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|86|Kapitel 5 Stalins Geschenk

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Im Februar 1940 hielt ein Zug aus Moskau auf der sowjetischen Seite der Brücke von Brest-Litowsk an der Grenze zu Polen. Aus einem Waggon kletterten Menschen herunter und tasteten vorsichtig nach den vereisten Sprossen. Einer nach dem anderen sprang das letzte Stück herunter und plumpste in den Schnee. Insgesamt 24 Passagiere, darunter zwei Frauen, starrten über die Brücke nach Polen und fragten sich, was mit ihnen geschehen würde.

Es waren Deutsche, ehemalige Kommunisten, die aus dem Gulag freigelassen waren und nun von Stalin an Hitler übergeben wurden. Die Brücke auf der sie standen, hatte schon mehreren Verträgen den Namen gegeben, als Deutschland und Russland wiederholt um Polen kämpften. Diese Männer und Frauen waren ein Geschenk an Hitler, diesmal als Teil des Hitler-Stalin-Pakts.

Eine der beiden Frauen war die 39 Jahre alte Margarete Buber-Neumann, die Witwe des führenden deutschen Kommunisten Heinz Neumann, der Stalins Säuberungen zum Opfer gefallen war. Neumann war Gretes zweiter Ehemann. Er war Jude, ebenso wie ihr erster Mann Rafel Buber, der Sohn des jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber. Gretes Schwester Babette heiratete ebenfalls einen Juden. „Vielleicht heirateten beide Juden, weil sie irgendwie gegen ihren Vater protestieren wollten“, sagte Gretes Tochter Judith Buber Agassi. „Ihr bornierter Vater [der Direktor einer Potsdamer Brauerei] mochte keine Juden.“

In den 1930er Jahren hatte Neumann wie andere Mitglieder der KPD-Führung eine Weile in Moskau gelebt. Seine Frau Grete, eine überzeugte Kommunistin, folgte ihrem Mann 1933. Sie wohnten im berühmten Hotel Lux, wo ausländische Kommunisten – unter ihnen Olga Benario – sich versammelten, um an Stalins Hof ihre Aufwartung zu machen. Dann ging das Paar |87|nach Spanien, um eine kommunistische Zeitung zu gründen, verfing sich aber in den tödlichen internen Machtspielen zwischen der KPD und Moskau. Neumann fiel bei Stalin in Ungnade, ohne je den Grund zu erfahren. Wie Millionen anderer wurde er zum Volksfeind erklärt, bei der Rückkehr nach Moskau festgenommen und 1937 nach einem Schauprozess erschossen. Ein Jahr später wurde auch Grete festgenommen und zur Zwangsarbeit nach Karaganda geschickt, ein sowjetisches Konzentrationslager in der kasachischen Steppe.

Die Hinrichtung ihres Ehemanns und zwei Jahre im Gulag hatten Grete sehr angegriffen. Vor der Fahrt an die Grenze behielt man sie und die anderen eine Weile in Moskau, um deren Gesundheit halbwegs wiederherzustellen, sodass die Nazis sich keine unerwünschten Vorstellungen über deren Behandlung machten. Nichts aber konnte ihren Glauben an den Kommunismus wiederherstellen. Sie kehrte verbittert nach Deutschland zurück, angeekelt von Stalin und voller Furcht, was die Heimkehr bringen würde. Gewiss würden die Nazis sie für ihre Jahre als aktive Kommunistin wegen Hochverrats bestrafen.

Die Gefangenen wurden von einer deutschen Eskorte in Empfang genommen und mussten einen Lastwagen besteigen, der in das 170 Kilometer südlich gelegene Lublin fuhr, wo sie ein paar Tage in der Burg im Herzen der Altstadt inhaftiert waren. Hier konnte Grete vom Fenster aus die Zeichen der ersten sechs Kriegsmonate sehen. Ein großer Teil der Stadt lag in Trümmern und auf Befehl von Himmlers örtlichem SS- und Polizeiführer Odilo Globocnik wurden Juden an der Burg vorbei in ein Viertel getrieben, das als Ghetto diente.

Im Burggefängnis erfuhr Grete durch Mitgefangene – Nonnen, Studenten, Professoren, Ärzte – vom NS-Terror und begegnete polnischen Kommunisten, die immer noch Richtung Osten nach Moskau zu entkommen hofften, wo sie auf Rettung zählten. Sie versuchte, deren Glauben an Stalin zu erschüttern, aber während sie redete, „wandten sie sich brüsk von uns ab“.1

Grete wurde weiter nach Westen ins Gestapogefängnis am Berliner Alexanderplatz gebracht. Von diesem als „Alex“ bekannten Gefängnis aus wurden Gefangene auf die Konzentrationslager verteilt. Jede Nacht redeten Frauen über das KZ und darüber, wann sie dorthin kommen würden. Freitags wurde die Liste jener verlesen, die am nächsten Tag abfahren sollten. An einem Freitag hörte eine jüdische Ärztin, sie hieß Jacoby, dass ihr Name auf der Liste stand. In derselben Nacht wollte sie sich am Spülkasten der Toilette erhängen, wurde aber entdeckt und abgeschnitten. Am nächsten Tag kam sie nach Ravensbrück.

Hier im Alex begegnete Grete der jungen deutschen Kommunistin Lotte Henschel, für die Sowjetrussland immer noch das gelobte Land war. Lotte |88|fragte Grete nach ihren dortigen Erlebnissen und, als sie alles angehört hatte, saß sie weinend neben ihr auf der Matratze. „Das war meine einzige Hoffnung! … Ach, warum sind wir nun verurteilt, weiterzuleben!?“, fragte sie.2

Am Freitag, dem 2. August 1940, hörte Grete ihren Namen auf der KZ-Liste und wurde am nächsten Tag nach Ravensbrück überstellt. Außer ihr waren noch 50 Frauen auf dem Transport, aber nur zwei hinterließen einen Eindruck bei ihr. Die eine, die sie für eine Prostituierte hielt, erklärte, sie gehe nur zur Umerziehung und werde in drei Monaten wieder draußen sein. Die andere war eine Zeugin Jehovas, die wie eine Lehrerin aussah und ständig betete.

Vormittags kamen sie am Bahnhof Fürstenberg an. Hunde knurrten, als die Frauen auf Lastwagen stiegen, um nach Ravensbrück gefahren zu werden. Grete betrachtete das Lager, das sie sofort mit Karaganda verglich, fasziniert und schaudernd. Der Stacheldraht, die Wachen, das Geschrei – die Russen hatten „Dawai, dawai!“ geschrien, die Deutschen brüllten „Raus, raus!“ – waren ihr vertraut. Als sie näher kam, zeigten sich aber Unterschiede.

Das KZ war vergleichsweise winzig. Bei Gretes Ankunft gab es dort etwa 4000 Frauen; in Karaganda allein waren es 35.000. Ihre Erinnerung an Sibirien war immer die an den Winter, die Jahreszeit, als sie es verlassen hatte – ein gewaltiges graues, gefrorenes Lager, wo Armeen von meist männlichen Gefangenen unter einem stahlgrauen Himmel in der kasachischen Steppe schufteten.

Als Grete nach Ravensbrück kam, war es August und das Lager erlebte gerade seinen zweiten Sommer. Vor den Toren plätscherte der Schwedtsee zwischen dem Schilfrohr im warmen Sommerwind. Drinnen sah sie zu ihrem Erstaunen rote Blumenbeete; vor ihr lag eine Art Straße, gesäumt von 16 hölzernen Blocks, alle angestrichen, und neben jedem stand ein kleines Bäumchen.

Die Wege nahe dem Tor waren mit frisch geharktem Sand bedeckt. Links stand neben einem Wachturm ein Vogelgehege. Pfauen stolzierten langsam herum und ein Papagei kreischte. In Karaganda gab es keine Blumen und keinen grünen Rasen, aber dies hier war irgendwie unheimlicher und ein paar Augenblicke lang war alles still.

Brüllen und Geschrei begann wieder, als eine Gefangenenkolonne vorbeikam und Grete zum ersten Mal Insassen eines deutschen Lagers sah; nicht die schlurfenden, klapprigen Gestalten des Gulag – Männer und Frauen durcheinander –, sondern Frauen in Reih und Glied, jede mit einem sauberen weißen Kopftuch, gestreiften Kleid und dunkelblauer Schürze. „Ausrichten! Hände runter! In der Reihe bleiben!“3 Ihre Gesichter waren unbewegt. Alle sahen gleich aus. Eine Sirene heulte. Nun kamen von allen Seiten Frauen in Fünferreihen. Manche trugen Spaten auf der Schulter und am erstaunlichsten |89|war, dass sie „blöde Soldatenlieder“ sangen. Es war alles sehr preußisch und Grete kannte die preußischen Sitten, schließlich stammte sie aus Potsdam.

Außerdem bemerkte sie immer mehr „preußisch-bürokratische“ Gründlichkeit. Die Daten der Neuankömmlinge wurden aufgenommen, Akten gestempelt, Dossiers gelesen und gegengelesen. Manche der Frauen, die Befehle brüllten, trugen selbst gestreifte Kleider und waren offensichtlich Gefangene. Auch im Gulag hatte man viele Gefangene dafür eingesetzt. Grete hatte sich an Russen in dieser Rolle gewöhnt – sie hießen „Brigadiers“ und waren meist Männer. Frauen, deutsche Frauen, als „Brigadiers“ zu sehen, die anderen Gefangenen Befehle gaben, manche mit sichtbarer Genugtuung, schockierte sie.

Auch die Frau, die Gretes Kopf und Schamhaar jetzt auf Läuse untersuchte, war eine Gefangene, eine Zeugin Jehovas. Die Frau suchte sorgfältig, fand aber nichts und Grete entging der Haarschneidemaschine. Auch die Dusche wurde von Gefangenen betrieben.

Im sowjetischen Lager unterschied man zwischen politischen Gefangenen und Kriminellen. Hier wurden die Insassen in viele Kategorien aufgeteilt, wie Grete an den kleinen farbigen Winkeln sah. Als Politische bekam sie einen roten Winkel mit der Nummer 4208.

Nach dem Duschen stand Grete vor einem Lagerarzt, der mit einer Reitpeitsche an seine Stiefel schlug. Der vor Kurzem eingetroffene Dr. Sonntag holte Grete aus der Reihe. „‚Warum sind Sie hier?‘ … ‚Politisch!‘ – ‚Aha, das richtige Flintenweib! Ab!‘“ Schon bald trug Grete dieselbe Kleidung, in der sie die anderen Gefangenen gesehen hatte: gestreiftes Kleid, blaue Schürze, weißes Kopftuch. Im Sommer gab es keine Schuhe und ihre Gruppe ging barfuß über den spitzen Kies zu Block 16, dem Aufnahmeblock. Sie wartete mit den anderen 50 Neuankömmlingen davor und rieb sich die Fußsohlen, um scharfe Kiesel zu entfernen.

Hinter den Hütten sah sie die hohe Lagermauer und zählte fünf Reihen Stacheldraht. Die Mittagssonne spiegelte sich auf einem Schild mit einem Schädel und gekreuzten Knochen in Gelb. Am selben Tag war eine „Zigeunerin“ in den Draht gelaufen. „Oben am Stacheldraht hängen noch die verkohlten Finger, die sind hängengeblieben, als man die Leiche herunternahm“, hörte sie.4

Eine Stimme mit schwäbischem Akzent rief Namen auf. Es war Gretes Blockälteste. Auch sie war eine politische Gefangene mit rotem Winkel und trug dazu ein grünes Armband. Grete fand sie abstoßend; jemand sagte, sie heiße Minna Rupp.

Im Block strickten Reihen von Frauen graue Socken. Wegen der wachsenden Anzahl der Neuankömmlinge wurden sie getrennt gehalten, bis ihre Registrierung abgeschlossen war, und während sie warteten, strickten sie |90|Socken für Soldaten. Im Vergleich zu den Lehmhütten des Gulag wirkte die Hütte wie ein „Palast“. Dort war Grete in die Steppe gegangen, um ihre Notdurft zu verrichten, hier gab es richtige Toiletten und Waschbecken, auch Möbelstücke – Schemel, einen Tisch und Schränke. Die neuen Gefangenen bekamen jede ein Essensgeschirr – Becher, Löffel und Essnapf – sowie zwei Wolldecken, ein weißes Betttuch und ein langes, blau-weiß gestreiftes Nachthemd. Sie erfuhren die Regeln über das Waschen, Essen und „Bettenbauen“.

Später erfuhr Grete durch andere Insassen von den vielen zusätzlichen Regeln, die Minna Rupp durchsetzte. Rupp betrachtete einen Kratzer auf dem Blechnapf einer Gefangenen als Sabotage und meldete die Übeltäterin, die vielleicht Hiebe oder eine Zellenstrafe bekam. Frauen durften einander nicht anlächeln oder die Hand schütteln, sonst wurden sie zum „Strafestehen“ nach draußen geschickt.

Die Blockova kontrollierte sogar, wie die Frauen ihre Unterwäsche anzogen, damit sie kein Papier gegen die Kälte hineinsteckten. Niemand durfte nachts auf die Toilette und stets musste absolute Ruhe herrschen. Nichts war für Minna Rupp aber wichtiger als die Art, wie das Bett gemacht wurde. Eine Falte im Betttuch bedeutete, dass den ganzen Sonntag über zur Strafe Betten gemacht werden mussten. Wiederholungstäterinnen kamen in den Strafblock oder Bunker und erhielten 25 Hiebe und Minna Rupp wusste genau, wie sehr das gefürchtet war, nachdem sie selbst wegen einer gestohlenen halben Karotte in den Strafblock geschickt worden war. Später wurde sie auch ausgepeitscht.

Gretes Freundinnen im Block der Neuankömmlinge waren meist Polinnen, einfallsreiche Frauen, darunter viele Lehrerinnen. Sie waren schon seit einigen Wochen da und hatten gut gelernt, sich den Regeln anzupassen. Eine Klavierlehrerin zeigte Grete den Trick zum Bettenmachen. Sie benutzte einen Stock, um die Matratze zu glätten, sodass Rupp sich nicht beschweren konnte. Alle hassten Rupp. Bis vor Kurzem hatten nur „Asoziale“ und Kriminelle diese Funktionen bekleidet, aber vor Kurzem hatte es einen Putsch gegeben und nun hatten auch Kommunistinnen wie Rupp diese Posten inne.

In den folgenden Tagen achtete Grete auf diese Kommunistinnen. Sie kannte ein paar von ihnen wahrscheinlich von früher und fürchtete sich, ihnen zu begegnen. Wie die anderen, denen sie seit dem Verlassen der Sowjetunion begegnet war, würde keine von ihnen anhören, was Grete über Stalin zu sagen hatte. Es würde ihnen nicht gefallen, dass man sie aus Moskau hergeschickt hatte. Sie würden misstrauisch sein.

Nach nur einer Woche kam es zur Konfrontation. Grete strickte gerade Socken, als eine Gruppe von Gefangenen mit roten Armbinden den Block betrat und ihren Namen rief. Unter ihnen war Minna Rupp. Das Trio führte |91|Grete in den Schlafbereich, wo sich während des Tages keine Gefangenen aufhalten durften, und begann mit der Befragung.

„Du bist in Moskau verhaftet worden?!“ – „Ja!“ – „Warum denn?!“

Grete wurde klar, dass dies ein politisches Verhör im Auftrag der kommunistischen Gefangenen war. Sie antwortete offen und erzählte die Geschichte der Verfolgung durch Stalin.

„Da bischte äbe ä Trotzkischt!!“, sagte Minna Rupp. Damit meinte sie, dass Grete eine Verräterin an der wahren stalinistischen Sache war. Von nun an war sie ausgestoßen. Grete war erneut als Volksfeind gebrandmarkt worden, diesmal von ihren ehemaligen deutschen Genossinnen, nun ihre Mitgefangenen in einem NS-Konzentrationslager.5

Der kommunistische Putsch, der die Gefangenen mit grünen und schwarzen Winkeln aus ihren Kapojobs verdrängte, war ein Wendepunkt in der Frühzeit des Lagers.6 Er fand irgendwann im Frühjahr 1940 statt. Bis dahin hatte die SS „Asoziale“ und Kriminelle als Kapos ausgewählt; dass Olga Benario Ende 1939 Blockova geworden war, war eine Ausnahme. Zu Beginn des neuen Jahres beschlossen die politischen Gefangenen dann, die „Grünen“ und „Schwarzen“ zu verdrängen. Dafür hatten sie mehrere Gründe.

Im Januar 1940 humpelte eine zum Skelett abgemagerte Gestalt aus dem Zellenbau und schaute zum Himmel. Hanna Sturm, die österreichische Tischlerin und getreue Kommunistin, war nach sechs Monaten Einzelhaft entlassen worden. Sie hatte im Dunkeln gelebt, Hungerrationen bekommen und war fast gestorben.

Bei der Rückkehr in ihren Block erzählte Hanna ihren Genossinnen vom Schrecken des Bunkers und darüber, wie sie als tot aufgegeben worden war. In den eisigen Wintermonaten war sie krank geworden, konnte nichts essen und wurde so schwach, dass sie bloß auf dem Boden lag. Einmal hörte sie Zimmer vor der Zellentür sagen: „Die krepiert auch bald da drin“, aber diesen Gefallen wollte sie dem „alten Scheusal“ nicht tun. Sie zwang sich, ihr Brot zu kauen. Sie spuckte die Kruste aus und konnte genug von der weichen Masse schlucken, um langsam wieder zu Kräften zu kommen.

An einem Sonntag hatte eine nette Aufseherin namens Lena Dienst. Hanna wusste, dass „Lenchen“, wie sie sie zärtlich nannte, freundlich war, denn sie war ihr einmal begegnet, bevor sie in den Bunker kam. Damals hatten die beiden ein Fenster in der Villa des Kommandanten repariert und Lenchen sagte zu Hanna: „Sehen Sie, wie die hier leben, und wir müssen Dienst machen und haben wenig zum Leben.“

Nun öffnete Lenchen Hannas Zellentür und sagte: „Ach, hier sind Sie. Ja, wie sehen Sie denn aus, was ist mit Ihnen?“

„Krank bin ich, … sehr krank.“

|92|„Wie kann man Ihnen helfen? … Hier in diesem Loch werden Sie bestimmt zu Grunde gehen.“

Lenchen brachte Hanna Essen und Medizin und holte am nächsten Tag sogar einen Arzt, um sie zu untersuchen – einen Arzt, der erst kurze Zeit im Lager war. Er vermutete, Hanna habe Typhus, wurde aber von Zimmer nicht in die Zelle gelassen. Hanna kam jedoch langsam wieder zu Kräften und Ende Januar 1940 kam plötzlich Koegel in ihre Zelle und fragte: „Na, … wollen Sie nicht wieder an Ihren Platz gehen?“

„Jawohl, Herr Kommandant“, antwortete Hanna.

„Na, dann raus hier. Aber wehe, wenn ich noch etwas erfahre!“ Hannas Freilassung war eine große Freude für ihre Genossinnen, aber der Anblick dieser ehemals starken Österreicherin, die jetzt nur noch aus Haut und Knochen bestand, bewies erneut die schreckliche Lage, in der sie sich alle befanden.7

Seit Hannas Einzelhaft waren viele kommunistische Genossinnen dem Zusammenbruch nahe. Eine hatte sich gegen den elektrischen Zaun geworfen und die offiziellen Auspeitschungen auf dem Bock verbreiteten eine neue Art von Schrecken. Eine Frau namens Irma von Strachwich wurde in den Bunker gesperrt, weil sie „Heil Österreich!“ gerufen hatte. Als sie weiterschrie, bekam sie 50 Hiebe und starb. Bald schien jede Frau eine Gefangene zu kennen, die ausgepeitscht worden war. Ira Berner, auch sie eine deutsche Kommunistin, sagte: „Ich habe Frauen gesehen, deren Haut eine einzige blutige Masse war, so dass sie wochenlang nicht sitzen konnten. Viele hatten verletzte Nieren und andere Verletzungen.“8

Den größten Schock löste aber die „inoffizielle“ Ermordung der österreichischen Kommunistin Susi Benesch aus. Die deutsche Politische Rosemarie von Luenink sah mit an, was geschah:

Damals mussten wir Backsteine von einem Schiff abladen. Benesch war so schwach, dass sie die Steine nicht mehr tragen konnte, und brach zusammen. Rabenstein zog sie mit Gewalt wieder hoch, legte ihr den Stein wieder auf die Schulter, und dann brach sie zum letzten Mal zusammen. Darauf nahm Rabenstein selbst den Stein und schlug ihn Benesch auf den Kopf. Benesch starb sofort, und wir sahen, wie ihr das Blut aus dem Mund lief und die Zunge heraushing.9

Nach Susis Ermordung sank die kommunistische Kampfmoral und die erfahrene Käthe Rentmeister führte eine Aktion an, um ihren Stolz wiederherzustellen. Sie rief die Genossinnen an ihrem Schlafplatz in Block 1 zusammen und sie besprachen, was zu tun sei. Alle waren vor dem Lager lange im Gefängnis gewesen. In den 1920er Jahren hatten sie ihre ersten Erfahrungen in Gewerkschaften und kommunistischen Jugendversammlungen |93|gemacht, in den Korridoren des Reichstags oder bei Komitees der Roten Hilfe. Die meisten hatten Ehemänner, Brüder oder Väter in den Lagern. Käthe Rentmeisters Bruder war in Sachsenhausen – er gehörte zu denen, die zum Bau von Ravensbrück geschickt wurden. Maria Wiedmaier war die Härteste von allen.10 Sie hatte für die KPD im Untergrund gearbeitet und Streiks in Holland und Frankreich organisiert. 1935 sagte ihr die Gestapo, der Mann, den sie liebte, sei tot. Maria glaubte ihnen nicht, also brachten sie sie zu einem Friedhof und exhumierten seinen Leichnam vor ihren Augen, dann wurde sie eingesperrt.11

Die Frauen stimmten überein, dass Koegel sie fast gebrochen hatte und es keine Verteidigung gegen die SS gab, aber sie konnten sich gewiss gegen Frauen wie Margot Kaiser, den Lagerschreck, und ihre Kapos mit grünen und schwarzen Winkeln verteidigen. Jede von ihnen war irgendwann von einer von Kaisers „Banditen“ an die SS verraten worden. Die politischen Gefangenen mit rotem Winkel konnten sich nicht einmal treffen, ohne von Kaiser verraten zu werden, während der „asoziale“ und kriminelle „Abschaum“ von anderen Gefangenen stahl und Privilegien genoss, die den anderen verwehrt waren.

Wenn die Kommunistinnen irgendwie an diese Kapoposten kämen, würde ihr Leben sich vielleicht verbessern. Das war nicht unmöglich, zumal es Grund zu der Annahme gab, dass Johanna Langefeld auf ihrer Seite sein könnte. Langefeld hatte vor Kurzem den Bitten der Frauen entsprochen, alle politischen Gefangenen zusammen in Block 1 wohnen zu lassen. Die Oberaufseherin schien die Art, wie sie Ordnung hielten, anzuerkennen und ein oder zwei Führungsfiguren hatten ihr Vertrauen gewonnen. Alle wussten, dass Langefeld ihren eigenen Krieg mit der SS ausfocht. Sie brauchte neue Verbündete, sogar unter den Gefangenen.

Einige waren dagegen, die Arbeit der faschistischen SS zu tun, aber andere sagten, der jüdische Block sei wie verwandelt, seit Olga Benario dort Blockälteste geworden war. Die jüdischen Frauen gingen jetzt mit erhobenem Kopf, organisierten Gedichtlesungen und redeten sogar davon, ein Theaterstück aufzuführen.

Wenn die Kommunistinnen nicht etwas Macht an sich zögen, würden andere ihnen zuvorkommen. Die Tschechinnen hatten Posten und Langefeld begünstigte sogar bestimmte Polinnen. Maria Wiedmaier stand mit Olga in Verbindung, die sie zum Handeln drängte; das Überleben sei ihre Pflicht als Kommunisten. Maria sagte, sie sollten sich nicht nur in den Blocks, sondern auch in der Küche und den Büros um Posten bemühen, um dort Informationen sammeln und verdeckt arbeiten zu können. Wie Olga hatte Maria in Moskau gelernt und nicht vergessen, wie man infiltrierte – wie ihre späteren Stasi-Akten zeigten, vergaß sie es ihr ganzes Leben nicht.

|94|Hanna Sturm entwarf einen Plan. Mehrere Wochen nach ihrer Entlassung war sie zur Arbeit im SS-Vorratskeller geschickt worden, wo „asoziale“ Kapos die Arbeit leiteten. Gefangenen wurde oft Diebstahl im Keller vorgeworfen. Hanna schlug vor, einem der dortigen Kapos eine Falle zu stellen. Sie und einige andere stahlen Zigaretten und Alkohol aus den Vorräten und versteckten die Beute bei einer bekannten Blockova mit grünem Winkel. Dann sorgten sie dafür, dass Langefeld davon erfuhr.

Der Plan gelang besser als erhofft. Langefeld war über den Vertrauensbruch durch ihre „asozialen“ Kapos außer sich und warf Margot Kaiser in den Strafblock. Gegen Ende des Frühjahrs hatten die Politischen die einflussreichsten Posten im Lager erobert und die Kommunistin Babette Widmann übernahm Kaisers Posten als Lagerälteste. Niemand dachte an das Schicksal der rausgekanteten Frauen; die Kommunistinnen dachten zuerst an die eigenen Genossinnen.

Barbara Reimann, eine junge Hamburger Kommunistin, war 1940 festgenommen worden, weil sie Briefe an deutsche Frontsoldaten schrieb und sie aufforderte, nicht zu kämpfen. Sie traf im Lager ein, als die Kommunistinnen gerade die Funktionen an sich gebracht hatten, und fand viele hilfsbereite Genossinnen. Minna Rupp, nun die Blockälteste der Neuankömmlinge, teilte der Lagerältesten Barbaras Ankunft mit und durch Langefeld ließ man sie in den politischen Block 1 verlegen. Hier nahmen ältere deutsche Frauen, von denen sie manche als Mütter von Schulfreundinnen kannte, sie unter ihre Fittiche.12

Es überrascht nicht, dass die gerade zu Einfluss gekommenen Kommunistinnen entschlossen waren, ihn nicht untergraben zu lassen. Als sich im August herumsprach, dass Grete Buber-Neumann eingetroffen sei und Lügen über Stalin erzähle, beschloss man, sie als Trotzkistin zu verurteilen. Die Kommunistinnen sagten später, die SS habe Grete eines Morgens wie eine Trophäe zu ihnen gebracht und gesagt: „Wollt ihr wissen, wie schlimm ein Konzentrationslager sein kann? Dann fragt sie, nach Stalins Lagern.“13 Laut Maria Wiedmaier war es Olga Benario, die vorschlug, Grete auszustoßen, und die kommunistische Führungsgruppe stimmte zu.

Gretes Tochter bezweifelt aber, dass der Vorschlag von Olga kam. Die beiden Frauen waren einander in den 1930er Jahren kurz im Moskauer Hotel Lux begegnet. „Meine Mutter sprach immer nur mit Hochachtung von Olga“, sagte Judith Buber Agassi, als sie im Sonnenschein in ihrer Villa an der israelischen Küste saß. Dennoch betont sie, dass ihre Mutter stets bittere Gefühle über ihre Behandlung durch den Rest der kommunistischen Clique hegte.

|95|Für meine Mutter war es das Schlimmste. Sie sah die Kommunistinnen als borniert an. Wer kein Kommunist war, war weniger wert, sogar im Lager. Ob eine Frau im Lager war, weil sie Prostituierte, Zeugin Jehovas oder Jüdin war, war völlig egal. Die Kommunistinnen waren ein engstirniger Haufen. Meine Mutter konnte das nicht ertragen. Nach dem Krieg behaupteten sie, sie hätten den Juden im Lager geholfen, aber das war natürlich unmöglich. Sie konnten nicht helfen.

Dass die nichtjüdischen politischen Gefangenen den Jüdinnen nicht helfen konnten, ist nicht ganz richtig. Durch Langefeld und ihre Umgebung sammelten die politischen Kapos Informationen, die sie an die jüdischen Frauen weitergeben konnten. Maria Wiedmaier schmuggelte weiterhin Olgas Briefe nach draußen, darum konnte sie an Carlos und Leocadia freier schreiben als durch die Lagerpost. Außerdem glaubten die Jüdinnen selbst offensichtlich, die neuen Kapos mit roten Winkeln könnten ihnen helfen, daher unterstützte nicht nur Olga, sondern auch andere jüdische Anführerinnen in Block 11 die „Machtergreifung“ der Politischen.

Käthe Leichter hatte den jüdischen Block seit ihrer Ankunft im Herbst 1939 mit ihren Gedichten und Geschichten erfreut und sich damit einen Namen im Lager gemacht. Als Sozialdemokratin war sie von den Informationen der Kommunistinnen abgeschnitten, besaß aber eigene Kontakte und hörte im April, dass eine alte Freundin aus Wien, die Sozialdemokratin Rosa Jochmann, auf dem Weg ins Lager war. Käthe richtete es so ein, dass sie sich so schnell wie möglich treffen konnten. Sie redete Rosa zu, Blockälteste zu werden.

Später erinnerte sich Rosa: „Sie hat mir eigentlich, als ich am ersten Tag beim Spaziergang mit ihr über die Lagerstraße ging – wir sollten ja mit den Juden nicht reden, aber wir haben natürlich alle mit den Juden geredet … –, die Instruktionen gegeben, hat mir alles gesagt.“14 Käthe war sicher, dass Rosa für den Posten als Blockova wie geschaffen sei, weil sie ihren starken Charakter kannte.

Dass Rosa Jochmann in Ravensbrück Käthe Leichter wiederbegegnen sollte, war an sich schon außergewöhnlich. Die beiden kannten einander aus der Wiener Arbeiterkammer der späten 1920er Jahre, wo sie für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen für Frauen gekämpft hatten. Ihre Herkunft war sehr unterschiedlich. Die 1901 geborene Rosa war Tochter einer Wäscherin und eines Stahlarbeiters und hatte mit 14 Jahren angefangen, in der Fabrik zu arbeiten. Später war sie in der österreichischen Gewerkschaftsbewegung aktiv und wurde Zentralsekretärin der Sozialistischen Frauen Österreichs.

Die sechs Jahre ältere Käthe Leichter stammte aus einer wohlhabenden kultivierten jüdischen Familie in Wien, löste sich aber von ihren bürgerlichen |96|Wurzeln und studierte bei Max Weber in Heidelberg Soziologie. Während des Ersten Weltkriegs organisierte Käthe pazifistische Proteste und wurde nach Österreich zurückgeschickt. Von den Nationalsozialisten wurde ihr der Doktortitel aberkannt.

Als Frauenrechte zu einem wichtigen Thema der österreichischen Linken wurden, standen beide Frauen an vorderster Front der Bewegung, obwohl Rosa, die für Streiks eintrat, nicht immer einer Meinung mit Käthe war, die Verhandlungslösungen forderte und den Arbeitern vorschreiben wollte, was sie zu tun hätten. Dennoch befreundeten sich die beiden und arbeiteten zusammen, bis ihre Aktivitäten unter der austrofaschistischen Staatsführung verboten wurden. Als der Anschluss an Hitlerdeutschland Anfang 1938 unausweichlich schien, arbeiteten beide für den antifaschistischen Widerstand und riskierten die Festnahme; keine ergriff die Gelegenheit zur Flucht.

Käthe Leichters Ehemann Otto, der eine antifaschistische Zeitung herausgab, und ihre zwei Söhne gingen nach Frankreich und erwarteten, dass sie folgen würde, aber aus Gründen, die die Familie nie ganz verstand – wahrscheinlich, weil es ihr schwer fiel, ihre Mutter zu verlassen, die noch in Wien lebte, und sie nicht glaubte, gefasst zu werden –, zögerte Käthe die Abreise hinaus. Schließlich kaufte sie eine Bahnfahrkarte, wurde aber am Abend vor der Abfahrt festgenommen.

Als Rosa Jochmann sechs Monate später nach Ravensbrück kam, war sie erstaunt, ihre Freundin hier zu treffen, und noch erstaunter von dem, was sie erzählte. Später erinnerte sie sich ganz genau an Käthes Worte, die einen seltenen Einblick in die verzweifelten Gründe geben, warum Gefangene sich entschieden, in den ersten Jahren des Lagers mit der SS zu kooperieren.

Sobald sie von Rosas Ankunft erfuhr, setzte Käthe sich für ihre Ernennung zur Blockova ein und schon das zeigt den Einfluss, den bestimmte Gefangene – sogar jüdische Sozialdemokratinnen – gewonnen hatten. Sie sagte zu ihr:

„Rosa, du musst Folgendes beachten: Du wirst Blockälteste vom politischen Block, das ist schon festgelegt. Du bist aber hier kein Fürsorgerat, du bist auch kein Betriebsrat, du bist ein verlängerter Arm der SS. Und du musst immer der SS recht geben. Und wenn sie vor dir jemanden halb totschlagen, dann musst du noch dem, der halb totgeschlagen ist, sagen: Wieso usw. usf. Und dann musst du aber versuchen zu verhindern, dass die Aufseherin eine Meldung macht.“ Als Blockälteste standest du beim Zählappell, der das Grausamste war, am Eck und kommandiertest alle: „Achtung!“ Alle die Augen dorthin gerichtet, wo jetzt die Aufseherin oder der Kommandant kommt.15

|97|Käthe erzählte Rosa, häufig winkte eine Aufseherin eine Frau mit dem Stock aus der Reihe, weil vielleicht ihr Winkel nicht richtig angenäht war, oder wegen einer anderen Kleinigkeit, für die sie „vor deinen Augen mit der Knute halb totgeschlagen“ wurde.

Da bist du dabeigestanden und musstest noch sagen: „Was ist dir denn eingefallen, wie kannst du …?“ Ich habe gar nicht gewusst, warum sie geschlagen hat, aber ich musste so tun, als ob ich auch empört wäre. Und dann ist die Aufseherin zur Seite gegangen. Ich musste sagen: „Frau Aufseherin, ich bin ganz verstört darüber, denn das ist ein so disziplinierter Mensch. Was der heute eingefallen ist, das weiß ich gar nicht. Bitte, Frau Aufseherin, machen Sie keine Meldung, ich gebe Ihnen mein Wort, ich lasse sie die Klo-Tour machen und Essenholen zwei Monate usw.“ So musstest du es machen, du musstest der SS immer recht geben, immer.

Käthes brutaler Pragmatismus gegenüber der Stellung der Juden schockierte Rosa am meisten. Zuletzt sagte Käthe zu ihr:

„Rosa, und wenn der zu dir sagt, du sollst zu mir sagen ‚Stinkige Jüdin‘, was wirst du tun?“ – „Nein, das sage ich nicht, Käthe, da kannst du jetzt machen, was du willst, das sage ich nicht.“ Sagt sie: „Dann kannst du nicht Blockälteste werden, dann bist du unfähig dazu. Du musst es sagen.“ Ich bin ja nie in die Verlegenheit gekommen. … Du durftest der SS nicht widersprechen. Sie sind alle unintelligent, bösartig, grausam, aber helfen kannst du nur, indem du diplomatisch bist und indem du ihnen recht gibst. Und das ist wahr gewesen.

Käthes Überzeugung, die Kooperation mit der SS sei der einzige Weg zu überleben, spiegelte vielleicht ihren Glauben an Verhandlungen wider wie auch ihre Erfahrung mit der Arbeitskolonne der Privilegierten im Lager. Die Prominenten – die so hießen, weil Prinzessinnen und Primadonnen zu ihnen gehörten – konnten von einem bestimmten Zeitpunkt an tun, was sie wollten. Die deutsche Kommunistin und Lehrerin Clara Rupp (nicht mit Minna verwandt) gehörte zu ihnen und erinnerte sich:

Man freut sich diebisch, königlich, wenn man „die Bande“ ordentlich hinters Licht geführt hat. Das ist gar nicht so selten gelungen. Manche Gruppen hatten solche Übung, dass sie sich um die SS wenig oder gar nicht scherten. Es ist einmal vorgekommen, dass ein Häftling auf den Namen des Direktors einen wunderbaren Azaleenzweig von der Gärtnerei ins Lager und in den politischen Block schmuggelte. Ja, die Sache ging sogar zufällig hoch, da der Direktor sich |98|an dem Tage beim Gärtner beschwerte, dass er nie Blumen bekomme. Aber die Sache war so gut gedeckt, dass den Beteiligten nichts geschah, so raffiniert wussten sie sich zu verteidigen.16

Solche Tricks waren ihrer Aussage nach später viel einfacher, als die Gefangenenzahl so anstieg, dass die Schreckensherrschaft der SS unsystematischer und undurchschaubarer wurde. Wie viele andere Frauen, die von Anfang bis Ende inhaftiert waren, blickte Clara auf die ersten Jahre als die schrecklichsten zurück, weil die SS-Kontrolle in jeden Winkel reichte: Jeder lebte „in der schwersten persönlichen Bedrohung“.17

Und doch erlangte 1940 eine Gruppe von Frauen für kurze Zeit die Freiheit. Sie bauten eine neue Straße zum Lager, als man sie plötzlich aufhören ließ, weil das Baumaterial ausgegangen war. Da es keine Arbeit – und keine Gelegenheit zur Flucht – gab, wurde ihnen keine Wache zugeteilt. Clara erinnerte sich, dass eine freundliche Kapofrau mit grünem Winkel die Aufsicht hatte:

Sie wurde von ihrer Kolonne gut erzogen. Man erzählte ihr einige bescheidene Neuigkeiten, prophezeite den baldigen Untergang Hitlers, ihre bevorstehende sichere Entlassung und man hatte ihre volle Sympathie und nun dirigierten wir sie, statt sie uns. Besondere Fähigkeiten entwickelte auf diesem Gebiet Käte aus Wien, das erste und prominenteste Mitglied der Kolonne, Jüdin, Doktor zweier Fakultäten, zeitungssüchtig, so dass eine Zeitung eine entsetzliche Gefahr für sie und mich bedeutete, da sie als Jüdin keine haben durfte. Wenn ich ihr nun eine brachte, vergaß sie jede Vorsicht, entfaltete, studierte, las, vergaß wo und wer sie war, vergaß, dass es mich Wochen Bunker kosten konnte, wenn es herauskam, woher sie die Zeitung hatte.18

Die Gefangene Elisabeth Kunesch bekräftigt Claras Bericht über die Straßenbaukolonne. Sie war von Anfang an dabei und erinnert sich bis heute an die Kolonne, vor allem an eine Frau namens Käthe: „Käthe war Jüdin und sehr intelligent und sehr freundlich. Sie sang uns etwas vor, wenn wir die Steine schleppten und ließ uns den Schmerz vergessen.“19

Laut Clara gab es in der Prominentenkolonne auch eine echte Fürstin; sie war wegen abfälliger Äußerungen über Hitler von ihrer Köchin denunziert worden und sehr musikalisch. „Sie war die musikalischste von uns, sie konnte jedes Motiv singen, das man nur verlangte, und dann brummte sie auf Wunsch auch die oder jene Stimme des Orchesters.“20

Eine andere Frau mit zwei Doktortiteln namens Maria, „ein wanderndes Lexikon“, brachte Clara jeden Abend eine Stunde englische Geschichte bei:

|99|Sie selbst war ein Unikum. Lang, hager, mit vielen braunen Flecken, oft mit Läusen gesegnet, hatte sie einen dicken Bauch, wickelte alles Mögliche zum Schutz gegen die Kälte um Hals und Beine, verlor alles. … Viele dumme Leute bespöttelten sie, aber die gescheiten waren mit ihr gut freund. Am meisten liebte ich an ihr ihre Sehnsucht nach der Erde, nach dem freien Himmel, nach Bach, Wiese, Wald und Feld und nach allem, was frei und unbehelligt leben und weben kann.

Auch Anni aus Prag, ehemals Sekretärin des ersten tschechischen Präsidenten Tomáš Masaryk, war dabei. „Von ihr hörten wir die tollsten Gerüchte, die das Lager erfand.“ Auch wenn es an die Arbeit ging, marschierten die Privilegierten singend hinaus und, „wenn die Fürstin ganz besonders gut aufgelegt war, sang sie mir die Rosen-Arie aus dem Figaro“. „Dann verteilte Lieschen, der freundliche Kapo mit grünem Winkel, die Arbeit, was nicht ohne Augenzwinkern unsererseits abging.“ Dann redeten die Frauen über Philosophie oder Literatur.

Einmal waren wir fast alle in einem Graben und schichteten Steine. Wir hatten schon Mozart, Beethoven und Bruckner ertönen lassen, als Maria endlich zu Wort kam und uns einen feinen Vortrag über die Romantik hielt. … wir waren so vertieft, dass wir die Aufseherin der Waschküche nicht bemerkten, die plötzlich am Grabenrand auftauchte und uns belauschte. Ich trat Maria auf den Fuss. Sie fing an, mit mir zu schelten, ich sei gar zu rücksichtslos gegen sie, als sie an unsern Gesichtern merkte, dass etwas nicht in Ordnung war, schwieg sie. Die Aufseherin hatte es besonders auf mich abgesehen. Sie schrie: „Ihnen werd ich noch arbeiten lernen, warten’s nur.“ Zwei Monate darnach stand ich in der Waschküche und bürstete von morgens bis abends schmutzige Laken, Kleider und Kohlensäcke.

Die Prominenten sprachen davon, bald nach Hause zu kommen, oder über Marx und über den Streit zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten im jüdischen Block. Sie lauschten Käthes Diskussion mit Olga, ob der Kapitalismus den Keim des eigenen Untergangs in sich trüge.

Jeden Tag hatten wir an irgend einer Ecke unserer ewig sich im Bau befindlichen Strasse eine Diskussion. … Man unterschätzte Hitlers Macht durchschnittlich masslos. … Manchmal mussten wir sogar bei Regen ausrücken, weil wir ein Thema angeschnitten hatten, das unter allen Umständen fertig gemacht werden musste. Käthe war lebendig, gutmütig. Sie erzählte einmal, dass sie im |100|mer mit dem Gedanken umgegangen sei, ihren Kinderwagen zu motorisieren. Wir lachten von Herzen. Immer brachte sie uns die Briefe ihrer lieben beiden Jungen. … Das war die schönste Arbeitskolonne, die ich in Gefangenschaft erlebt habe, wir haben gearbeitet, aber nicht für die Nazis.21

Käthes Enkelin Kathy Leichter, die Tochter eines der hübschen Jungen, erzählt, dass sich die Familie noch heute fragt, warum Käthe Österreich nicht verließ, als es noch möglich war. „Sie hätte sich mit den anderen in Sicherheit bringen können“, sagt Kathy, die als Dokumentarfilmerin an der New Yorker Upper East Side wohnt. „Die meisten Frauen meinten, sie wären nicht in Gefahr. Aber Käthe wusste Bescheid. Wenn man ihre Geschichte verfolgt, möchte man dauernd rufen: Steig in den Zug! Los, steig ein. Warum bist du nicht abgefahren, Herrgott nochmal? Fahr weg, Käthe! Aber sie tut es nicht.“

Ich fragte, wie sie sich Käthe vorstellte. „Sie sah ein bisschen aus wie ich“, antwortete Kathy, die schwarze Locken bis auf die Schultern und große dunkle Augen hat.

Aber sie war größer. Sie war ziemlich männlich. Und wie ich hatte sie einen Beruf, den sie mit den Kindern in Einklang bringen musste. Sie studierte Kinderpflege und die Rechte von Heimarbeiterinnen, und sie sprach mit Näherinnen und fragte sie nach ihren Problemen. Sie hatte versucht, die Welt zu verbessern, besonders für Frauen, und in Ravensbrück versuchte sie das fortzusetzen. Und sie war gebildet. Sie kannte jedes Bild im Louvre. Aber es ist auch schwer, sich ein Bild von ihr zu machen. Ich suche immer nach ihrer Stimme. Sie war verschüttet. Nur manchmal gelingt mir ein Zugang. Durch die Erinnerungen von anderen oder durch ihre Gedichte. Oder durch das Stück.22

Dank Käthe wussten die Prominenten alle von dem Stück. „So etwas konnte nur der Judenblock zustande bringen“, sagte Clara. Das Stück hieß Schumm Schumm und ein ganzes Textbuch davon wurde aufgeschrieben, das aber nicht das echte war, um bei einer Entdeckung harmlos zu wirken. Zusammen mit der österreichischen Jüdin Herta Breuer, einer Rechtsanwältin, schrieb Käthe den echten Text; er wurde auswendig gelernt und nur zur Aufführung gesprochen. Die Geschichte handelt von einem jüdischen Paar und seiner Tochter, die aus einem Konzentrationslager entlassen werden. Sie kommen ins Exil auf eine Insel, wo jüdisches Aussehen als göttlich gilt und Juden als Adlige behandelt werden. Es gibt mehrere Anspielungen auf das Lager: Die jüdische Mutter wird bei der Ankunft ohnmächtig und erwacht erst wieder, als man ihr „Zählappell“ ins Ohr flüstert.23

Die Vorbereitungen für das Stück sorgten für Aufregung und viele nichtjüdische Frauen halfen den jüdischen Stückeschreiberinnen, besonders bei |101|den Kostümen. Sie bestanden aus von anderen Gefangenen „organisierten“ Stoffresten und wurden „mit unendlicher Liebe und Sorgfalt“ hergestellt. Die Frauen trugen Kleider aus lavendelblauen Kopftüchern, „die zum Glück soeben in der Tschechei für diesen Zweck erbeutet worden waren“. Schmuck und Verzierungen waren aus Silber- und Goldpapier, das ebenfalls von sympathisierenden Mitgefangenen organisiert wurde, genau wie das Papier für die Frackschöße der Männer. Die wilden Inselbewohner trugen sandfarbene Röcke aus Binsen, die Sintizas aus der Matratzenwerkstatt herausgeschmuggelt hatten.24

An einem Sonntagnachmittag wurde das Stück im jüdischen Block aufgeführt. Im Publikum saßen viele Block- und Stubenälteste aus anderen Baracken und, weil sie kamen, kamen auch gewöhnliche Gefangene.

Am nächsten Tag kam das Unglück. In Block 2 wurde eine andere Gruppe von Gefangenen beim Tanzen erwischt und, als die Aufseherinnen sie meldeten, beklagten sie sich, warum sie nicht tanzen dürften, wenn der jüdische Block doch ein Stück aufgeführt habe?

Zuerst schien es, als solle der ganze Block bestraft werden und dazu alle Zuschauerinnen, aber es gab „Verhandlungen“ und man bestrafte nur die Mitwirkenden. Clara sagt uns nicht, wer sie waren, aber offensichtlich stammten sie alle aus dem jüdischen Block; neben den Autorinnen Käthe Leichter und Herta Breuer muss auch Olga Benario, die jüdische Blockova, dazu gehört haben.

Ihre nichtjüdischen Mitgefangenen konnten nun nichts mehr für sie tun, egal, welche Kapoposten sie innehatten. Die sechs Schuldigen durften sich die Strafe aussuchen: 25 Peitschenhiebe oder sechs Wochen Bunker. Sie wählten den Bunker und alle sechs wurden in dieselbe kleine Zelle gepfercht. Nur jeden vierten Tag gab es etwas zu essen. „Sie kamen alle vollkommen aufgerieben heraus, und eine erzählte: ‚Ich konnte in meinem Hunger niemand mehr kauen hören. Wer noch etwas hatte, wenn die andern ihre Brotbissen schon hinter sich hatten, zog den grössten Hass auf sich, weil er kaute.‘ Sie warnten uns vor dem bösen kalten Bunker, passt nur auf, stellt nur nichts mehr an. Sie waren sehr eingeschüchtert.“25

Ohne Haar und ohne Namen

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