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|56|Kapitel 3 Blockovas
ОглавлениеAn ihrem Fenster im Krankenrevier wurde Doris Maase Zeugin vieler Ereignisse. Sie beobachtete, wie die Aufseherinnen und die SS-Männer zur Mittagszeit in die gegenüberliegende Kantine gingen und wie sie abends als „turtelnde Paare“ ausgingen. Anfang September 1939, kurz nachdem der Krieg begonnen hatte, schaute Doris nach draußen und sah eine Gefangene, die in den elektrischen Zaun rannte. Sie versuchte sich umzubringen, wurde jedoch von einer jungen blonden Aufseherin daran gehindert, die sie in den Strafblock zerrte und dabei auf sie einschlug. Doris erfuhr, dass die Aufseherin Dorothea Binz hieß. „Ich habe einmal selbst gesehen, wie eine zum Skelett abgemagerte Frau, den Namen weiß ich nicht, es war eine Kriminelle, durch die Gitterstäbe entschlüpft war und dann von der Binz mit Stockschlägen in den Zellenbau zurückgetrieben wurde. Der Häftling war nur mit einem kurzen Hemd bekleidet und an den Oberschenkeln habe ich selbst Spuren von Stockschlägen gesehen. Ich war auf der Lagerstraße und in unmittelbarer Nähe der mißhandelten Frau.“1
Dass Binz eine solche Lust am Quälen hatte, verfehlte bei niemandem im Lager seine Wirkung. Und dennoch hatte man kaum von ihr Notiz genommen, bevor sie hier mit der Arbeit begann. Dorothea Binz war die Tochter eines Försters und eines von mehreren Mädchen aus der Gegend, die im Sommer ihre Tätigkeit aufnahmen.2 Diese neuen Arbeitskräfte waren anders als die Frauen, die fünf Monate zuvor mit den Gefangenen aus Lichtenburg gekommen waren. Sie hatten noch keine andere Strafanstalt kennengelernt und viele von ihnen waren so jung, dass sie vor der Herrschaft der Nationalsozialisten keine nennenswerten Lebenserfahrungen gesammelt hatten. Die Arbeit im Lager war ihr erster Beruf. Dorothea hatte seit je in den Wäldern um Fürstenberg gelebt, Dorfschulen und Kirchen hier besucht, entlang der Waldwege gespielt, Wildschweine gejagt, sie hatte während des Sommers in den Seen gebadet und war im Winter auf ihnen |57|Schlittschuh gelaufen. Die Familie war innerhalb der Region oft umgezogen und Mitte der 1930er Jahre ließen sie sich in einem Dorf namens Altglobsow nieder, ein ärmliches Nest, einige Kilometer von Ravensbrück entfernt, wo die Dorfbewohner ihr Dasein damit fristeten, Bäume zu fällen oder auf dem Feld zu arbeiten. Als Zugezogene waren die Mitglieder der Binz-Familie zunächst Außenseiter, vor allem deshalb, weil sie wohlhabender waren und ein größeres Haus besaßen als die Nachbarn, denn Vater Walter Binz war Revierförster.
Im Alter von zehn Jahren traten Dorothea und ihre Freundinnen dem Bund Deutscher Mädel bei, dem weiblichen Zweig der Hitlerjugend. In der Schule folgte sie dem nationalsozialistischen Lehrplan, der die Kinder anleitete, Juden zu hassen und die gesellschaftlich Ausgestoßenen zu verachten, wenngleich es einige Belege dafür gibt, dass Dorotheas Eltern die Ansichten Hitlers nicht besonders schätzten. Walter Binz hatte nicht immer in der Gunst seiner Arbeitgeber gestanden, möglicherweise aufgrund seines Widerwillens, der NSDAP beizutreten – was für Staatsbeamte obligatorisch war. Es war außerdem bekannt, dass der Förster wegen Wilderei vor Gericht gestanden hatte. Er war Alkoholiker, ebenso wie seine Frau Rose. Die Familie Binz war nicht unbeliebt, aber die Menschen im Dorf nahmen sich vor ihr in Acht und oftmals hörte man Schreie aus ihrem Haus dringen. Es war kein glückliches Heim.
Auch Dorothea erlebte ihre persönlichen Rückschläge: Im frühen Teenageralter erkrankte sie an Tuberkulose, was für das feuchte Klima dieser tief liegenden Region nicht ungewöhnlich war. Dorotheas Infektion jedoch verlief schwer, sodass sie viele Monate in einer Klinik für Tuberkulosekranke verbringen musste. Sie versäumte einen Teil ihres Unterrichts und verließ die Schule mit nur geringer Qualifikation.
Als Überträgerin von Tuberkulose stigmatisiert und wegen der Ansteckungsgefahr von vielen Arbeitsplätzen ausgeschlossen, nahm Dorothea nach ihrem Schulabgang eine Stelle als Küchenhilfe an. Und, als sich die Chance auftat, als Aufseherin des neuen Konzentrationslagers zu arbeiten, ergriff sie die Gelegenheit. Später, als Dorothea die Karriereleiter nach oben kletterte, erzählte sie den anderen Aufseherinnen lachend, dass ihr Vater ihr vorschreiben wollte, die Stelle nicht anzunehmen. Das Angebot war jedoch zu gut, um es abzulehnen: ein Leben weit fort von zu Hause, in komfortablen Unterkünften, mit guter Bezahlung und einer eleganten Uniform. Dorothea hatte die Blicke der jungen SS-Offiziere, die in der Nähe stationiert waren und die Dorfkneipe von Altglobsow besuchten, bereits auf sich gezogen. Hochgewachsen, schlank und blond mit rundlichen Wangen und Stupsnase, war sie als Dorfschönheit bekannt.
Andere Mädchen waren ebenfalls erpicht auf eine solche Stelle. Margarete Mewes, dreifache Mutter aus Fürstenberg, und Elisabeth Volkenrath, |58|die Tochter eines Landwirts, nahmen zeitgleich mit Binz ihre Tätigkeit auf.
Bei Kriegsbeginn wurde das gesamte SS-Personal des Lagers aufgefordert, härter vorzugehen. Laut Rudolf Höß, inzwischen Offizier in Sachsenhausen, hatte Eicke höchstpersönlich an dem Tag, an dem die deutschen Truppen die Grenze zu Polen überschritten, alle hochrangigen Offiziere der Konzentrationslager versammelt und sie in einer Ansprache über ihre Pflichten in Kenntnis gesetzt: „Jeder SS-Mann habe nun ohne Rücksicht auf sein bisheriges Leben sich voll und ganz einzusetzen. Jeder Befehl müsse ihm heilig sein, und auch den schwersten und härtesten hätte er ohne Zögern auszuführen.“ Höß zufolge verkündete Eicke weiter, „daß nun die harten Gesetze des Krieges ihr Recht verlangten“. Fortan sei es die Hauptaufgabe der SS, „den Staat Adolf Hitlers vor allem im Innern vor jeder Gefahr zu schützen … Jeder nun auftauchende Gegner des Staates, jeder Saboteur am Kriege sei zu vernichten.“ Die Unterdrückung der „inneren Feinde“ in den Lagern war für die Zukunft des Reichs demnach ebenso bedeutsam wie der Kampf an der Front.
„Er, Eicke, verlange deshalb, dass sie die Männer der nun an den Lagern diensttuenden Ersatzformationen zu einer unbeugsamen Härte gegenüber den Häftlingen zu erziehen hätten. … Nur die SS könne den nationalsozialistischen Staat vor allen Gefahren im Innern schützen. Allen anderen Organisationen fehle dazu die notwendige Härte.“3
Koegel hörte Eickes Befehle gern. Der innere Feind in Ravensbrück – am 1. September 1939 genau 1607 Frauen – war zahlenmäßig schwach, aber Koegel zeigte die gebotene Härte gegen jede Einzelne von ihnen. Die Reihen der Häftlinge füllten sich Tag für Tag weiter. Am 16. September kam eine Gruppe politischer Gefangener an, unter ihnen Luise Mauer, Geheimkurierin der Kommunistischen Partei Deutschlands, die unter Einsatz ihres Lebens vertrauliche Nachrichten über die Grenzen geschmuggelt hatte. Luise hatte nur noch wenig Kampfgeist in sich, nachdem man sie gezwungen hatte, stundenlang vor den Toren des Lagers im Regen stillzustehen, bevor sie im Häftlingsbad entkleidet, entlaust und geschoren wurde. Und noch weniger Widerstandskraft blieb ihr, als sie losziehen musste, um die zermürbendste aller Arbeiten zu verrichten, Kohle von den Lastkähnen zu schaufeln. Diese „Septemberhäftlinge“4 wurden schließlich in einem speziellen Block separiert, wo sie das Lager nicht mit ihren gefährlichen Verschwörungsplänen infizieren konnten.
So wurden die Kommunisten niedergeschlagen, tatsächlich war es jedoch eine Handvoll Polen – der erste Transport wirklich „äußerer Feinde“ –, die den größten Hass auf sich zogen. In den Tagen, in denen sie in Polen einfielen, hatten die deutschen Truppen sich nicht nur polnischer Ländereien und Besitztümer bemächtigt, sondern auch begonnen, die Führungsschicht |59|des Landes gefangen zu nehmen und zu töten, darunter unzählige Lehrerinnen, Gewerkschafterinnen, Gräfinnen, Gemeindeleiterinnen, Offiziersfrauen und Journalistinnen.
Diese „Slawinnen“ galten als so „dreckig“, dass man sie beim ersten Passieren der Tore von Ravensbrück brutal „sauber“ scheuerte, bevor sie in den Strafblock geschickt wurden und schließlich Steine wuchten mussten, „bis die Hände blutig und aufgeschürft waren“, wie Maria Moldenhawer, eine polnische Aristokratin und Lehrerin für „militärische Bereitschaft“ in den Mädchenschulen Warschaus, es beschrieb.5
Um den Hass weiter zu schüren, wurden Geschichten verbreitet, denen zufolge die Polinnen deutschen Soldaten die Zungen herausgeschnitten oder ihren Tee vergiftet hätten. Renee Salska hätte deutschen Kindern die Augen ausgestochen, so behaupteten die Aufseherinnen, obwohl ihr einziges Vergehen darin bestand, polnische Geschichte in einer Schule in Posen unterrichtet zu haben.
Die ersten „inneren Feinde“, die in Ravensbrück aufbegehrten, waren jedoch nicht diese polnischen Neuankömmlinge, sondern Koegels älteste und meistverhasste Gegner: die Zeuginnen Jehovas. Eben jene religiösen Frauen, die in Lichtenburg den Aufstand geprobt hatten, widersetzten sich nun seinem Befehl, Taschen für die Kriegsanstrengungen zu nähen. Um sich ihre Fertigkeiten zunutze zu machen, hatte man im Lager eine Schneiderei zur Ausrüstung des Militärs eingerichtet, aber sie protestierten, dass dies Kriegsarbeit sei und ihren pazifistischen Prinzipien zuwiderlaufe. Der Vorfall versetzte den Kommandanten ein weiteres Mal in blinde Wut.
Es offenbart einiges über Max Koegels Mentalität, dass die Gefangenen, die ihn am meisten in Rage versetzten, selbst zu diesem Zeitpunkt nicht die „kommunistischen Huren“, das „slawische Gesindel“ oder die „jüdischen Schlampen“, sondern diese „religiösen Weiber“ waren. Man bedrohte sie mit allem Möglichen und fügte ihnen jede Grausamkeit zu, damit sie ihrem Glauben abschworen, indem sie ihre Unterschrift auf eine gestrichelte Linie setzten. Um ihre Einigkeit zu brechen, waren die Frauen sogar auf verschiedene Blocks verteilt worden, hatten dort jedoch unverzüglich versucht, andere zu ihrem Glauben zu bekehren, sodass man sie wieder zusammenlegte. Zur Strafe setzte man ihnen als Blockälteste die verhasste Käthe Knoll vor, Trägerin des gefürchteten grünen Winkels, von der man sich erzählte, sie habe ihre Mutter umgebracht. Und dennoch lagen die Formulare weiterhin ohne Unterschrift auf dem Stapel in Langefelds Büro.
Langefeld selbst schien von all dem unbeeindruckt. In vielerlei Hinsicht waren diese achtbaren deutschen Hausfrauen vorbildliche Gefangene, die ihr keinen Ärger machten. Eben, weil sie „vorbildliche deutsche Hausfrauen“ waren, konnte ihnen Koegel schwerer die Zähne zeigen als den Kommunistinnen, |60|den Jüdinnen, Slawinnen und Prostituierten – und genau das machte ihn rasend.
Der Protest der Zeuginnen Jehovas war außerdem keineswegs unerheblich. Im Herbst 1939 machten sie mehr als die Hälfte aller Frauen des Lagers aus und Koegel hatte erweiterte Befugnisse, zudem einen größeren dauerhaften Gefängnisbau gefordert, um sie im Zaum zu halten. Nun, da der Krieg begonnen hatte, sollte Ravensbrück mit dem gleichen sicheren Zellenblock ausgerüstet werden wie die Männerlager.
Im Herbst 1939 erhielt er endlich die Genehmigung für das neue Gefängnis und männliche Häftlinge aus Sachsenhausen wurden geholt, um es zu errichten. Zeuginnen Jehovas halfen dabei. Aus Stein gemauert, umfasste der Bau zwei Stockwerke, eines davon tief im Boden versenkt, mit 78 Zellen als Ersatz für die Holzkonstruktion, in der Hanna noch immer eingesperrt war.
Nach fast drei Monaten in Isolationshaft hatte Hanna zwar ihr Zeitgefühl verloren, aber sie wusste, dass der Herbst gekommen war. In ihrer Zelle war es eisig kalt und sie hatte nur ein dünnes Sommerkleid am Leib. Olga hatte die Nachbarzelle lange zuvor verlassen, aber Hanna konnte noch immer Hedwig Apfel hören. Jedes Mal, wenn Mewes, die neue Aufseherin im Strafblock, Hedwigs Zelle betrat, kreischte und lachte die Opernsängerin und schleuderte ihren Klosetteimer in Mewes Gesicht.
Mit Ausbruch des Kriegs war die Anzahl der Insassinnen des Strafblocks gestiegen und Mewes war als Verstärkung beordert worden, um Zimmer bei der Essensausgabe zu helfen und nachts zu patrouillieren. Mewes war verbissen und brutal. Sie hatte drei Kinder, jedes von einem anderen Mann aus Fürstenberg, so etwa hatte es Hanna aufgeschnappt, als sie dem Tratsch der Aufseherinnen lauschte. Immerhin, so sagte sich Hanna, konnte sie froh sein, dass Margot Kaiser versetzt worden war. Unter dem neuen Regime des Kommandanten war die 20-jährige Gefangene aus Chemnitz mit dem grünen Winkel befördert worden und war nun die mächtigste Insassin des Lagers.
In einem Konzentrationslager für Männer wäre Margot Kaiser als Kapo (Funktionshäftling, Häftlingsvorarbeiter) oder Oberkapo bezeichnet worden. Hier in Ravensbrück war dieser Ausdruck weniger gebräuchlich, aber die Praxis, Häftlinge einzuspannen, um Arbeiten im alltäglichen Betrieb des Lagers zu übernehmen, war im Grunde die gleiche wie in Buchenwald, Dachau oder Sachsenhausen.6
|61|Die Häftlinge wurden eher nach ihren Funktionen benannt – die Blockova war die Blockälteste, die Stubova die Stubenälteste –, aber sie wurden alle eingesetzt, um die SS zu unterstützen, so wie die Kapos in den Männerlagern. Solche Häftlingsaufgaben hatte es von Anfang an gegeben, aber ab Herbst 1939 war das Kaposystem im Zuge der neuen Härte durch eine andere Rangordnung verstärkt worden. Die Aufgabe der Lagerläuferin wurde eingeführt: Insassinnen, die je nach Bedarf Nachrichten hin- und herbefördern mussten. Und eine Gefangene, die allen anderen vorstand, wurde ernannt. Margot Kaiser war die Erste, die diese Position innehatte. Ihr offizieller Titel lautete „Lagerälteste“, aber die anderen Gefangenen nannten sie nur „Lagerschreck“.
Das Kaposystem war seit je ein zentraler Aspekt der Pläne für die Konzentrationslager. Zum einen sparte man dadurch Personal und Geld ein: Ohne diese bereitwilligen Häftlingsgehilfen wäre die SS nicht in der Lage gewesen, die riesige Anzahl der Lagerinsassen zu kontrollieren. Wie jedoch Rudolf Höß in seinen autobiografischen Aufzeichnungen erklärte, waren die Kapos weit mehr als nur kostenlose Arbeitskräfte. „Je zahlreicher die Gegnerschaften und je heftiger die Machtkämpfe unter ihnen, umso leichter läßt sich das Lager führen. Divide et impera! – ist nicht nur in der hohen Politik, sondern auch im Leben eines KL ein wichtiger, nicht zu unterschätzender Faktor.“7 Das Häftlingspersonal vertrat nämlich keineswegs die Bedürfnisse oder Wünsche der Gefangenen. Ihre Aufgabe war es, die Befehle der SS auszuführen. Sobald sie das versäumten, wurden sie ihrer Funktion enthoben. Und das war die Falle, die Heinrich Himmler selbst in einer Rede vor Offizieren der deutschen Wehrmacht beschrieb. Der Kapo „muß also seine Männer antreiben. In dem Moment, wo wir mit ihm nicht zufrieden sind, ist der nicht mehr Kapo, schläft er wieder bei seinen Männern. Daß er dann von denen in der ersten Nacht totgeschlagen wird, das weiß er.“8
Von Beginn an funktionierte dieses System bei den Frauen genauso gut wie zuvor bei den Männern. Es gab immer genügend Gefangene, die sich mit besserer Kleidung, mehr Essen und einem eigenen Bett bestechen ließen. Wie in den Männerlagern trugen auch die weiblichen Kapos grüne Armbinden, die ihre privilegierte Stellung anzeigten und es ihnen erlaubten, sich frei zu bewegen. In der Anfangszeit wurden, wie bei den Männern, häufig Frauen ausgewählt, die grüne Winkel trugen. Straftäter heranzuziehen, um über die politischen Gefangenen zu bestimmen, war der naheliegende Weg, die Strategie des „Divide et impera“ umzusetzen. Die Erfahrungen in den Männerlagern hatten gezeigt, dass die „Grünen“ sich am ehesten mit Eifer an die Arbeit machten. Ein „grüner“ Kapo in Mauthausen, August Adam, ein Bandenkrimineller, hatte die Aufgabe, Neuankömmlingen Arbeit zuzuweisen. Er prahlte später damit, wie er Anwälte, Priester und Professoren herauszupicken pflegte und ihnen erklärte, er gebe |62|jetzt das Kommando, denn die Welt habe sich auf den Kopf gestellt. Dann prügelte er mit seinem Schlagstock auf sie ein und schickte sie in die „Scheißkompanie“ – die Gruppe, die die Latrinen reinigte.
Die Trägerinnen grüner Winkel in Ravensbrück gehörten in keinem Fall der gleichen kriminellen Liga an wie August Adam. Die meisten, die hier als Kapos ausgewählt wurden, waren eher schwache Frauen, die das Leben in kleinere Diebstähle, illegale Abtreibung oder Schwarzarbeit verwickelt hatte. Sogar Käthe Knoll – eine Art Kapo seit frühesten Tagen in Lichtenburg – hatte, wie sich später herausstellte, nicht etwa ihre Mutter umgebracht, sondern war wegen „Rassenschande“ festgenommen worden, nachdem sie ein Verhältnis mit einem jüdischen Mann eingegangen war. Außerdem hatte sie einige Bagatelldelikte verübt. Margot Kaiser, der neue „Lagerschreck“, hatte niemals einen Mord begangen, bevor sie nach Ravensbrück kam. Während ihrer Jugendjahre hatte sie sich mit Betrügereien und Diebstählen über Wasser gehalten, bis man sie zur Arbeit in eine Munitionsfabrik schickte, von wo sie Reißaus nahm. Als sie Ravensbrück verließ, hatte sie jedoch mindestens zehn Frauen zu Tode geprügelt, wie sie bei ihrem Nachkriegsprozess zugab.
Auch wenn die grünen Winkel in der Überzahl waren, beschäftigte Ravensbrück auch viele Trägerinnen schwarzer Winkel als Kapos, vor allem innerhalb der Blocks, und darin unterschied sich das Frauenlager von den Lagern für männliche Häftlinge. Unter den Schwarzwinkligen hatte Ravensbrück eine nützliche Gruppe, auf die Männerlager nicht zurückgreifen konnten: Puffmütter. Langefeld setzte diese Frauen gerne ein. Eine Puffmutter, die ein Bordell leiten konnte, hatte auch in Ravensbrück einen Block im Griff.
Philomena Müssgueller, eine 41 Jahre alte Prostituierte, die viele Jahre lang ein Bordell in München geführt hatte, war froh, aus dem Durcheinander des „Asozialen“-Blocks herauszukommen und als Blockova Ordnung bei den „Politischen“ schaffen zu können, zumal ihr das eine zusätzliche Wurst und ein eigenes Bett einbrachte. Philomena hatte bereits ihre Anhängerschaft unter den Trägerinnen schwarzer Winkel, die sich bei ihr einschmeicheln wollten. Mit ihnen gemeinsam schaffte sie es spielend, eine Horde von Rotwinkligen klein zu halten.
Marianne Scharinger, eine Österreicherin, die festgenommen worden war, weil sie illegale Abtreibungen durchgeführt hatte, wurde zur Blockältesten des jüdischen Blocks bestimmt, während der Düsseldorfer Prostituierten Else Krug die begehrteste Aufgabe zufiel: Sie betrieb den Kartoffelkeller. Berge von Wurzelgemüse innerhalb einer strengen Frist zu schälen, war zwar eine zermürbende und monotone Arbeit, angesichts der Möglichkeit aber, eine Kartoffel, Kohl oder eine Rübe einzustecken, war diese Tätigkeit sehr gefragt. Seit Kriegsbeginn bekamen die Gefangenen eine |63|Kelle Suppe weniger am Tag und Else hatte einen Schmugglerring aufgebaut, über den sie den Hunger leidenden Frauen ihres Blocks zusätzliches Gemüse zukommen ließ.
Als sich die Macht der Kapos vergrößerte, brachte ihnen niemand mehr Verachtung entgegen als die deutschen und österreichischen Trägerinnen roter Winkel. Luise Mauer, die zu den „Septemberhäftlingen“ gehörte, wurde von einer Blockova, einer Prostituierten namens Ratzeweit, schikaniert, einer Person, „die absolut keine menschlichen Qualitäten hatte“. Sie schlug um sich und kreischte, wenn die Frauen vor dem Appell zu spät aufstanden. Ratzeweit hackte gerne auf älteren Frauen herum und drangsalierte Lisel Plücker, eine ältere politische Gefangene, so sehr, dass diese sich den Strick nehmen wollte.9
Maria Wiedmaier, die für die Kommunistische Partei Komitees der Roten Hilfe organisiert hatte, war noch niemals gezwungen gewesen, Befehle von einer solch niederträchtigen Person wie Müssgueller entgegenzunehmen. Zimmer habe sich gerne mit grünen Winkeln umgeben, um sich deren Gemeinheit und brutalen Methoden zunutze zu machen, so berichtete sie.10 Die Kapos wurden von der SS auch als Spione benutzt. Eine solche Spionin sah, wie Minna Rupp, eine der neu eingelieferten deutschen Kommunistinnen, eine halbe Karotte stahl und meldete sie bei Koegel, woraufhin Minna in den Strafblock geschickt wurde. Die Gefangenen hatten kaum noch Gelegenheit, sich zu treffen, denn die Spitzel beobachteten sie genau und erstatteten nicht nur Koegel, sondern auch Langefeld Bericht.
Auch Johanna Langefeld sah den Nutzen des Kaposystems, vor allem, da Koegel weiterhin versuchte, ihre Autorität zu untergraben. In den ersten sechs Monaten des Lagers hatte die Oberaufseherin mehrere Kämpfe mit dem Kommandanten verloren und nun sollte es – gegen ihren Willen – einen neuen Gefängnisbau oder „Bunker“ geben.
Langefeld hatte ebenso beflissen wie jeder andere versucht, den von Eicke formulierten Auftrag über den Schutz des neuen Staates vor dem inneren Feind zu erfüllen.11 Allein zuzusehen, dass Frauen stundenlang in Kälte und Regen Appell standen, zeigte ihre eiserne Disziplin. Dennoch waren Koegels Methoden nicht die ihren und später erzählte sie den Amerikanern, die sie verhörten, sie hätte immer gewusst, dass Koegel ein Sadist sei. Ihre Äußerungen legen jedoch nahe, dass sie ganz einfach über Koegels Weigerung, sie über seine Pläne zu informieren, und über seine Brutalität verärgert war.
Koegel hatte sich – hinter ihrem Rücken – das Recht verschafft, Frauen ohne Befragung in den Strafblock und in die Isolationshaft zu schicken. Noch schlimmer war, dass den Aufseherinnen das Betreten des neuen steinernen Bunkers ohne Koegels Erlaubnis verboten war, es sei denn, sie waren |64|angewiesen worden, dort zu arbeiten. Um diesem Affront entgegenzuwirken, verstärkte Langefeld ihre eigene Macht in den Wohnbaracken, in der Häftlingsküche, der Wäscherei und der Effektenkammer, indem sie sicherstellte, dass Kapos, die ihr gegenüber loyal waren, Schlüsselpositionen innehatten. Und sie bestand darauf, das Häftlingspersonal selbst auszuwählen. Sie nahm sich Zeit, die Frauen auf der Lagerstraße zu beobachten, und las ihre Akten. Sie hörte auch auf ihre Informanten, oftmals andere Kapos.
Doris Maase berichtete später, dass Johanna Langefeld bereits in den allerersten Monaten ihre „Vertrauensleute“ aus der Gruppe der Prostituierten und Berufsverbrecher rekrutierte.12 Wenn sie hörte, dass eine Blockälteste die Kontrolle verlor, dann wurde die Frau gefeuert. Langefeld schritt dann während des Appells auf der Lagerstraße auf und ab und wählte eine andere Gefangene aus, auf die sie aufmerksam geworden war.
Im Herbst 1939 suchte Langefeld nach einer neuen Blockältesten für den Judenblock. Dort herrschte das Chaos: Die Frauen kamen immer zu spät zum Appell, alles war voller Läuse, Essen wurde verschüttet. Eine Gruppe verwaister „Zigeunerkinder“ war dem Block zugeteilt worden, was auch nicht förderlich war. Sogar Doris Maase beschrieb den Judenblock als verwahrlost, als sie Frauen von dort sah, die sich im Krankenrevier einfanden.
Von Anfang an waren die jüdischen Gefangenen schlechter behandelt worden als jede andere Gruppe. Da sie nur zehn Prozent aller Gefangenen ausmachten, wurden sie in einem Einzelblock am Ende der Lagerstraße isoliert und waren Opfer permanenter Schikanen. Die Essensrationen waren kleiner und sie mussten länger arbeiten ohne einen freien Tag. So war es wenig überraschend, dass viele Jüdinnen bald krank wurden und vor allem unter geschwollenen Beinen, nervösen Anfällen und Infektionen des Brustkorbs litten. Viele wurden auch von Geschwüren und Wunden geplagt, die durch Prügel verursacht waren. Üblicherweise saßen die Aufseherinnen, die Nachtschicht hatten, in der Kantine herum und beredeten, was sie über „jüdische Nutten“ und „reiche jüdische Flittchen“ gelesen hatten, bevor sie loszogen, um auf irgendeine jüdische „Drecksau, Hure oder Schlampe“ einzuschlagen, die sie zu Gesicht bekamen.
Mit Ausbruch des Kriegs eskalierten diese Misshandlungen, wie Marianne Wachstein feststellte, als sie aus der Einzelhaft wieder in ihren Block zurückkehrte. Sie sah kranke Frauen, die von den Blockovas frühmorgens in die Kälte hinausgejagt wurden und mit epileptischen Anfällen und Krämpfen Appellstehen mussten, während andere ohnmächtig wurden, als sie im Regen Strafe standen. „Eine Jüdin namens Rosenberg, die im B. Flügel des Judenblockes untergebracht war, sagte, dass sie trotz ihrer eitrigen Brust in diesem Raum, in dem Fenster und Türen im Frost geöffnet waren, |65|im Zug Strafstehen muss“, so berichtete Marianne. „Dies bekommt man für 14 Tage oder 3 Wochen hintereinander u. zum Beispiel für folgendes. Die Betten müssen genau nach Caro faltenlos, alle gleich die Leintücher unten ins Eisen eingeschoben, äußerst pedant gemacht werden, die Pölster kantig gedrückt, die Decke darüber, eine schöne Linie, alle gleich. Wem das 3x in der hierzu zur Verfügung stehenden Zeit nicht gelingt der kann unter Umständen schon Strafstehen.“13
Die Furcht vor dem Strafestehen verfolgte Marianne, da sie selbst kaum gehen oder stehen konnte. Als sie im Juni im Lager angekommen war, hatte sie ein „humaner“ SS-Arzt vom Appell befreit, im Herbst aber sagte ihr ein neuer Mediziner, dass sie antreten müsse. Marianne protestierte und verlangte, dass er sie erst untersuchen solle, um zu sehen, ob es ihr gut genug ginge, aber er lehnte das ab „und sagte grob etwas abfälliges von ‚Juden‘ und die am Schreibtisch im Arztzimmer anwesende Schwester sekundierte durch höhnisches Lächeln“. Marianne entgegnete: „… noch im Ausland werde ich erzählen, wie man hier im K.Z. Behandelt wird“, woraufhin sie der Arzt packte und hinauswarf. „Auch das werde ich melden“, drohte sie, in dem festen Glauben, dass die Ungerechtigkeiten, unter denen sie litt, bald vergolten würden.14
Nach dem Vorfall kehrte Marianne in ihren Block zurück und erklärte ihren Freundinnen: „Der Arzt hat ein Spondeum geschworen u. muss mich die Jüdin, genauso untersuchen wie eine Arierin, ob Leistungsunmöglichkeit vorliegt oder nicht“, und die anderen stimmten ihr alle zu, einschließlich Edith Weiss, Modesta Finkelstein, Leontine Kestenbaum und einige andere Wiener im Block der „Verwahrlosten“.15
Dass solche antisemitischen Beleidigungen immer mehr zunahmen, war angesichts der Judenverfolgung im „Dritten Reich“ wenig überraschend. Hitler war noch nicht bereit, alle deutschen Juden festnehmen zu lassen – nicht zuletzt deshalb, weil es keine genauen Pläne gab, wohin die Juden gebracht werden sollten. Aber die Verfolgung wurde verschärft und bis zum Kriegsbeginn im September 1939 hatten 300.000 deutsche Juden die Mittel aufgebracht, um das Land zu verlassen. 200.000 blieben, zwei Drittel von ihnen Frauen – Witwen, Geschiedene, Alleinerziehende, Notleidende und Obdachlose, die keine Möglichkeit hatten, sich ein Visum zu besorgen. Sie alle waren in derselben Gefahr, von der Polizei aufgegriffen zu werden, wie Herta Cohen, die des Vergehens der Rassenschande beschuldigt wurde.
Sie selbst, so berichtete Herta in einer ihrer vielen Aussagen gegenüber der Polizei, wurde in Essen, im Restaurant Bremer Hafen, ins Visier genommen, wo sie ein Glas Bier trank:
|66|Es war gegen 17 Uhr, als ich die Wirtschaft betreten hatte. Ich setzte mich an einen Tisch, an dem keine weiteren Personen gesessen hatten. An einem anderen Tisch in meiner Nähe saßen zwei Männer in feldgrauer Uniform. Ob es sich bei den beiden Männern um Soldaten gehandelt hat, wusste ich nicht. Ich muss etwa ½ Stunde in der Wirtschaft gewesen sein, als die beiden Männer an meinen Tisch kamen um sich zu mir zu setzen. Sie bestellten sich jeder ein Glas Bier. Nachdem sie das Bier ausgetrunken hatte, entfernte sich der eine der beiden Männer und verließ die Wirtschaft, während der andere bei mir sitzen blieb. Als ich mit diesem Mann allein war, sagte er zu mir von sich aus, dass er gehört hätte, dass ich Jüdin bin, sich aber daraus nichts machen würde, mit einer Jüdin am Tisch zu sitzen. Er bestellte dann auch für mich einen Likör, den ich auch getrunken habe. Er selbst trank Bier. Dann bestellte er für mich noch einen Likör und ein Glas Bier. Auch diese Getränke habe ich getrunken. Um was für Liköre es sich gehandelt hat, weiß ich nicht. Ich merkte aber plötzlich, dass ich durch den Genuss stark benommen wurde und hatte das Gefühl, als ob mir etwas reingetan worden ist, das mich betrunken machen sollte.
Gegen 19 Uhr, es kann auch 18.30 Uhr gewesen sein, verließ ich die Wirtschaft. Der Mann kam, nachdem er die Zeche bezahlt hatte, sofort mit. …
Ich wollte nach Hause gehen. Auf der Straße fragte mich der Mann, ob ich mit ihm noch ein Glas Bier trinken möchte, was ich jedoch abgelehnt habe. Als wir vor meiner Wohnung auf der Adolf-Hitler-Straße anlangten, hinderte mich der Mann, meine Wohnung betreten zu können.16
Er drängte sie, mit zu ihm nach Hause zu kommen. „In der Wohnung sagte ich dem Mann, dass ich nicht bei ihm bleiben könnte, weil ich Jüdin wäre. Er sagte mir, dass man ihm nichts anhaben könnte und ich ruhig bei ihm bleiben solle.“ Der Mann gab ihr noch mehr Bier. Am nächsten Morgen wachte sie neben ihm auf und sie hatten Geschlechtsverkehr.
Der Vernehmungsbeamte will mehr hören und fragt nun, was genau geschah, wie es geschah und ob der Geschlechtsakt wirklich vollzogen wurde. Herta antwortet: „Ich stellte fest, bevor der Mann mit mir geschlechtlich verkehrte, dass meine Hose ausgezogen war. Ich kann nicht sagen, ob der Mann mir die Hose ausgezogen hatte oder ob ich es selbst getan habe. Beim Geschlechtsverkehr merkte ich aber mit Sicherheit, dass er seinen Geschlechtsteil richtig in meinen eingeführt hatte. … Ich merkte ferner, als er seinen Geschlechtsteil heraus zog, dass bei ihm der Samen kam. Er nahm ein Tuch und putzte seinen Geschlechtsteil damit ab. Etwas Samen ist auf das Bettuch geraten, den er auch mit einem Tuch abgeputzt hatte.“ Es wird immer weiter gefragt, bis es am Ende nichts mehr zu sagen gibt. Und so wird sie nach Ravensbrück geschickt. Der „Haftgrund“ in ihrer Akte lautet „Rassenschande“.
|67|Einige dieser ganz auf sich gestellten deutsch-jüdischen Frauen waren so verzweifelt, dass sie versucht hatten, über die niederländische Grenze zu fliehen, aber da sie allein reisten, machten sie sich verdächtig. Eine Frau Kroch aus Leipzig hatte ihre eigene Aussicht auf Freiheit geopfert, indem sie ihren Ehemann mit den Kindern vorausschickte und zurückblieb, um die Spuren zu verwischen. Als die Luft rein war, machte sie sich auf, um zu ihnen zu stoßen, wurde aber verhaftet und nach Ravensbrück gebracht. Margarete Buber-Neumann, die sie von früher kannte, traf sie eines Tages im Lager wieder. „Man hatte ihr die Haare geschoren, und sie marschierte barfuß in Reih und Glied. Ich vergesse nie ihren schmerzlich-traurigen Blick, als wir uns begrüßten.“17
Mathilde ten Brink hatte von Anfang an nicht viel Hoffnung, davonzukommen, da sie keine Papiere besaß. Mathilde war eine 50-jährige jüdische Frau aus Osnabrück. Sie hatte ihre Arbeit im Geschäft der Familie verloren, das in der „Reichskristallnacht“ zerstört worden war. Ohne Reichspass wurde sie auf der Flucht in den Niederlanden aufgegriffen, an die deutsche Grenzpolizei in Emmerich übergeben und von dort der Gestapo ausgeliefert. „Ledig, 138 cm, schwächliche Gestalt, schmale Gesichtsform“, heißt es zuerst im deutschen Polizeibericht. Die anderen Angaben passen zum damaligen Bild einer „Volljüdin“: „Nase: eingebogen, sehr groß u. dick, dreieckige Ohren“. Und weiter: „Oben falsches Gebiss, Sprachen: deutsche, holländische Mundart und Sprache“. „Ohne feste Wohnung, keine Kinder“, heißt es weiter in dem umfangreichen amtlichen Schriftverkehr, der empfiehlt, Mathilde in Schutzhaft zu nehmen und in ein Konzentrationslager zu überstellen.18 Ebenso verhielt es sich mit dem Bericht über Irma Eckler, eine Jüdin, die wegen „Rassenschande“ angeklagt worden war. Irma und ihr „arischer“ Ehemann – der ebenfalls eingesperrt wurde – hatten zwei kleine Mädchen, die man ihnen wegnahm. Eines lebte von nun an bei Irmas Eltern, das andere wurde in ein Waisenhaus gebracht.
Irma erhielt nur bruchstückhaft Nachrichten über ihre Mädchen aus den zensierten Briefen ihrer Eltern. Aus einer ihrer Antworten geht hervor, dass sie damals in einer Arbeitskolonne im Außendienst schuftete, denn sie schreibt, sie habe Kinder auf Rollschuhen vorbeifahren sehen – vielleicht Dorfbewohner oder Kinder der SS, die in den Gärten ihrer Villen spielten:
|68|Liebe Mutti, ich habe mich riesig zu Deinen lieben Zeilen gefreut. Ja, die Ingrid habe ich mir auch so vorgestellt. Sie wird ein Mensch, der sich bestimmt im Leben behauptet. Rollschuhlaufen ist wohl groß in Mode. Auch hier sehe ich bei der Arbeit oft die Kinder rollen. … Jetzt beginnt Ihr sicher den Garten zu bearbeiten. … Ihr schreibt gar nichts von auswandern? Ich wünsche mir selbst so sehnlichst, ganz wieder bei Euch zu sein. Nun seid innigst gegrüßt und geküsst, auch meine Rollschuhläuferin, von Eurer Irma Mutti19
Als Doris Maase den Judenblock als „verwahrlosten Haufen“ bezeichnete, meinte sie damit nicht nur, dass diese Frauen in der desperatesten Lage waren, sondern auch, dass ihnen Disziplin, Ordnung und ein gemeinsames Ziel fehlten. Auch wenn sie als Juden gekennzeichnet waren, bedeutete ihnen ihre Religion nicht viel oder gar nichts und wenige von ihnen teilten irgendeine politische Überzeugung. In Block 2 und 3 planten die Kommunistinnen und andere politische Gefangene, wie man den Jahrestag der bolschewistischen Revolution am 7. November begehen konnte, aber die Mitglieder der kleinen Gruppe jüdischer Kommunistinnen in Block 11 wurden von anderen jüdischen Frauen als Rote beschimpft. Sie verachteten jedoch ihrerseits die „Kleinbürgerinnen“20 aus Wien und hielten sich von den Prostituierten fern. Eine kleine Gruppe von Jüdinnen tröstete sich damit, dass sie hier waren, um gegen den Faschismus zu kämpfen. Das war es, was sich Maria Wiedmaier und ihre Kameradinnen jeden Morgen sagten, wenn sie zusammengetrieben wurden, um sich aufzustellen.
Nach einer Woche Einzelhaft forderte Marianne Wachstein erneut, zu erfahren, weshalb sie überhaupt im Lager war, und so wurde sie wieder vor den Kommandanten geführt. Offenbar glaubte sie noch immer, sie könne Koegel zur Einsicht bringen, stattdessen aber „nahm der Herr Direktor den vor sich habenden Akt u. haute mir einige Male auf die Hände damit. Ich sah, dass ich mich nicht verteidigen dürfe.“21 Koegel befahl, dass Wachstein zurück in eine Einzelzelle kam, und wies Langefeld an, im Block mit den „jüdischen Huren“ Ordnung zu schaffen.
Langefelds Reaktion war radikal. Sie entließ die Blockälteste des Judenblocks und ging während des Appells auf der Lagerstraße umher, um eine neue auszuwählen. Aber, anstatt sich bei den „Asozialen“ und „Kriminellen“ umzusehen, ging sie auf die jüdischen Frauen zu und beobachtete sie mit stiller Verachtung. Johanna Langefeld hasste die Juden ebenso wie jeder andere, aber eine dieser Frauen stach heraus. Olga Benario war eine beeindruckende, stattliche Erscheinung, selbst in ihrer gestreiften Häftlingskleidung, und Langefeld, die Olga seit Lichtenburg kannte, wusste sehr wohl um ihre Geschichte. Sie ließ sie aus der Reihe hervortreten und teilte ihr mit, sie sei die neue Blockälteste des Judenblocks. Bis zu diesem Zeitpunkt |69|war noch keiner politischen Gefangenen – Jüdin oder Nichtjüdin – der vergiftete Kelch gereicht worden, über Mithäftlinge zu bestimmen.
Die SS verbrannte alle Dokumente über die Ernennung von Kapos oder anderem Häftlingspersonal, sodass wir keine offiziellen Informationen darüber haben, warum Olga die Aufgabe der Blockova zugewiesen wurde. Die Berichte der Gefangenen aus Block 11 sind rar, da nur wenige der Jüdinnen überlebten.
Nach dem Krieg versuchten Olgas kommunistische Genossinnen, die Ernennung zu erklären, aber ihre Version der Ereignisse ist nicht immer verlässlich. Zu Beginn der 1950er Jahre lebten die meisten deutschen Kommunistinnen aus Ravensbrück im Osten, wo sie eine Geschichte des Lagers verfassten, die einem Hauptziel dienen sollte: den mutigen kommunistischen Widerstands hervorzuheben.
In der neuen Deutschen Demokratischen Republik (DDR) wurde der Heldenmut der Kommunisten herausposaunt, um das Image des Landes als Bollwerk gegen den Faschismus zu stärken. Olga Benario, Stalins persönliche Revolutionärin, wurde in diesem Bestreben zu einer zentralen Figur. Straßen, Schulen und Gebäude in ganz Ostdeutschland wurden nach ihr benannt. Bestimmte Teile aus Olgas Geschichte passten jedoch nicht zu dieser Strategie, vor allem ihre Ernennung zur Blockältesten – eine Funktion, in der sie die Befehle der SS ausführen musste.
Um Olgas Ernennung reinzuwaschen, ließen kommunistische Historiker unerwähnt, dass ein solcher Posten Privilegien mit sich brachte. Sie behaupteten, dass ihre Funktion keineswegs eine Zusammenarbeit bedeutet hatte, sondern lediglich zeigte, dass der SS keine anderen Möglichkeiten mehr geblieben waren, sie zu brechen – sie machten Olga zur Blockova, um Hass gegen sie zu schüren, so sagten sie. Und sobald sie eingesetzt war, nutzte Olga die Rolle der Blockältesten in ihrem Sinne und lehrte jene „jüdischen Kleinbürgerinnen“, die Übel des Faschismus zu erkennen, wie Ruth Werner, Olgas erste Biografin, dies schilderte.22
Werner, die nicht in Ravensbrück war, aber sich mit Olga in Moskau ausgebildet hatte, gründete ihre Biografie auf Interviews mit kommunistischen Überlebenden und beschrieb die übrigen nicht kommunistischen jüdischen Gefangenen in Ravensbrück als verwilderte Frauen, die nur an sich selbst dachten und Kleidung und Decken voneinander stahlen, was allenfalls zeigt, dass der Antisemitismus auch unter deutschen Kommunistinnen im Lager verbreitet war.23 Olga selbst sei keine wirklich richtige Jüdin, betonten einige ihrer Genossinnen. Maria Wiedmaier sagte später, Olga hätte ausgesehen wie eine „Arierin“ und wäre wohl „Halbarierin“ gewesen.24
|70|In der Nachkriegszeit erreichte die kommunistische Verherrlichung Olgas ihren Höhepunkt mit der Eröffnung der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, zu der sich Menschenmengen am Fuß einer Bronzestatue mit dem Titel Tragende versammelten. Diese zeigt hoch auf einem Sockel eine ausgemergelte Frau, die wiederum die in sich zusammengesunkene Gestalt einer anderen Frau in ihren Armen hält. Die Tragende erinnert an Olga Benario. Diese Olga erscheint heute so fern, nüchtern und kalt, nicht wie die gequälte Olga – Ehefrau und Mutter –, die im Oktober 1939 die Rolle der Blockältesten annahm.
Olga Benario war im September aus Berlin zurückgekehrt und zweifellos an einem kritischen Punkt angelangt. Drei Jahre hinter Gittern, die meisten davon in Einzelhaft, hatten sie sowohl physisch als auch psychisch erschöpft. In Ravensbrück musste sie feststellen, dass die Gruppe der Kommunistinnen nahezu zerschlagen war. Hanna Sturm saß noch immer im Bunker ein. Ihre liebe Freundin und Revolutionsgefährtin Sabo war gestorben, vermutlich an einer Lungenentzündung. Anderen Berichten nach war sie jedoch zu Tode geprügelt worden. Jozka Jaburkova war ernsthaft krank. Und das Vertrauen in Stalin war erschüttert worden durch die Nachricht, dass er einen Pakt mit Hitler geschlossen habe.
Zudem litt Olga unter ihren privaten Umständen. Sie hatte sich lange zuvor von ihrer jüdischen Herkunft distanziert, die nun aber die Wurzel all dessen sein sollte, was mit ihr geschah. Wie sie diesen Konflikt selbst empfand – ob sie sich danach sehnte, bei ihren früheren Genossinnen im kommunistischen Block zu leben, oder das Bedürfnis hatte, sich ihren jüdischen Gefährtinnen in Block 11 anzuschließen –, werden wir nie erfahren. Und wir wissen auch nichts darüber, wie sehr sie sich um die Sicherheit ihres Bruders und ihrer Mutter sorgte, mit der sie lange zuvor im Streit auseinandergegangen war. Eine Tante, die Schwester ihrer Mutter, war nach Amerika geflohen, aber Olgas Mutter und ihr Bruder lebten noch immer in München. In die größte Verzweiflung stürzte sie jedoch das Wissen darum, dass während der Sommermonate jede begründete Hoffnung, Anita und Carlos wiederzusehen, geschwunden war.
Olga hätte den Posten der Blockältesten ablehnen können – sie hatte in der Vergangenheit gezeigt, dass sie Mut zu einem solchen Affront hatte –, aber inzwischen war sie Mutter geworden. Hätte sie sich geweigert, dann wäre sie das Risiko eingegangen, erschossen oder im besten Fall in den Bunker gesperrt zu werden, wo keine Post und damit keine Nachrichten von Anita mehr zu ihr gelangt wären. Hätte sich irgendeine Chance zur Emigration ergeben, dann wäre das nicht mehr zu ihr gedrungen.
Wann genau Olga zur Blockältesten ernannt wurde, ist nicht ganz klar, aber am 14. Oktober 1939 schrieb sie an Carlos, sie habe manchmal Gelegenheit, |71|eine Zeitung zu lesen, ein Privileg, das vielleicht eine Blockova hatte. Zudem war es ihr offenbar möglich, sich frei zu bewegen, um ihre Freundinnen zu sehen. Sie fügt hinzu: „Die wenigen Wochen, die ich in Berlin war, haben mir erneut gezeigt, wie schwierig es ist, immer allein zu sein.“ Olga sorgte sich um Carlos Wohlergehen, denn sie wusste, dass er noch immer in Einzelhaft saß. „Kannst Du spazieren gehen und turnen? … Weißt Du, ich habe hier meine Kameradinnen, die sich darum kümmern, dass ich esse, und es fällt mir unaussprechlich schwer, Dich immer allein zu wissen.“ Wie immer schickte sie ihre Antwort an Anita. „Zum Schluss möchte ich Dir sagen, dass ich ständig von Dir und von der Kleinen träume – nur das Aufwachen morgens ist bitter.“25
„Achtung! Achtung!“, ruft Olga, sobald die Morgensirene losheult. Im Oktober fallen die Temperaturen bereits schnell, und obwohl es in jedem Block einen Ofen gibt, darf niemand diesen benutzen. Mehrere Frauen wollen nicht erwachen und so läuft Olga auf und ab und rüttelt sie. Wenn sie zu spät kommen, werden die Aufseherinnen sie schlagen, so warnt sie. Es bildet sich ein Gedränge um die „Kesselkolonne“, den Suppenwagen. Der „Kaffee“ wird schnell hinuntergestürzt. Olga ruft: „Raus, raus. Appell! Appell!“ Diejenigen, die zu krank sind, um zu arbeiten, bleiben zurück, aber alle anderen marschieren hinaus und so stehen die Frauen aus Block 11 morgens um 4.30 Uhr unter dem Sternenhimmel. „Achtung! Achtung! Fünferreihen“ und die „Krähen“ erscheinen in ihren schwarzen wollenen Wintermänteln, um zu überwachen, ob die Blockältesten beim Zählen einen Fehler machen.
Eine nach der anderen geben die Frauen mit den grünen Armbinden – Ratzeweit, Müssgueller, Scharinger und jetzt auch Benario – die Zahlen an Langefeld weiter. Olgas Ergebnis wird kontrolliert und abgesegnet. Die Frauen werden wieder in die Blocks geschickt, wo sie nur kurz Zeit haben, ihre Betten zu machen, bevor der Arbeitsappell beginnt. Olga beobachtet, wie sie abmarschieren, und macht dann Eintragungen in ihr Dienstbuch. Als Blockova fällt es ihr zu, die Kranken aus ihrem Block ins Revier zu bringen, wo sie sich mit den anderen anstellen, in der Hoffnung, dass ein Arzt sie untersucht. Olga wechselt einige Worte mit Doris Maase und gibt ihr eine Nachricht für Maria Wiedmaier in Block 3 weiter.
Den ganzen Tag über muss Olga ihren Aufgaben nachkommen: Sie registriert Neuankömmlinge, zählt Strümpfe, Unterhosen und Hemden für die wöchentliche Reinigung, verzeichnet die Essensrationen, und all das unter den Augen der Blockaufseherin. Wenn die Frauen mittags zurückkehren, gibt sie ihnen die Mittagssuppe aus und zählt sie erneut durch. Der Abendappell ist am schlimmsten, da Frauen tagsüber verschwinden – etwa, weil sie sich in den Baracken verstecken. So beginnt das Durchzählen von |72|Neuem und, wenn die fehlende Person sich nicht einfindet, müssen alle warten, während das Essen kalt wird und die Temperaturen sinken. Die Frauen sacken auf dem Boden in sich zusammen und Olga steht da und sieht mit an, wie die Aufseherin Fraede um sich schlägt.
Nach der Abendsuppe schleppen sich die Frauen in den Waschraum und streiten sich um die Toiletten. Sie entkleiden sich und kriechen auf ihre Matratzen. Olga geht auf und ab. Eine der Frauen schläft in ihren Kleidern, um die Kälte abzuhalten. Sie müsse sie ablegen und zusammenfalten, sagt Olga, oder sie werde eine Meldung bekommen. Eine andere Frau stöhnt und klagt über Schmerzen in ihren Beinen. Die Gefangene erzählt Olga, dass sie blind ist. Olga sieht, wie geschwollen und blau ihre Knöchel sind, und hält inne, um der Frau zu erklären, welche Bewegungen sie machen kann, um den Schmerz zu lindern.
Um neun Uhr abends wird der Block verriegelt und die SS-Aufseherinnen lassen die Frauen allein bis zum Morgen. Nun versammelt Olga die Freundinnen um sich und sie unterhalten sich. Sie hat ein eigenes Bett und einen eigenen Spind. Bei ihr sind Rosa Menzer aus Dresden, die Olga in Lichtenburg kennengelernt hat, außerdem Lena und Lenza, zwei andere junge Genossinnen.
Sonntags, wenn die SS-Überwachung nachlässt, kommen Olgas Kameradinnen wieder zusammen, um gemeinsam Briefe zu schreiben und über ihre Familien zu sprechen. Rosa, die Näherin ist, kann nicht schreiben, weshalb Olga oder eine andere Freundin ihre Briefe für sie beantworten, und Rosa erwidert den Gefallen, indem sie ihnen zeigt, wie man altes Papier in ihre Hemden einnäht, um die Kälte abzuhalten.
Olga holt Briefe hervor, die sie von Carlos bekommen hat, und sie diskutieren alle gemeinsam seine Ideen über Philosophie und darüber, was Olga ihm antworten könnte. Und sie sprechen über Anita. Alle sind sich einig, dass Anita so früh wie möglich Teil eines Kollektivs werden sollte. Olga schreibt, das sei wichtig für ihren Charakter, wie auch ihre Kameradinnen hier fänden.
Die Tage vergehen. Olga lernt die Frauen besser kennen, da sie täglich zwischen den Schlafkojen entlangläuft. Und die Frauen wiederum werden mit Olga vertrauter und freuen sich auf ihre Runden. Sogar die „Kleinbürgerinnen“ aus Wien hören auf, Olga eine Rote oder Bolschewistenkuh zu nennen, denn sie hilft ihnen, indem sie ihnen rät, langsam zu essen, um den Hunger besser zu stillen, oder sich gegenseitig die Läuse vom Kopf zu pflücken. „Gebt nicht auf“, redet sie ihnen zu. „Drängt euch eng zusammen, dann wird es wärmer.“
Olga findet Zeit, um zu zeichnen. Auf den gesammelten Papierfetzen, die sie als Blockälteste besitzen darf, skizziert sie Miniaturkarten, sodass die Frauen den Kriegsverlauf verfolgen können. Sie markiert die Front mit |73|Bleistift, durch kleine Pfeile, und zeigt ihnen so, wie die deutschen Streitkräfte in Polen vorrücken. Eine gestrichelte Linie umgibt die von den Nazis besetzten Regionen. Olgas Informationen stammen aus Schnipseln der nationalsozialistischen Zeitung Völkischer Beobachter, die ihr Maria Wiedmaier und Doris Maase heimlich zugesteckt haben.
Olga kann gut zeichnen und die Frauen des Blocks schauen ihr mit Erstaunen zu. Eine neue Gefangene mit Namen Käthe Leichter ist aus Wien hergebracht worden. Sie scheint viel zu wissen und informiert Olga über das, was in der Welt draußen passiert. Sie erzählt, dass die österreichische Presse vor ihrer Verhaftung berichtete, Churchill werde bis Weihnachten um Frieden bitten.
Schon bald ist Käthe bei allen im Block beliebt. Sie singt den anderen Frauen Lieder vor und rezitiert Gedichte. Manche sagen, sie kenne offenbar alle Gedichte, die jemals geschrieben wurden. Sie ist älter als Olga und scheint sie unterstützen zu wollen.
Und, obwohl Käthe keine „Genossin“ im eigentlichen Sinne ist – sie ist Sozialdemokratin, keine Kommunistin –, haben die beiden Frauen viel gemeinsam, wie alle Eingesperrten hier. Sie alle haben in der Ferne Kinder oder Familie. Eines Abends spricht Käthe von ihren letzten Tagen in Wien. Ihr Ehemann konnte sich mit den zwei Buben über die tschechische Grenze in Sicherheit bringen. Sie befinden sich jetzt in Paris. Käthe ist verzweifelt und macht sich Vorwürfe, weil sie zuließ, dass sie vorausreisten und ihnen nicht früher nachfolgte. Sie weiß, dass sie es bis nach Paris geschafft haben, weil sie über eine Tante in Wien Briefe von ihnen erhielt, aber sie befürchtet, dass es wohl nicht mehr lange dauern wird, bis Paris ebenfalls besetzt ist, und sorgt sich, wohin sie dann wohl fliehen könnten. Käthe rezitiert ein weiteres Gedicht, diesmal hat sie selbst an einen imaginären „Bruder“ in einem Konzentrationslager für männliche Häftlinge geschrieben.
Bruder, schreckst auch du des Nachts
empor aus wirren Träumen,
sind es Bilder, tags bewußt, die nachts den Schlaf umsäumen?
Warst du heute nacht bei Weib und Kind?
Ich war bei meinen Kindern. Deckte beide zu und sprach:
„Mutter kommt bald, brav sein und nicht weinen!“
Die Lampe warf ihr Licht auf Buch und Sofaecke,
wir saßen still, mein Mann und ich, daß nichts die Kinder wecke.
Da schreckt’ ich auf. Fahl schien der Mond auf eiserne Gestelle.
Und da lieg ich unter vielen und doch so einsam und so kalt.
Ich in Ravensbrück, du in Sachsenhausen, in Dachau oder in Buchenwald.26
|74|Im November reißen Olgas Briefe ab. Dank einer anderen jüdischen Gefangenen, Ida Hirschkron, wissen wir auch, warum. Ida, die im Juli 1939 in Wien wegen Widerstandsaktivitäten verhaftet wurde, kam im Oktober in Ravensbrück an. Sie wurde dem Judenblock zugewiesen und blieb dort als Gefangene, bis sie im September 1941 plötzlich freigelassen wurde. „Meine Entlassung muss ein Irrtum gewesen sein“, so schrieb sie später, „denn sobald ich nach Wien zurückkehrte, wurde ich von der Gestapo gleich wieder gesucht, was mich zwang, illegal im Untergrund zu leben.“27 Aber Ida entging einer erneuten Gefangennahme und nach dem Krieg berichtete sie von ihren Erfahrungen im Lager. Ihre lebhafteste Erinnerung war die Abriegelung des Judenblocks, die am 10. November 1939 begann.
An diesem Tag wurden alle jüdischen Frauen in Block 11 eingeschlossen. Die Türen wurden verbarrikadiert und die Fenster zugenagelt. Niemand wusste, warum. „Wir durften diesen Block nicht verlassen, keine Post erhalten, auch nicht schreiben, wir waren von der Außenwelt vollkommen abgeschlossen.“ Sogar der Appell wurde innerhalb des Blocks abgehalten – von Emma Zimmer. „Ihr Betreten auf dem Block gab uns Herzklopfen. Es regnete nur so die wüstesten Beschimpfungen wie ‚Judenschweine‘, ‚jüdisches Gesindel‘ und faules Judenpack‘. Gleichzeitig schlug Zimmer mit aller Gewalt auf uns ein, wahllos, wer ihr gerade am nächsten stand.“
Diese Abriegelung wurde Tag für Tag aufrechterhalten. Ida erklärt nicht, wie oder wie oft die Frauen Nahrung und Wasser erhielten, aber sie saßen im Dunkeln und jeden Tag kam Zimmer, um sie anzuschreien und zu schlagen. „Unsere Nerven waren derart gespannt, wir hatten keine Luft, durften kein Fenster öffnen. Die Angst vor dem ungewissen Schicksal trieb uns dem Wahnsinn nahe.“
Der Albtraum dauerte drei Wochen an und er wäre auch nach dieser Zeit sicher noch nicht zu Ende gewesen, wenn Olga nichts unternommen hätte. „Da wagte unsere Blockälteste, Olga Benario Prestes die Zimmer zu ersuchen, diesen beinahe unerträglichen Zustand zu beenden.“ Das war eine noch nie da gewesene Frechheit: Bis zu diesem Zeitpunkt hatte keine Gefangene – und mit Sicherheit keine Blockälteste – es jemals gewagt, einer Aufseherin die Stirn zu bieten und Olgas Protest, so Ida, brachte Zimmer in Rage.
„Die Zimmer schrieh wie eine Verrückte und machte dem Lagerkommandanten Kögl eine Meldung wegen Meuterei. Dann ließ uns Zimmer alle antreten und schrieh ‚Ihr Judenpack, jetzt werdet ihr alle erschossen!‘ Dies rief unter den Häftlingen eine ungeheure Panik und Tumulte hervor.“ Aber Koegel befahl nicht, die Frauen zu erschießen. Diese Drohung war |75|nur eines der vielen „sadistischen Gelüste“ von Zimmer, urteilte Ida, „wir mussten Werkzeuge holen und gingen alle zum Sandschaufeln“.
Einige Zeit später erfuhren die Frauen den Grund dafür, dass man sie so gequält hatte. Am 8. November 1939, zwei Tage bevor sie eingeschlossen wurden, hatte Georg Elser, ein 36 Jahre alter Schreiner aus Württemberg, versucht, Hitler zu töten, und hätte damit fast Erfolg gehabt. Er legte im Münchener Bürgerbräukeller, wo Hitler sprechen sollte, eine Bombe. Doch durch einen unglücklichen Zufall hatte Hitler das Lokal bereits zehn Minuten vor der Explosion verlassen, die stattdessen acht Besucher tötete. Zur Vergeltung wurden Juden in allen Konzentrationslagern bestraft.
Ida Hirschkrons Bericht, der den kommunistischen Historikern nach dem Krieg nicht vorlag, ermöglicht uns einen nahezu einzigartigen Einblick in den Judenblock während dieser Krisenzeit. Ohne diesen Bericht wäre nichts über Olgas Mut, das Ende der Abriegelung zu fordern, bekannt geworden. Auf Olgas Protest hin endete diese Sonderbestrafung und die Türen des Blocks wurden wieder geöffnet.
Wie Hirschkron jedoch klarstellt, war es auch keine sanfte Alternative, stattdessen Sand schaufeln zu müssen. Die Aufseherinnen in der Sandgrube sorgten dafür, dass die Gefangenen weiterhin von morgens bis abends zu leiden hatten. „Oft sah ich Frauen, die von Hunden angefallen wurden, aufgehetzt von den Aufseherinnen“, erinnert sich Ida, „wobei ihnen die furchtbarsten Wunden von den Hunden zugefügt wurden. Ich selbst habe oft Frauen blutüberströmt und mit zerfetzten Kleidern ins Lager tragen helfen müssen.“
Unter ihnen waren viele alte Frauen, eine war vollkommen blind. Ob es sich um jene blinde Gefangene handelte, die Olga früher mal im Block getröstet hatte, wissen wir nicht. Sie „hatte schrecklich geschwollene Füße. Diese Arme konnte natürlich infolge ihrer Blindheit nicht dieselbe Arbeit leisten wie wir. Es war grauenhaft, was sich da abspielte. Die Zimmer packte die Blinde beim Genick, schlug sie zu Boden riss sie wieder hoch, schlug mit der Hand auf sie ein und schleuderte sie wieder zu Boden, so dass sie am Boden wimmernd liegenblieb.“
Erst am 20. Dezember konnte Olga wieder an Leocadia und Ligia schreiben, wenn auch nur sehr kurz. Sie bat sie, weiterhin alles für sie zu tun, und dankte ihnen für ein Telegramm, das sie jetzt erst erhalten hatte, das jedoch bereits an Anitas Geburtstag, am 27. November, während der Abriegelung, losgeschickt worden war. „Küsst das Anita-Kind von mir.“28 Trotz der „Meuterei“ hatte Olga im Dezember noch immer ihren Posten als Blockälteste inne. Alice Bernstein, eine andere der jüdischen Überlebenden, war zu dieser Zeit Stubova, Stubenälteste, in Block 11. Sie berichtete von |76|einem weiteren Vorfall, in den Olga drei Tage vor Weihnachten verwickelt war. An diesem Morgen erlaubte Olga einem drei Jahre alten Romamädchen, länger als sonst zu schlafen. „Das Kind war krank. Die Blockälteste hatte es in eine Wolldecke eingepackt.“ Das Kind wurde von einem SS-Schergen, Johann Kantschuster, entdeckt. „Kantschuster schleppte das Kind an den Haaren zu dem neben dem Lager gelegenen See“, dort „angekommen, ertränkte er das Kind“.29