkrete Beweise gesehen. Als Briefe von Angehörigen der abtransportierten Frauen kamen, mussten die Sekretärinnen laut Maria Adamska die Akten unter Aufsicht der SS wieder aus dem Stahlschrank holen, um sie beantworten zu können. In jeder Akte fanden sie einen Totenschein mit einer von mehreren Krankheiten als Todesursache.
Sterbeort war immer Ravensbrück. Das Datum variierte, lag aber immer in der Zukunft – mit anderen Worten mehrere Wochen nach dem Verschwinden der Frauen. Emmy Handke erinnerte sich, dass in Ravensbrück |168|SS-Leute in der Kommandantur wochenlang Totenscheine ausfüllten. Wie so etwas in Auschwitz zuging, hat Emmy später selbst erlebt: „Dort gab es fünf verschiedene Vordrucke mit Todesursachen: Herzschwäche, Lungenentzündung, Kreislaufstörung usw. Der Schlußsatz lautete immer: ‚Alle ärztlichen Bemühungen waren vergebens.‘ Die Häftlinge, die diese Totenscheine Formulare ausstellen mußten, konnten sich aussuchen, an welcher Krankheit sie die einzelnen Frauen sterben lassen wollten.“31
Die Sekretärinnen bereiteten auch Briefe für die Angehörigen vor, die sie über den Tod informierten und die falsche Todesursache, das falsche Datum und den falschen Ort nannten. Die Angehörigen wurden auch informiert, sie könnten die Asche ihrer Lieben in einer Urne gegen eine Gebühr erhalten; wegen Infektionsgefahr hätte die Tote sofort eingeäschert werden müssen.
In den folgenden Wochen gab es noch mehrere Sondertransporte. Maria Adamska sagte, sie fanden bis Ende März alle vier Tage statt, laut anderen Gefangenen gingen sie aber bis Mai weiter. Eine plausible Schätzung sind zehn Transporte, von denen jeder etwa 160 Frauen umfasste – eine Gesamtzahl von ungefähr 1600 Ermordeten. Nach den ersten Opfern ließ sich schwerer vorhersagen, wer als Nächstes an der Reihe sein würde – es schien kein echtes Muster zu geben. Nanda Herbermann sagte, sie seien „kunterbunt aus allen Blocks“ ausgewählt worden. Fast alle hatten bis zum Tag ihres Abtransports Zwangsarbeit geleistet. Die meisten hätten noch 20 Jahre Leben vor sich gehabt:
Es handelte sich nicht nur um T.B.-Kranke, um von Syphilis verseuchte Dirnen. Nein, es waren auch gesunde Menschen darunter, die infolge des unerträglichen Daseins, das sie hier zu leben gezwungen waren, vielleicht einmal im Monat einen Herz- oder Nervenanfall bekamen, hervorgerufen durch alle Qual und Entbehrung und Aufregung, die uns täglich von Kommandant und SS-Bewachung auferlegt wurden. … Es waren Häftlinge unter diesen Todgeweihten, die Jahre hindurch Seite an Seite mit uns gelebt und gearbeitet hatten, die nie einen Anfall bekamen, deren Körper aber schwach und nicht allzu widerstandsfähig war.
Um zwei oder drei Uhr morgens erging der Befehl, sich zum Transport zu melden. „Das Geschrei in aller Herrgottsfrühe am Morgen beim Verladen dieser Todgeweihten, … die vorher nichts ahnten, jetzt aber mit grausamer Gewissheit erfuhren, was ihnen bevorstand, hallt mir noch heute in den Ohren. … Und wie sie verladen wurden! Genau wie die Jüdinnen auf Lastviehwagen, wie man ihnen als letztes Lebewohl nur Schimpfworte wie ‚ihr elenden Schweine‘ oder ‚verseuchte Brut‘ nachrief!“32
|169|Olga Benario kam wahrscheinlich irgendwann im März an die Reihe; ihre Genossin Maria Wiedmaier war sich sicher, dass Olga mit dem dritten Transport weggebracht wurde. Maria Wiedmaier hatte von Bertha Teege als Erste erfahren, dass Olga auf der Liste stand, und lief los, um es ihr zu sagen, aber Olga hatte es schon erraten:
Als ich nach wenigen Minuten Olga Benario traf, brauchte ich ihr nichts zu sagen: aus meinem Gesicht las sie alles. Es wurde ein schwerer Abschied. Nachts um 2 auf der kalten Lagerstrasse gab ich ihr das Versprechen, nie ihre kleine Anita zu vergessen; ich sollte ihre Mutter sein. Carlos Prestes sollte ich danken für das kurze aber grosse Glück, das er ihr bereitet hatte. Wenn ich das Leben behielte, sollte ich auch der Partei ihren Dank für die durch sie genossene Erziehung aussprechen … Dann trug sie mir noch Grüsse an alle unsere Kameradinnen auf. So trennten wir uns für immer.33
Maria sagte, Olga sei an einem Montag abtransportiert worden, um zwei Uhr morgens wie immer. Bertha Teege und „einige der Genossinnen“ gingen mit der Gruppe vom jüdischen Block zum Badehaus. „Olga versprach: ‚Wenn es dahin kommt, dass sie uns umbringen, werde ich mich wehren.‘“34
Auch Olga hatte versprochen, eine Botschaft in ihrer Kleidung zu verbergen. Wenige Tage später kam der Lastwagen wieder und Olgas letzte Nachricht wurde gefunden. Sie lautete: „Die letzte Stadt ist Dessau. Wir sollen uns ausziehen. Mißhandelt worden sind wir nicht. Adieu.“ Vier Wochen später tauchte eine Liste mit „in ein anderes Lager Überstellten“ in der Schreibstube auf, auf der Olgas Name stand. „Das war das letzte, was ich je von ihr hörte.“35
Bis April gab es schon konkretere Beweise für die Ermordungen. Mehrere Familien hatten inzwischen die Benachrichtigungen aus dem Lager mit den erlogenen Sterbeorten und Todesursachen bekommen und einige hatten sich die angebliche Asche ihrer Lieben schicken lassen. Manche dieser Angehörigen schrieben an andere Verwandte im Lager – eine Schwester oder eine Cousine –, die nicht selektiert worden waren, sie hätten die Asche der Verstorbenen erhalten und baten um mehr Informationen.
Bis nach Wien wurden Urnen geschickt. Ende März war Käthe Leichters Tante Lenzi, die stets die Briefe aus dem Lager an Käthes Mann und die beiden Söhne in New York weitergeleitet hatte, von der Lagerleitung über Käthes Tod informiert worden. Die kurze Nachricht besagte, dass Käthe am 17. März gestorben sei, und gleichzeitig kam eine Urne mit ihrer angeblichen Asche. Tante Lenzi bat eine Freundin der Familie, die ebenfalls in New York lebte, Otto und den Jungen die Nachricht direkt mitzuteilen. Sie selbst war am Boden zerstört. An ihre Cousine schrieb sie:
|170|Mit der geliebten Mummi sinken alle unsre Hoffnungen, unser Lebensglück ins Grab. Nach jahrelanger, vergeblicher Mühe um ihre Genesung habe ich jetzt die allerletzte u. schwerste Aufgabe zu erfüllen, die Urne mit den sterblichen Überresten, die ich hierher kommen liess, zu bestatten. Wie anders habe ich mir das Wiedersehen mit unserem guten Kätherl vorgestellt! Ihre letzten Zeilen, die immer so selbstlos nur mit Liebe u. Sorge erfüllt waren, habe ich im Februar erhalten; … Nun ist diese Feder für immer verstummt.36
Tante Lenzi fügte hinzu, man habe ihr nicht mitgeteilt, wie Käthe starb, doch sie würde es weitergeben, wenn sie es erfuhr. Natürlich kamen die üblichen Lügen – Käthe sei an „Herzversagen“ gestorben, der Sterbeort sei Ravensbrück. Franz Leichter erinnert sich, dass er, sein Bruder und sein Vater die Geschichte vom Herzversagen zunächst glaubten, weil sie es nicht besser wussten.
Zahllose andere – Angehörige inhaftierter Kommunistinnen, Katholikinnen, Zeuginnen Jehovas, Prostituierten, „Asozialen“, Jüdinnen und Nichtjüdinnen – in ganz Deutschland erhielten ebenfalls Briefe über den Tod ihrer eingesperrten Lieben mit einer Urne falscher Asche. Rosa Menzer starb an „Gebärmutterkrebs“, schrieb man ihrer Familie. Ilse Lipmann starb an einem „Schlaganfall“.
Die Lagerleitung von Ravensbrück wusste oft nicht, wen sie bei den „Asozialen“ informieren solle, da die Adressen der Angehörigen meist unbekannt waren. Im Fall jüdischer Opfer war inzwischen vermutlich die ganze Familie deportiert worden. Doch die Vorschrift besagte, die Angehörigen seien zu verständigen, darum wurden Briefe und persönlicher Besitz an die örtliche Polizei zur Aushändigung geschickt. Der Besitz der Jüdin Henni Stern bestand aus etwas Kleingeld. Als die Polizei keine Angehörigen fand, wurde sie angewiesen, das Geld für das Deutsche Reich zu beanspruchen. Julius ten Brink, der sich drei Jahre lang für die Entlassung seiner Schwester Mathilde eingesetzt hatte, erhielt eine Urne mit einem Bündel ihrer Sachen, aufgelistet als ein Mantel, ein Paar Strümpfe, ein Unterhemd und drei Unterhosen.
Obwohl alle Briefe, die während des 14f13-Täuschungsmanövers an die Hinterbliebenen geschickt wurden, absurd waren, ist der Brief an die Familie von Herta Cohen aus historischen Gründen etwas Besonderes. Herta Cohen war 1940 wegen Sex mit einem Düsseldorfer Polizisten, also „Rassenschande“, verhaftet worden. Sie war unter den Gefangenen, die im Frühjahr 1942 zur Vergasung auf Lastwagen geladen wurden. Wenige Wochen später erhielt die Düsseldorfer Polizei einen Brief mit der Unterschrift des Lagerkommandanten Max Koegel. Sie solle Hertas Schwester finden, ihr den Tod Hertas durch „Herzinsuffizienz“ mitteilen und ihr sagen, wenn sie die Asche ihrer Schwester wolle, solle sie zunächst sicherstellen, dass |171|auf dem örtlichen Friedhof ein Platz frei sei. Dann solle die Familie einen Brief mit der Bestätigung des Urnenplatzes und der Gebühr senden. Sofern der Brief nicht in den nächsten zehn Tagen in Ravensbrück eingehe, werde man die Urne vernichten.37
Dieser bürokratische Schwindel erweitert die Geschichte um tragische Details, aber ein anderer Teil des Briefs hat historische Bedeutung. Der von Koegel unterzeichnete Brief über Herta Cohens Fall ist vielleicht der einzige dokumentarische Beweis, dass die Transporte aus Ravensbrück zum 14f13-Vergasungsprogramm gehörten.
Höchstwahrscheinlich ordnete Himmler persönlich an, dass SS-Mitarbeiter niemals das geheime Kürzel 14f13 im Ravensbrücker Schriftverkehr benutzen dürften. Wegen der besonderen Empfindlichkeit gegenüber der Vergasung von Frauen wollte der Reichsführer besondere Geheimhaltung. In Hertas Fall wurde diese Vorsichtsmaßnahme aber übersehen. Vielleicht galt es als sicher, den Code zu benutzen, weil der Brief an eine Polizeistelle ging, oder es war ein bloßes Versehen. In jedem Fall trägt der Brief oben rechts neben dem Datum, 13. März 1942, den verräterischen Code „14f13“, der jedem Kundigen anzeigte, dass jedes Wort über Hertas Tod durch „Herzinsuffizienz“ eine Lüge war: Herta war vergast worden.
Im Frühsommer hörten die nächtlichen Schreie auf, als die Transporte endeten, aber die Gefangenen waren immer noch nicht schlauer, wo und wie man die Frauen ermordet hatte. Bis Kriegsende glaubten viele in Ravensbrück weiterhin, die Abtransportierten von 1942 seien in einem Krankenhaus oder einer Heilanstalt in Buch bei Berlin ermordet worden. Sogar beim ersten Hamburger Prozess 1946 nannten einige Frauen Buch als Sterbeort. Bis heute ist vieles an Buch noch unerforscht, vor allem in Bezug auf die medizinischen Experimente der Nazis. Man kann nicht ausschließen, dass einige Opfer für Experimente oder nur vorübergehend nach Buch gebracht wurden, bevor man sie anderswo vergaste. Bald nach dem Krieg kamen aber neue Hinweise über den Ort der Vergasung ans Licht.
Als Hitler im Sommer 1941 das Euthanasieprogramm nach kirchlichen Protesten umorganisierte, wurden zwei Vergasungszentren geschlossen, aber bald darauf zwei neue eröffnet. Eines davon befand sich in der früheren Landes-Heil-und-Pflegeanstalt in Bernburg an der Saale zwischen Magdeburg und Halle. Während des Kriegs hatte es keinen Grund für die Häftlinge in Ravensbrück gegeben, Bernburg oder irgendein anderes Euthanasiezentrum als möglichen Zielort anzunehmen; als später aber die Geschichte des T4-Programms zuerst bei den Nürnberger Ärzteprozessen ans Licht kam, erkannte man die Verbindung. Man fand Beweise, dass Ende 1940 eine als Duschraum getarnte Gaskammer in Bernburg eingebaut worden |172|war. In diesem 14 Quadratmeter großen Raum wurden mehr als 8000 Menschen vergast. Neben der Gaskammer lag das Krematorium mit zwei Öfen, einem Seziersaal und einer Leichenhalle.
Die Opfer trafen in großen grauen Bussen ein, manchmal auch mit dem Zug. Schwestern führten sie in einen Raum, wo sie sich ausziehen mussten und untersucht wurden; alle Menschen mit körperlichen oder geistigen Besonderheiten wurden mit einem roten Kreuz auf dem Rücken markiert. In Gruppen von bis zu 100 Personen wurden die Opfer in den Duschraum geführt. Hier warteten sie, dass Wasser aus den Duschen kam, aber stattdessen kam Gas, und sie starben nach meist langem und schmerzhaftem Todeskampf. Die mit Kreuzen markierten Leichen wurden danach seziert.
Dokumente zeigten, dass die ersten Opfer aus Pflegeanstalten kamen, später aber auch aus KZs. Bei dieser Nachricht beschloss eine Gruppe von Ravensbrück-Überlebenden unter Führung der Kommunistin Maria Wiedmaier, weiter nachzuforschen, um das Schicksal ihrer Genossin Olga Benario und anderer Gefangener von denselben Transporten zu erfahren.
Die Frauen, meist Angehörige der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN), erinnerten sich der Geheimbotschaften, die ihre Freundinnen zurückgeschmuggelt hatten, oft mit Dessau als letztem Halt. Ein Blick auf die Karte zeigte, dass Dessau vor Bernburg lag, darum schrieben die VVN-Frauen an den Bürgermeister von Bernburg, um Aufschluss zu erhalten, ob auch Ravensbrücker Gefangene dort vergast worden seien. Das Büro antwortete, alle Dokumente über die Vergasungen seien vor Kriegsende vernichtet worden. Schriftstücke aus Groß-Rosen und Buchenwald führten Transporte aus diesen Lagern nach Bernburg auf, aber die Ravensbrück-Akten waren alle verbrannt.
Der Mann, der das Geheimnis hätte lüften können, war Irmfried Eberl, der Direktor des Bernburger Mordzentrums zur Zeit der Vergasungen. Eberl sollte 1948 vor Gericht gestellt werden, beging aber vorher Selbstmord. Er wusste, dass ihm die Todesstrafe sicher war; nach seinem Posten in Bernburg war Eberl der erste Kommandant des Vernichtungslagers Treblinka östlich von Warschau.
Mit der Zeit erfuhren die Überlebenden mehr über Bernburg. Bei einem anderen Prozess gestand ein Arzt, dass dort Frauen ebenso wie Männer vergast wurden: „Wenn die Personen uns zugeführt wurden, waren sie bereits entkleidet. Sie wurden aus unserem Raum unmittelbar in die sogenannten Duschräume geführt, um dort mit Kohlenoxydgas eingeschläfert zu werden.“38
1969 wurde die Ravensbrücker Aufseherin Ella Pietsch über Bernburg vernommen. 1941–42 war Pietsch Aufseherin in der Strohflechterei, als die Gefangenen plötzlich alphabetisch herausgerufen wurden. Das ärgerte sie, |173|weil ihr nun Arbeitskräfte fehlten. „Es handelte sich durchschnittlich immer um 2 bis 6 Personen, die dann am anderen Tag nicht mehr zur Arbeit erschienen.“ Pietsch war so aufgebracht, dass sie einen SS-Mann fragte, wo die Frauen hingebracht worden seien, und erfuhr, sie seien ins „Neue Lager“ überstellt worden.
Aufseherinnen durften solche Fragen nicht stellen, aber Pietsch ließ nicht locker: „Ich habe aber erfahren, daß es sich bei dem ‚Neuen Lager‘ um das Lager Bernsdorf in der Gegend von Halle gehandelt habe. Dort seien auch Vergasungen vorgenommen worden.“ Einige Tage später korrigierte Pietsch ihre Aussage und sagte, das „Neue Lager“ habe nicht Bernsdorf, sondern Bernburg geheißen. Offensichtlich hatte ein SS-Mann das Geheimnis ausgeplaudert.39
Viele Familien der in Bernburg Ermordeten erfuhren niemals die Wahrheit; viele wussten nicht, wo sie sie suchen sollten. Zehn Jahre nach dem Krieg war aber Lina Krug, die Mutter von Else, entschlossen, mehr zu erfahren. Wie anderen auch hatte man Lina gesagt, ihre Tochter sei an einer Herzkrankheit im Konzentrationslager gestorben, aber das ergab keinen Sinn. So verstand sie nicht, warum ihre gutkatholische Tochter, die vor Jahren ihr Zuhause verlassen hatte, um Arbeit zu suchen, ins KZ gekommen war. Da sie die Geschichte ihres Todes anzweifelte, schrieb Lina 1950 an die VVN und fragte, ob sie wüssten, warum Else verhaftet wurde und wo sie gestorben war.
Als Organisation von Kommunisten erhielt die VVN nur selten Anfragen von Familien von Prostituierten, aber Else war eine Ausnahme. Die Geschichte ihres Muts war im Lager weithin bekannt, ebenso die Art ihres Todes. Die VVN-Überlebenden schrieben daher an Lina Krug, dass ihre Tochter einen schwarzen Winkel als „Asoziale“ getragen habe. Daraus erfuhr Lina, vielleicht zum ersten Mal, dass ihre Tochter eine Prostituierte geworden war. Die VVN konnte Lina auch sagen, der Mut ihrer Tochter sei beispielhaft gewesen. Else hatte sich der SS mehrere Male widersetzt. Sie hatte es abgelehnt, Mitgefangene zu prügeln und war dafür in den Tod geschickt worden.40
Bald nach dem Krieg besuchten Käthe Leichters Ehemann und die beiden Söhne Franz und Henry Wien und erfuhren die Wahrheit über ihren Tod. Sie erfuhren auch, dass Tante Lenzi nicht lange nach Erhalt der Todesnachricht selbst nach Auschwitz deportiert und vergast worden war.
Fritzi Jaroslawsky, die österreichische Widerstandskämpferin, die als Jugendliche ins Lager kam, erfuhr nie das Schicksal von Fini Schneider, mit der sie im Lager befreundet war. Sie sah Fini zuletzt, als sie ihr tapfer vom Lastwagen aus zulächelte. Fritzi hatte immer angenommen, sie müsse gestorben sein, wusste aber nicht wie.
|174|Als wir uns in Wien trafen, zeigte ich ihr eine Namenliste von Österreicherinnen, deren Asche an Hinterbliebene in Wien geschickt worden war, und eine Begräbnisliste, die zeigte, wo die Urnen beerdigt worden waren. Finis Name stand ebenso auf der Liste wie der von Käthe Leichter. Fritzi nahm die Liste und starrte eine Weile schweigend darauf. Dann sagte sie, sie verstehe nicht, wie die Asche zurück nach Wien gekommen sei. Ihre eigene Mutter musste für die Rücksendung der Asche ihres Vaters bezahlen. Wer hätte für Finis Asche bezahlt? Zu diesem Zeitpunkt war die ganze Familie schon tot.41
Keine Urne oder offizielle Nachricht von Olgas Tod trafen je in Rio ein und erst als Carlos nach Kriegsende aus dem Gefängnis kam, erfuhr er sicher, dass Olga tot war, obwohl er es vermutet haben muss, als ihre Briefe 1942 abbrachen. Ob ihre Mutter in München eine offizielle Benachrichtigung erhielt, werden wir nie erfahren, denn Eugenia wurde 1942 zusammen mit Olgas Bruder Ernst nach Theresienstadt deportiert, wo ihre Mutter umkam; Olgas Bruder wurde 1944 in den Gaskammern von Auschwitz ermordet.