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|131|Kapitel 8 Doktor Mennecke
ОглавлениеIm Sommer 1941 wirkte Ravensbrück drei Wochen lang wie verwunschen. Die Wachen und Aufseherinnen zogen ab und verriegelten hinter sich die Tore. Alles wurde still. Gefangene konnten Vogelgezwitscher hören. Die gerade zur Lagerältesten beförderte Bertha Teege sagte, es habe begonnen, als eine „Asoziale“ ihr bewegungslos gewordenes Bein hinter sich herzog. Wenige Stunden später waren Dutzende andere Frauen auch lahm. Bertha machte Meldung bei Langefeld. Als die Lähmungen um sich griffen, geriet das SS-Personal aus Furcht vor Kinderlähmung in Panik.1
Die Gefangenen hatten keine Furcht. Manche sagten, die Beine würden wegen der neuen Nachtschichten in der Schneiderei anschwellen. Andere sahen es als Hysterie. Max Koegel hielt es für die Folge der Experimente des Arztes. Man hörte, wie er fluchte und Sonntag vorwarf, das ganze Lager zu infizieren.
Um ein Uhr in der folgenden Nacht wurde Bertha Teege geweckt und erhielt die Schlüssel zur Küche und zum Strafblock. Das Lager stand jetzt unter Quarantäne und ihr wurde die Aufsicht übertragen – „solche Angst hatten die ehrenwerten Herrschaften, selbst krank zu werden“. Gefangenentransporte ins Lager und nach draußen wurden bis auf Weiteres gestoppt und die Insassinnen mussten in den Baracken bleiben. Kein Wachpersonal durfte das Lager betreten, bis die geheimnisvolle Seuche vorüber war.2
Während der nächsten Tage herrschte ein seltsamer Friede. Die gelähmten „Asozialen“ wurden in einem abgeriegelten Block zusammengelegt, dem sich niemand nähern sollte. Eine Gefangene wollte aber die Kranken nicht sich selbst überlassen. Milena Jesenska aus der Schreibstube des Reviers, die Sonntags Avancen so heftig zurückgewiesen hatte, war mit vielen der kranken Gefangenen befreundet. Nun wollte sie ihnen helfen und niemand hinderte sie daran.
|132|Im Sommer 1941 war Milena Jesenska wohl die charismatischste Frau im Lager. Sie litt an Arthritis und Nierenbeschwerden und wirkte auf den ersten Blick älter als ihre 43 Jahre, doch ihr Geist war ungebrochen. Ihr feuerrotes Haar war immer noch dicht und lang und ihre Augen hatten den Ausdruck eines Menschen, der sich nie an Regeln gehalten hatte. Grete Buber-Neumann meinte, ihr Selbstbewusstsein habe sie vor den Schlägen der SS geschützt. Sich zu ducken oder Angst zu zeigen, provozierte Schläge, aber beim Appell ließ sich Milena immer Zeit zum Antreten. Das ärgerte die Aufseherin, die sie vielleicht schlagen wollte, aber dann ihren Blick wahrnahm und es sein ließ.
Milena wurde auch bewundert. Im Lager hätten sich die Schwachen oft an jene angeschlossen, die Stärke ausstrahlten, sagte Grete, die zwar nicht schwach war, aber emotionale Narben trug und selbst von Milena angezogen war. In diesem verzauberten Zeitraum wurde aus ihrer Freundschaft Zuneigung und – für Grete – eine tiefe und dauerhafte Liebe.
Jeden Tag folgte Grete Milena zum „Seuchenblock“. Sie saßen in der Augustsonne auf der Treppe und redeten. Hier erfuhr Grete von Milenas jungen Jahren im Prag der zwanziger Jahre und ihrer wohlhabenden tschechischen Familie – der kultivierten Mutter und dem Vater, einem Professor für Zahnmedizin an der Karlsuniversität. Sie erfuhr von einer jüngeren Milena, einer provozierenden Autorin mit anarchischem Charme, die in einem frühen Artikel ihre Leser fragte: „Haben Sie schon einmal hinter Gefängnisgittern das Gesicht eines Gefangenen gesehen? Dann würden Sie begreifen, dass das Fenster, keineswegs die Tür, das Tor zur Freiheit ist. Vor dem Fenster liegt die Welt. …; im Fenster liegen Sehnsüchte und Wünsche. Hinter der Tür befindet sich allein die Wirklichkeit.“3
Um 1922 verkehrte Milena dann mit den deutsch-jüdischen Literaten, die sich in den Prager Cafés trafen. Sie begegnete Franz Kafka und las seine noch kaum bekannten Werke. Die Affäre der beiden begann 1922, als er mit der Arbeit am Roman Das Schloss begann, in dem der Landvermesser K in einem Dorf eintrifft, das von einer unheimlichen Bürokratie im nahe gelegenen Schloss regiert wird.
Am häufigsten erzählte Milena Grete aber von Kafkas Verwandlung, die sie ins Tschechische übersetzt hatte. Sie erzählte ihr die Geschichte des unverstandenen Handlungsreisenden Gregor Samsa, der sich in Kafkas Novelle in ein großes Insekt verwandelt und von der Familie, die sich seiner schämt, unter dem Bett versteckt wird. In ihrer Version betonte Milena manche Teile. „Besonders eingehend spann sie die Krankheiten des Käfers aus, wie man ihn mit einer Wunde am Rücken, in die sich Schmutz und Milben gesetzt hatten, schließlich einsam zugrunde gehen läßt.“4
Milenas intensive und quälende Affäre mit Kafka konnte keinen Bestand haben. In dieser Zeit litt der Schriftsteller schon an Tuberkulose und starb |133|1924. Von da an engagierte Milena sich ganz für den Journalismus und den Kampf für soziale Gerechtigkeit. Wie so viele Menschen in ihrer Umgebung wandte sie sich dem Kommunismus zu, bis sie Mitte der dreißiger Jahre als eine der Ersten auf die Berichte über Stalins Säuberungen aufmerksam wurde, die Prag erreichten.
1937 hatte Milena, die inzwischen zum zweiten Mal verheiratet war und eine Tochter hatte, den KP-Mitgliedsausweis weggeworfen, obwohl ihr Abscheu gegen den Faschismus angesichts der drohenden deutschen Invasion mit jedem Tag wuchs. Als Hitlers Truppen in das Sudetenland einmarschierten, schrieb Milena so streitbare antifaschistische Artikel, dass ihre Festnahme unausweichlich war, und sie wurde mit der Mehrzahl der Prager Intellektuellen von der Gestapo verhaftet.
In Ravensbrück führte die gemeinsame Enttäuschung über Stalins Traum Milena und Grete zusammen, aber sie teilten mehr als die politische Desillusionierung. Grete war nicht nur von Milenas exotischer Vergangenheit fasziniert, sondern auch von ihrem Auftreten. Milena hatte rasch verstanden, dass nicht sie, sondern Grete die außergewöhnlichste Lebensgeschichte hatte, denn mit ihren 41 Jahren hatte sie die Lager der beiden schlimmsten Diktatoren der Welt kennengelernt. Milena besaß für Grete eine „suggestive Kraft des Erfragens. … Ihre Phantasie versetzte sie in meine Vergangenheit, und so gelang es ihr, vieles, was ich vergessen hatte, wieder aufzuhellen und mit Fleisch und Blut zu erfüllen. Sie wollte nicht nur die Geschehnisse wissen, sie wollte die Menschen, denen ich auf meinem langen Weg durch die Gefangenschaft begegnet war, leibhaftig vor sich sehen.“5
Und je mehr die beiden redeten, desto mehr war Milena überzeugt: „Wenn wir wieder in Freiheit sind, werden wir gemeinsam ein Buch schreiben.“ Es sollte von den „KZs beider Diktaturen“ handeln, „der Entwürdigung von Millionen von Menschen zu Sklaven; in der einen Diktatur im Namen des Sozialismus, in der anderen zum Wohl und Gedeihen der Herrenmenschen“. Sein Titel sollte „Das Zeitalter der Konzentrationslager“ sein.6 Dieses Gespräch fand 1941 statt, bevor die Gaskammern von Auschwitz gebaut wurden und bevor die Außenwelt eine ernsthafte Ahnung von Stalins Gulag hatte.
Für Grete war Milena aber nicht nur Seelenverwandte, sondern auch Verbündete. Über ein Jahr, nachdem sie aus dem Gulag gekommen war, grenzten die Kommunistinnen im Lager Grete immer noch aus und nun wiesen sie auch Milena zurück, weil sie es wagte, Umgang mit dieser trotzkistischen Verräterin Buber-Neumann zu pflegen, die Lügen über die Sowjetunion verbreitete.
Es überrascht nicht, dass die Gefühle im Sommer 1941 aufwallten; im Juni hatte Hitler den Pakt mit Stalin zerrissen und mit massiven Kräften die |134|Sowjetunion überfallen – das Unternehmen Barbarossa begann. Eine Welle des Optimismus schwappte über die kommunistischen Gefangenen, die überzeugt waren, die Rote Armee werde zurückschlagen und sie alle bald befreien. Milena und Greta bezweifelten das. Grete schreibt, dass ihre Skepsis weitere Angriffe von Hardlinern provozierten, die sie als „Klassengegner“ beschimpften.7
Obwohl einige kommunistische Apparatschiks sich gegen Milena wandten, wurde sie von den meisten tschechischen Gefangenen wegen ihres Charmes und ihres Mutes geliebt. Viele der Gefangenen waren ebenfalls Schriftstellerinnen oder Tänzerinnen, Musikerinnen oder Künstlerinnen und kannten sie seit Jahren. Im Oktober 1941 kam die tschechische Widerstandskämpferin Anička Kvapilová nach Ravensbrück, die zuvor die Musikabteilung der Prager Stadtbibliothek geleitet hatte. Als sie schockiert und verzweifelt vor dem Revier stand und mit den anderen Neuzugängen auf die Aufnahmeuntersuchung wartete, schaute sie auf und sah ein lächelndes Gesicht. Milena trat aus der Tür und rief: „Seid mir willkommen, Mädels.“ Anička hatte Milena in Prag nicht gekannt, aber von ihr gehört und ahnte, dass sie es war. „Ich konnte es gar nicht fassen, blickte zu ihr hinauf und bemerkte die rötlich schimmernden Haare, die ihr wie eine Gloriole um den Kopf standen. … Es war das erste wirklich Menschliche inmitten all der Unmenschlichkeit.“8
In diesen verwunschenen Wochen des Sommers 1941 genossen auch andere Häftlingsfrauen ihre Freiheiten. Die politischen Gefangenen machten Spaziergänge und trafen jüdische Genossinnen oder besuchten die Kranken. Die Kommunistin Jozka Jaburkova schrieb sogar eine Märchensammlung für ihre Freundin Tilde Klose, die an Tbc erkrankt war. Im jüdischen Block arbeitete Olga an ihrem Miniatlas.
Als Vertreterin der Oberaufseherin erlaubte Bertha Teege es den Gefangenen, sich die Quarantäne zunutze zu machen: „die Bibelforscher holten ihre illegale Bibel hervor, die Asozialen sangen, was die Kehle hergab, die Berufsverbrecher zankten sich, die Zigeuner tanzten, trieben Akrobatik, schlugen und vertrugen sich im selben Atemzug und die Polinnen besuchten sich gegenseitig“.9
Die SS ließ ihre zuverlässigen Gefangenen das Lager beaufsichtigen. Ihr Vertrauen zu Bertha Teege und anderen Funktionshäftlingen war so groß, dass die Aufseherinnen einfach weggingen, weil sie sicher wussten, dass drinnen alles effizient weitergehen und das Lager unter Kontrolle bleiben würde. Ein solcher Vertrauensbeweis zeigt, wie erfolgreich die SS dabei war, die alltägliche Organisation des Lagers den Gefangenen aufzubürden.
Seit der Übernahme von Häftlingsfunktionen durch Kommunistinnen im Vorjahr hatten immer mehr Politische nützliche Stellen bekommen. Sie wurden nicht nur Blockälteste, sie arbeiteten auch in der Küche und im SS-Kindergarten |135|und servierten das Essen in der SS-Kantine. Andere arbeiteten in der Effektenkammer und mehrere waren Krankenschwestern, Hebammen und Technikerinnen im Revier. Und nicht nur Deutsche und Österreicherinnen sicherten sich gute Posten: Im Röntgenraum des Reviers arbeiteten polnische Medizinerinnen und im Labor Tschechinnen.
Die meisten neuen Stellen gab es in der Lagerverwaltung. Mit der Gefangenenzahl wuchs auch die Bürokratie und Koegel brauchte Bürokräfte. Da Maschineschreiben, Stenografie, Buchführung und Ablage Frauenarbeit waren, gab es in Ravensbrück viele Qualifizierte. Frauen, die früher Reden für Lokalpolitiker getippt oder die Buchhaltung einer Gewerkschaft geführt hatten, tippten nun Listen der Neuzugänge oder Rechnungen an örtliche Landwirte für die Arbeit von Gefangenen.
Die Schreibstube in der Kommandantur war ausschließlich mit Gefangenen besetzt. Wenn sie wollten, konnten sie ihre Privilegien wirksam einsetzen: Sie konnten Blockältesten die Namen von Neuzugängen mitteilen oder vor bevorstehenden Rationskürzungen oder Besuchen von hochrangigen Personen warnen.
Diese Schreiberinnen genossen große Privilegien. Da sie Seite an Seite mit der SS arbeiteten, konnten sie sich öfter waschen als gewöhnliche Häftlinge und bekamen bessere Kleidung und Nahrung. Alle wohnten in Block 1, wo die Lebensbedingungen besser waren und viele Funktionshäftlinge – Blockälteste, Stubenälteste, Revierpersonal und andere – wohnten. Durch Kontakte in den Büros sicherten Blockälteste sich auch mehr Einfluss und im Sommer 1941 besaß niemand mehr Autorität als Rosa Jochmann, die österreichische Gewerkschaftsführerin, inzwischen Blockova von Block 1.
Obwohl Rosa zunächst von Käthe Leichter überzeugt werden musste, den Posten als Blockälteste zu übernehmen, erkannte sie seine Vorteile. Zu dieser Zeit „war das ganze Lager in den Händen der Häftlinge“, sagte sie später.10 Rosas Einfluss war groß. Als sich eine junge Aufseherin mit einer kleinen Beschwerde über Block 1 an Langefeld wandte, beschwerte sich Rosa ihrerseits bei Langefeld über die Aufseherin und die Aufseherin wurde ermahnt. Rosa Jochmann leitete Block 1 so erfolgreich, dass er stets als Vorzeigeblock ausgewählt wurde. Besucher von draußen – hochrangige Nazis, Diplomaten aus neutralen Ländern, Unternehmer, Rotkreuzmitarbeiter oder Wehrmachtsoffiziere – wurden in Rosas Block geführt, um zu sehen, wie zivilisiert ein Konzentrationslager in Wirklichkeit wäre.
Im Herbst 1941 waren jedoch die beiden Lagerältesten Bertha Teege und Luise Mauer die mächtigsten Gefangenen im Lager geworden. Beide waren KPD-Mitglieder. Bertha hatte den Posten seit Januar 1941 inne, doch ab dem Sommer war die Arbeit so umfangreich, dass die beiden Frauen sie sich teilten. Sie wurden oft in Langefelds Gegenwart oder mit einem Auftrag |136|auf der Lagerstraße gesehen und man erinnerte sich später immer als Gespann an die beiden.
Auf den ersten Blick ist die Macht Berthas und Luises schwer zu erklären; nichts unterschied sie von anderen gewöhnlichen kommunistischen Gefangenen. Bertha, die Tochter eines Möbeltischlers, war vor dem Krieg Buchhalterin gewesen und hatte sich dann der KPD angeschlossen. Sie heiratete einen kommunistischen Landtagsabgeordneten und hatte zwei Kinder. Die Schneiderin Luise Mauer heiratete ebenfalls einen kommunistischen Politiker und arbeitete als Kurier für die Partei. Sie hatte eine Tochter. Die Geschichten von Festnahme und Gefangenschaft der beiden Frauen ähnelten auch vielen anderen und bei der Ankunft im Lager fielen sie kaum auf.
In Langefelds Augen waren Bertha Teege und Luise Mauer aber die besten Kandidatinnen. Kommunisten konnten Befehle befolgen und seit dem „Putsch“ hatten die beiden sich als loyale Arbeiterinnen erwiesen. Beide Frauen waren befähigt, Ende dreißig und hatten schon vor dem Lager jahrelange Haft und Trennung von ihren Kindern erlebt. Ihr Widerstand war völlig gebrochen. Luise Mauer war in Ravensbrück zusätzlich durch langen Einsatz in den härtesten Arbeitskolonnen demoralisiert.
Als Bertha Teege ein Jahr später ins Lager kam, warf sie nur einen Blick auf die Strafen, die widersetzliche Gefangene erleiden mussten und beschloss, alles für ihr Überleben zu tun. Bald nach ihrer Ankunft sah Bertha, dass im Bunker Leichen auf dem Steinboden der Zellen festgefroren waren. „Den in der Revierstube beschäftigten Häftlingen oblag die Aufgabe, die Leichen vom Boden loszueisen.“11
Bei der ersten Hinrichtung Anfang 1941 zog man Teege zur Hilfe heran und sie gehorchte bereitwillig. Das Opfer war eine Polin namens Wanda Maciejewska, die wegen in Polen begangenem „Terrorismus“ zum Tode verurteilt war.12 Bertha sollte Wanda zum Hinrichtungsort nahe dem Bunker führen, wo die Erschießung stattfand. Danach musste sie die Tote ausziehen, die dann mit dem Leichenwagen des Lagers zum Krematorium nach Fürstenberg gebracht wurde. Teege trug die blutigen Kleider der Frau zurück zur Effektenkammer, wo sie gewaschen und wiederverwendet wurden.
Im August 1941, als die SS sich aus Angst vor Kinderlähmung vom Lager fernhielt, war das Vertrauen Langefelds zu Bertha Teege so groß geworden, dass sie ihr die Lagerschlüssel gab. Drei Wochen später gab Bertha sie zurück. Die Seuche war ebenso schnell geeendet, wie sie begonnen hatte, vielleicht verursacht durch eine Massenhysterie oder durch eine geplante Aktion der „Asozialen“, um Panik zu verbreiten. Aber bald brach eine neue Panik aus und diesmal war die Ursache echt.
|137|Den ganzen Frühherbst 1941 über – laut Doris Maase seit dem Juli – schrieb Dr. Sonntag neue Listen, aber niemand wusste den Grund. Von den Sekretärinnen aus der Schreibstube kamen Gerüchte, er handelte auf direkten Befehl Berlins. Die ausgewählten Gefangenen waren hauptsächlich Alte und Kranke. Teege und Mauer führten die Frauen zum Badehaus, wo sie sich ausziehen und nackt vor Sonntag vorbeigehen mussten. Dann kehrten sie in ihre Blocks zurück und die nächsten Frauen wurden zum Badehaus gerufen. Viele hatten Syphilis oder Gonorrhö. Auch einige aus dem jüdischen Block wurden aufgerufen. Dazu kamen Tbc-Kranke, einschließlich der Vorarbeiterin der Arbeitskolonne der Privilegierten. Niemand wusste, wer als Nächstes drankommen würde.
Kaum etwas war schlimmer als die Ungewissheit; die kleinsten Veränderungen bewirkten Unruhe. Seit dem Angriff auf die Sowjetunion im Juni hatte es mehr Ungewissheiten denn je gegeben. Die Rationen waren gekürzt worden; es gab Gerüchte, das Brot könnte ausgehen. Der Verkaufsladen hatte fast nichts anzubieten und es hieß, die Post für die Häftlinge solle eingestellt werden.
Überbelegung führte zu weiterer Ungewissheit. Immer mehr Gefangene strömten herein – vor allem Polinnen, aber auch Politische und „Asoziale“ aus Deutschland – und die Häftlingszahl näherte sich der 7000. Und jede Woche mussten Frauen von einem Block in einen anderen ziehen, um Platz für die neuen zu machen, was Freundschaften auseinanderriss. Manche mussten sogar die Matratze teilen. Geduscht wurde nur noch alle vier Wochen. Jede Frau bekam nur noch eine Decke statt zwei und der Winter rückte näher.
Manche sagten, die Frauen auf Sonntags Liste sollten entlassen werden. Tatsächlich fanden auch Entlassungen statt; um weitere „Seuchen“ zu verhindern, wurde einigen Tbc-Kranken gesagt, sie würden entlassen, darunter die drei Kommunistinnen Lotte Henschel, Tilde Klose und Lina Bertram. Die Reviersekretärin Erika Buchmann kam im Sommer frei, anscheinend durch eine Laune Himmlers. Im Juli wurde Doris Maase entlassen.
Gefangene, die in der Effektenkammer arbeiteten, wussten jedoch nichts von Entlassungen in Zusammenhang mit Sonntags Listen und sie hätten es als Erste erfahren, da die Kleider der Entlassungskandidatinnen stets vorher bereitgelegt wurden. Andererseits wusste man in der Effektenkammer auch, dass die Rückgabe der eigenen Kleidung keine Entlassung garantierte. Die im Januar erschossene polnische Widerstandskämpferin Wanda Maciejewska hatte man direkt vor der Hinrichtung hergebracht und die eigenen Kleider anziehen lassen – eine Täuschung, um die bevorstehende Exekution zu verschleiern.
Bis zur dritten Novemberwoche hatte Dr. Sonntag über 250 Namen für die Listen ausgewählt. Am 19. November traf ein Mann in Zivil aus Berlin |138|ein. Niemand kannte ihn, aber die Reviersekretärin Emma Handke erfuhr, dass er Psychiater sei. Jemand in der Schreibstube hatte gehört, er wohne in einem Fürstenberger Hotel.
Es war fast neun Monate her, seit Himmler bei Hitlers Kanzleichef Philipp Bouhler angefragt hatte, ob er „das Personal und die Einrichtungen der T4 für die Konzentrationslager nutzbar machen könnte“. Das „Personal“ waren die deutschen Psychiater und Ärzte, die zur Selektion der Behinderten für die Euthanasiemorde eingesetzt wurden; die „Einrichtungen“ waren die in den Heil- und Pflegeanstalten dafür installierten Gaskammern. Himmlers Interesse an der Nutzung der T4-Gaskammern erwuchs vor allem aus der zunehmenden Notwendigkeit, in den Lagern Platz zu schaffen. Durch die neue Kampagne zum Einsatz von Zwangsarbeitern in der Rüstungsindustrie war es wichtiger als je zuvor, arbeitsunfähige Gefangene, die „unnützen Esser“, zu eliminieren.13
Wenige Wochen nach dem Brief an Bouhler erhielt der Reichsführer die Genehmigung. Die neue Serie von Vergasungen sollte aber nicht von der T4-Zentrale in der Kanzlei des Führers geleitet werden, sondern von Himmlers eigener Inspektionsbehörde der Konzentrationslager in Oranienburg am nördlichen Stadtrand von Berlin. Hier wurde ein neuer Tarnname erfunden: Sonderbehandlung 14f13. „Sonderbehandlung“ war der Euphemismus von SS und Polizei für Ermordung. Bei der Inspektion der Konzentrationslager gebrauchte man den Code 14f für Gefangene, die im Lager starben. 14f14 bedeutete Hinrichtung und 14f8 Selbstmord. Das neue 14f13 bedeutete Tod durch Vergasung.
Das Programm 14f13 hatte im Frühjahr mit einer Versuchsphase im Männerlager Sachsenhausen begonnen, nicht weit von der Dienststelle in Oranienburg entfernt. Im April 1941 traf dort eine Ärztekommission ein, um mit den Selektionen zu beginnen. Angesichts des Informationslecks bei den Vergasungen in Grafeneck fünf Monate zuvor war die Geheimhaltung bei der Aktion in Sachsenhausen streng, doch dank der Briefe eines Kommissionsmitglieds, Friedrich Mennecke, sind heute bestimmte Details bekannt.
Der T4-Psychiater Mennecke schrieb jeden Tag an seine Ehefrau Eva und erzählte von seiner Arbeit in Sachsenhausen. Er bewohnte im Hotel Eilers in Oranienburg „ein sehr großes u. schönes Zimmer“, während seine Kollegen aus der Tiergartenstraße 4 jeden Tag mit der S-Bahn aus Berlin kamen. Seine Arbeit war „sehr, sehr interessant“ und er trank nachmittags Kaffee mit dem Kommandanten. Nach vier Tagen hatten Mennecke und seine Kollegen 250 bis 400 Gefangene begutachtet.14
Wenige Wochen später wurden die von Mennecke in Sachsenhausen begutachteten Häftlinge nach Sonnenstein bei Dresden gebracht, auch dies |139|ein Vergasungszentrum in einer Heilanstalt. Es war ein weiterer Wendepunkt im eskalierenden Mordprogramm des NS-Regimes: Zum ersten Mal wurden KZ-Häftlinge mit Gas ermordet. Ein zufriedener Himmler wies seinen 14f13-Stab – und die Kollegen bei T4 – an, in anderen Lagern mit der Selektion von Gefangenen zum Transport in die Vergasungszentren zu beginnen.
Im Sommer gab es jedoch öffentliche Proteste und die Vergasungen wurden unterbrochen. Ein neues Vergasungszentrum in der Nervenheilanstalt Hadamar bei Limburg löste die Unruhe aus. Die Anstalt befand sich in einem früheren Franziskanerkloster und in einem Flügel waren Gaskammern installiert worden, aber erneut war die Tarnung aufgeflogen. Im August 1941 schrieb der Bischof von Limburg:
Öfter in der Woche kommen Autobusse mit einer größeren Anzahl solcher Opfer in Hadamar an. Schulkinder der Umgebung kennen diese Wagen und reden: „Da kommt wieder die Mordkiste.“ Nach der Ankunft solcher Wagen beobachten dann die Hadamarer Bürger den aus dem Schlot aufsteigenden Rauch und sind von dem ständigen Gedanken an die armen Opfer erschüttert … Kinder, einander beschimpfend, tuen Äußerungen: „Du bist nicht recht gescheit, du kommst nach Hadamar in den Backofen!“ … Bei alten Leuten hört man die Worte: „Ja in kein staatliches Krankenhaus! Nach den Schwachsinnigen kommen die Alten als unnütze Esser an die Reihe.“15
Es war auch unmöglich, die vielen Urnen zu verbergen, die sich plötzlich in Krematorien in ganz Deutschland stapelten. Schockierte Menschen erfuhren, ihre Angehörigen, meist Patienten einer Nervenheilanstalt, seien plötzlich verstorben; wegen des Infektionsrisikos wären die Toten sofort eingeäschert worden. In vielen Fällen gingen Urnen an die falschen Familien und manche erhielten zwei Urnen. Kaum erträglich war für Katholiken die Nachricht, die Toten wären verbrannt worden.
Im Frühjahr und Sommer 1941 begann ein stiller Protest in ganz Deutschland. Familien setzten identische Traueranzeigen in die Zeitungen und drückten ihren Unglauben über die unverständliche Nachricht vom plötzlichen Tod ihrer Lieben aus. Anwälte von Familien, deren Patienten noch in Anstalten lebten, sagten, die Familien würden durch das Programm und seine fadenscheinige Tarnung zum Narren gehalten. Die Verantwortlichen hätten das Gefühl für den Unterschied zwischen richtig und falsch verloren, schrieb ein katholischer Priester.
Am 3. August 1941 kam der bis dahin am schwersten wiegende Protest. Clemens August Graf von Galen, der Bischof von Münster, verurteilte die Morde von der Kanzel aus; auch „unproduktive Mitmenschen“ hätten ein Recht auf Leben.16 Inzwischen erschienen schon Artikel über die Morde |140|und deren Tarnung in ausländischen Zeitungen, sogar in der New York Times.
Der Protest kam zu einem für Hitler unangenehmen Zeitpunkt. Am 22. Juni 1941 hatte der Überfall auf die Sowjetunion begonnen und die Aufmerksamkeit des Führers konzentrierte sich auf Stalins Rote Armee. Unruhe im Inneren lenkte nur ab. Im August ließ Hitler die Euthanasiemorde in Deutschland einstellen, um keine Proteste gegen seine weiter gehenden Mordprojekte zu provozieren. Die öffentlichen Proteste verstummten rasch und er konnte sich der Hauptaufgabe zuwenden, Stalin zu besiegen und die drei Millionen sowjetischen Juden zu vernichten.
Himmlers eigene Mordeinheiten, die SS-Einsatzgruppen, folgten der Wehrmacht mit der Aufgabe, die sowjetischen Juden zu ermorden, und im Sommer fuhr der Reichsführer zur Inspektion in die eroberten Sowjetgebiete. Die wichtigste Methode waren Massenerschießungen. Zuerst hatte Himmler befohlen, nur die Männer zu erschießen – vielleicht glaubte er, seine Leute seien noch nicht ausreichend „abgehärtet“ oder „an ihre grausame Tätigkeit herangeführt“, wie ein Biograf es formuliert, um Frauen und Kinder zu erschießen. Ende Juli befahl Himmler jedoch, auch jüdische Frauen und Kinder zu erschießen.
Bei einem Besuch in Minsk am 15. August beobachtete der Reichsführer eine Massenerschießung. Er stand neben einem Graben und sah zu, wie Gruppen von Juden und „Partisanen“ – Männer und Frauen – erschossen wurden und dann in eine Grube vor ihm fielen. Ein Soldat sagte später aus: „Nach der ersten Salve kam Himmler direkt zu mir und schaute selbst in die Grube. Dabei beobachtete er, dass noch einer lebte. Er sagte zu mir: ‚Leutnant, schießen Sie auf den!‘ … Himmler blieb dabei neben mir stehen.“17
Falls Himmler je Vorbehalte gehegt hatte, Frauen in seine neuen Vergasungspläne gegen KZ-Häftlinge im Altreich einzubeziehen, so waren sie nach Minsk verschwunden. Im Herbst 1941 autorisierte er die Wiederaufnahme von Selektionen in den Lagern für den 14f13-Mordplan und Ravensbrück sollte einbezogen werden.
Hitlers Befehl zur Einstellung der Euthanasiemorde im Sommer war nur vorgetäuscht gewesen. Die Ermordung behinderter Erwachsener in den Gaskammern deutscher Heilanstalten wurde weitgehend gestoppt und die Kirchen waren beruhigt; in anderen Einrichtungen ging die Euthanasie mit anderen Methoden weiter, vor allem tödlichen Injektionen. Kinder wurden vergiftet oder man ließ sie verhungern.
Unterdessen war es Himmler gelungen, verfügbare T4-Gaskammern in den Heilanstalten zu bekommen und für die „unnützen Esser“ aus seinen Lagern zu nutzen. Im November 1941 wurde Dr. Mennecke, der als T4-Arzt |141|die ersten 14f13-Häftlinge in Sachsenhausen selektiert hatte, nach Ravensbrück beordert. Seine Ankunft im Lager wurde geheim gehalten, doch wir wissen, dass er an jenem 19. November ankam, weil er an diesem Tag den ersten Brief aus Fürstenberg an seine Frau schrieb. Er war mit dem Zug gefahren, er würde wegen Wanzen das Hotel wechseln, der Weg zum KZ zog sich hin und es war neblig.
Friedrich Wilhelm Heinrich Mennecke wurde 1904 bei Hannover als Sohn eines Steinhauers geboren. 1914 wurde sein Vater trotz seiner 42 Jahre eingezogen und kehrte drei Jahre später mit schwerer Verwundung und Schützengrabenschock nach Hause zurück. Körperbehindert und gebrochen starb er mit 50 Jahren und hinterließ eine verarmte Frau und zwei Kinder.
Nach dem Schulabschluss konnte Friedrich nicht studieren und arbeitete zunächst als Handlungsreisender. Erst später nahm er mithilfe von Verwandten das Medizinstudium auf. Er war ein mittelmäßiger Student, aber ein überzeugter Nazi, spezialisierte sich auf Psychiatrie und wurde 1939 Direktor der Landesheilanstalt Eichberg. 1937 hatte er die zehn Jahre jüngere medizinisch-technische Assistentin Eva Wehlan geheiratet. Als im Februar 1940 das T4-Programm begann, wurde er zu einer Konferenz nach Berlin bestellt, wo er und zehn bis zwölf weitere Ärzte die Aufgabe erhielten, „unwertes Leben“ in Nervenheilanstalten zu selektieren. Da alle anderen die Aufgabe ohne Zögern akzeptierten, schloss Mennecke sich an.
Bei der Ausweitung des T4-Programms auf die Konzentrationslager 1941 waren seine Fähigkeiten erneut gefragt. Es ist anzunehmen, dass die Geheimhaltung für Ravensbrück besonders streng war, weil Himmler vielleicht befürchtete, die Vergasung von Frauen auf deutschem Boden könne zu weit gehen und bedürfe besonderer Tarnung. Mennecke wurde nicht nur angewiesen, niemals über seine Tätigkeit in Ravensbrück zu sprechen, auch der Name des Lagers wurde in den SS-Unterlagen über das neue 14f13-Programm nicht erwähnt.
Ein Brief vom 10. Dezember 1941, eines der wenigen erhaltenen Dokumente zu 14f13, enthält Anweisungen für SS-Lagerkommandanten, wie und wann Selektionen für die Vergasung durchzuführen seien. Er richtet sich an die Kommandanten von Dachau, Sachsenhausen, Buchenwald, Mauthausen, Auschwitz, Flossenbürg, Groß-Rosen, Neuengamme und Niederhagen und kündigt an, dass „in der nächsten Zeit die Ärztekommission die vorgenannten Konzentrationslager zur Ausmusterung von Häftlingen aufsuchen“ wird. Ein Teil der Lager sollte in der ersten Januarhälfte 1942 überprüft werden.
Weiterhin informiert der Brief detailliert darüber, wie Lagerärzte schon vor dem Besuch der Kommission Vorselektionen durchführen sollen. Das Muster eines Meldebogens sei beigelegt.18
|142|Das Fehlen von Ravensbrück auf der Liste ist besonders außergewöhnlich, da zu diesem Zeitpunkt schon ein Besuch der Ärztekommission stattgefunden hatte und ein weiterer bevorstand. Es ist anzunehmen, dass Max Koegel die Information und den Musterbogen im Interesse der Geheimhaltung schon zuvor direkt von einem Mitarbeiter der Inspektion der Konzentrationslager erhielt. Diese starke Geheimhaltung schuf Verwirrung in Ravensbrück und verschleierte nach dem Krieg den wahren Ablauf der Geschehnisse. Noch heute wären viele Details dieser frühen Phase des Massenmords undokumentiert, wenn Dr. Mennecke sie nicht minutiös in den Briefen festgehalten hätte, die er – manchmal zweimal am Tag – an seine Frau schrieb.
Menneckes erster Brief aus Ravensbrück (mit der Datierung „Fürstenberg, d. 19. 11. 41. 19.15 h“) gibt die Tonlage an, als rede er gerade mit Eva:
Liebste Mutti!
Soeben habe ich das Gespräch angemeldet, ob’s wohl bald kommt? Ich werde Dir dann ja alles fernmündlich sagen, aber hier will ich wenigstens der Vollständigkeit halber auch erzählen. Ich habe mir gerade zum Abendessen Wildbraten bestellt – und trinke jetzt erst mal einen Korn auf Dein Wohl! Prost!! Es ist heute hier so neblig, daß man auf 100 m nichts sieht. Die Tommies können bei solchem Wetter wohl nicht kommen.19
Er erzählt von seinem Tag, der in der Berliner Tiergartenstraße 4 begann, wo er mit seinen Vorgesetzten frühstückte, darunter den Ärzten Paul Nitsche und Werner Heyde, die „sehr, sehr freundlich“ waren und sie grüßten. Nitsche und Heyde informierten Mennecke auch über künftige Pläne und sagten, er solle von Ravensbrück aus nach Buchenwald fahren und später nach Groß-Rosen, ein weiter östlich gelegenes KZ. „Das dauert etwa 14 Tage, denn im Kz. kann man pro Tag 70-80 erledigen“, schreibt er an Eva und bezieht sich auf das bemerkenswerte Tempo, mit dem er Vergasungsopfer in den Lagern selektiert, verglichen mit den Krankenhäusern und Heilanstalten, in denen er früher gearbeitet hat.
Vor der Abfahrt nach Ravensbrück aß Mennecke Bratwurst, „50 g Fl.[eisch]“ (was sich auf die Fleischmarken bezieht) mit Kartoffeln und Wirsing. In Fürstenberg ging er zuerst ins Hotel, dann zum Lager.
Am Haupttor wurde Mennecke von Koegel begrüßt, der ihm sagte, es seien nur 259 Gefangene zu begutachten, „also nur höchstens 2 Tage für 2 Mann“. Sein Kollege Curt Schmalenbach sollte mitarbeiten, obwohl Mennecke das offensichtlich störte: „Ich kann alles alleine machen.“ Er schreibt an Eva, falls er am Samstag fertig sei, werde er direkt zur nächsten |143|Station nach Weimar fahren, „dort soll’s mehr sein …, so daß wir in Buchenwald wohl zu Dritt arbeiten werden“.
„Mit dem Adju[tanten] ging ich in’s Kasino zum Kaffetrinken“, kurz darauf kam Koegel dazu. „Wir sprachen unser Arbeitsprogramm [die Selektion] durch, tranken noch ein Bier zusammen“ und Koegel empfahl, wegen des Ungeziefers das Hotel zu wechseln, darum zog Mennecke in ein anderes, obwohl im Café nebenan „ein entsetzlicher Landser-Betrieb (SS)“ herrschte.
Am Schluss – anscheinend war der Anruf schon vorbei – erwähnt er die Offensive im Osten: „hoffentlich geht’s schnell vorwärts. Man rechnet mit dem Kriegsende im nächsten Sommer – hoffentlich!! … Nun geh auch Du gleich schlafen u. träume recht, recht süß!! – Nimm liebste innigste Küßli’s – viele – viele – viele – von Deinem treuen Fritz-Pa – Ahoi!“
Donnerstag, 20. November, ist Menneckes erster Arbeitstag in Ravensbrück. Er schildert Eva dieselben obsessiven Details in einem laufenden Kommentar: „heute Mittag gab’s im Casino Linsensuppe mit Speckeinlage, als Nachtisch Omelette“. In diesem Brief erfahren wir etwas mehr über seine Arbeit. Er ist mit dem SS-Arzt Sonntag und Sturmbannführer Koegel zusammengetroffen, wobei sich herausstellte, dass „die Anzahl der Infragekommenden“ für die Ermordung „um etwa 60-70 erweitert wird“. Sonntag hatte die Kriterien für „unnütze Esser“ offenbar zu eng ausgelegt und Mennecke muss das nun durch die Steigerung der Zahlen ausgleichen; das ärgert ihn, denn nun muss er bis Montag bleiben.
Dennoch ist Mennecke zufrieden, „die Arbeit flutscht nur so“ – nicht zuletzt, weil er nicht viel zu tun hat. Sonntag holt die „Pat.“ und er braucht bloß noch Kästchen auf den Bögen auszufüllen, „weil ja die Köpfe jeweils schon getippt sind und ich nur die Diagnose, Hauptsymptome etc. einschreibe“. Und zu seiner Genugtuung ist nach seinem Anruf bei Dr. Heyde in Berlin Schmalenbach abgezogen worden und wird auch nicht wiederkommen.
Nach dem Mittagessen gab es einen angenehmen Spaziergang mit Koegel und Sonntag – „die Viehställe wurden besichtigt“ – und später aß er mit Koegel im Casino zu Abend. Vor dem Schlafengehen schreibt er: „Nun will ich einen kleinen Spaziergang machen, aber diesen Brief gleich einwerfen, dann geht er noch mit fort heute abend. … Hoffentlich geht’s Dir genausogut wie mir; ich fühle mich tadellos! Nimm herzliebste Herrchen-Küßli’s, mein teuerstes Gutes u. umarme lieb Deinen treuen Fritz-Pa.“
Menneckes langatmige Briefe sind ein Mischmasch aus immer vulgäreren Details seiner Mahlzeiten, Trinkgelage, Gutscheine, Reisearrangements, Hotelzimmer und Schwarzmarktgeschäfte und den Berichten, wie er Frauen auf Todeslisten setzt. Der Grund für diese laufenden Kommentare liegt vielleicht in dem Gefühl, eine historische Mission zu haben. Manche |144|Briefe enthalten Phrasen wie „Wer schreibt, der bleibt“. Ganz sicher zeigen sie, dass es ihm gelang, die Lagerrealität auszublenden; nach zwei Jahren des Ankreuzens zur Autorisierung des „Gnadentods“ war Mennecke so gewöhnt an seine eigene Grausamkeit, dass er die „Pat.“ nicht einmal mehr wahrnahm.
Manchmal nannte er sie „Portionen“. Jedenfalls bezeichnet er sie nie als Frauen. Wir wissen, dass er Frauen beleidigen konnte; in einem Brief nennt er seine Schwägerin eine Bolschewistin, weil sie trinke und Affären habe, aber die „Pat.“ rufen keine solche Reaktion hervor und, wenn er ihre Daten eingetragen hat, werden sie zu bloßen „Bögen“, die er pünktlich nach Berlin schickt. Auch Eva zeigt kein Interesse an den „Pat.“, in ihren Antworten an „Fritz-Pa“ fragt sie: „Wie weit ist Deine Arbeit dort gediehen, wann wirst Du fertig?“ und schwatzt von ihren eigenen Mahlzeiten und den Mäusen in der Wohnung.20
Obwohl Mennecke die „Pat.“ kaum wahrnahm, beobachteten diese ihn sorgfältig. Am Abend seiner Ankunft wurde Emmy Handke im Revier angewiesen, die Akten aller Patientinnen zu holen. „Auf Anweisung mußten die Personalbögen … von allen Jüdinnen, von einem Teil der Berufsverbrecher, von sogenannten unheilbar Kranken (z.B. TBC-Kranken), Luetiker, Arbeitsunfähige usw. herausgesucht werden.“21 In den nächsten Tagen wurden diese Frauen gruppenweise zum Badehaus gebracht, wo Dr. Mennecke mit einem Stift in der Hand an einem Tisch voller Formulare saß, während Dr. Sonntag danebenstand.
Jede Frau musste sich ausziehen und nackt an ihm vorbeidefilieren. Emmy erfuhr später, dass er einige von ihnen befragt hatte, etwa „Sind Sie mit einem Arier verheiratet, sind Kinder aus dieser Mischehe vorhanden … usw.“ Maria Adamska, eine andere Schreibstubensekretärin, hörte, dass die Frauen etwa zwei Meter vor der Kommission nackt vorbeidefilieren mussten. Es gab keine echte ärztliche Untersuchung.
Laut Emmy gehörten die Frauen mit Syphilis und die Prostituierten zur ersten Gruppe, andere sagten, zuerst seien die Frauen mit Erbkrankheiten und die unheilbar kranken Jüdinnen gekommen. Alle stimmten aber überein, dass die Frauen auf Sonntags Listen als Erste aufgerufen wurden.
Bald entstand neue Unruhe. Gefangenen fiel auf, dass die Namen der Aufgerufenen sich nicht länger auf die Namen von Sonntags Listen beschränkten. Gesunde Frauen aus den jüdischen Blocks mussten sich vor der Kommission zeigen, darunter Käthe Leichter und Olga Benario. Sonntag hatte an diesen Frauen nie Interesse gezeigt. Rosa Jochmann erfuhr von Käthe:
|145|Die Jüdinnen waren alle im Elferblock. … Sie mussten nackt von ihrem Block – es waren ungefähr 500 Meter – bis zur Ärztekommission gehen. Die haben nichts untersucht, gar nichts, die sind an ihnen vorbei. Und wie die Käthe Leichter – das hat sie mir dann erzählt – vorbeigekommen ist, hat er zu ihr gesagt: „Frau Doktor, was für ein Doktorat haben Sie denn?“ Da war sie auf einmal eine Frau Doktor. Hat sie gesagt: „Philosophie und Staatswissenschaft.“ – „Das werden Sie dort sehr gut brauchen können.“22
Als Nächstes kamen die Zeuginnen Jehovas dran. Manche wurden von der Prügelstrafe auf dem Bock direkt ins Badehaus gebracht. Die Kommission begann auch Frauen mit Verdacht auf Lungenkrankheit aus dem Lagerkrankenhaus zu untersuchen; die Ärzte aus Berlin sagten ihnen, sie kämen zur Behandlung weg. Zum Schrecken der kommunistischen Gruppe mussten auch Lotte Henschel, Tilde Klose und Lina Bertram vor der Kommission aufmarschieren – dieselben drei Genossinnen, denen man wegen ihrer Tbc die Entlassung versprochen hatte. Alle Kranken schienen in Gefahr zu sein, selektiert zu werden.
Clara Rupp, die damals im nahe gelegenen Revier arbeitete, hatte solche Angst, dass sie nicht schlafen konnte. „Um nun möglichst viele Leute aus dem überfüllten Lager wegzubringen, vermehrte man die Anzahl der Kranken mit allen Mitteln. … Wir begriffen sofort, dass das Hinterlist war und warnten die Kameraden vor dem Revier.“23
Auch einige der SS-Schwestern schienen es zu begreifen. Eine sagte zu Clara: „Nun, wenn die Transporte einmal in Schwung kommen, ist das Lager bald leer.“
Die „Asozialen“ witterten einen neuen Schrecken. Frauen mit schwarzen Dreiecken wurden nicht mehr wegen Syphilis oder Gonorrhö registriert; die Selektionen wurden als Mittel willkürlicher Bestrafung benutzt. Wer sich beispielsweise zur Ausführung der Prügelstrafe bereit erklärt hatte, wurde von der Selektion ausgenommen, aber Else Krug, die Düsseldorfer Prostituierte, die Koegels Befehl zum Prügeln der Zeuginnen Jehovas verweigert hatte, wurde jetzt aufgerufen. Als sie nackt vor Friedrich Mennecke vorbeiging, muss ihr Koegels Warnung in den Ohren geklungen haben: „Sie werden noch an mich denken.“
Mennecke erfuhr zuerst von den erweiterten Selektionskriterien, als zu seinem Ärger sein T4-Kollege Schmalenbach wieder auftauchte. Überdies brachte der noch einen weiteren Kollegen mit, einen Dr. Meyer. Ihre Anwesenheit wurde durch die neuen Anweisungen erklärt, die sie mitbrachten: die Zahl der zu selektierenden Gefangenen lag jetzt bei 2000 – mehr als sechsmal so viel wie Menneckes ursprüngliches Ziel von 320. Sogar Mennecke war von der neuen Quote verblüfft und schrieb an Eva: „Dann |146|werden wir allerdings doch noch weit mehr machen, als bisher vorgesehen.“24
Seine Überraschung ist vielsagend; nach zwei Jahren als loyales Rädchen im T4-Getriebe merkte sogar Mennecke, dass man ihn hinters Licht führte. Während der Euthanasievergasungen hatte er pflichtbewusst seine Diagnosen „unwerten Lebens“ nach den vorgegebenen Kriterien abgegeben, aber diese Kriterien hatten sich verändert. Man hatte ihn nicht nur zur Selektion von KZ-Häftlingen statt von Behinderten in Heilanstalten abgestellt. Auch die Richtlinien, welche Gefangenen auszusondern waren, wurden alle paar Tage erweitert.
Seit seiner Ankunft waren die Zahlen, die Mennecke erreichen sollte, zunächst von 259 auf 328 gestiegen – höchstwahrscheinlich auf Himmlers direkten Befehl. Da er annahm, Mennecke sei inzwischen – wie die Einsatzgruppen in der UdSSR – an seine „grausame Tätigkeit herangeführt“, setzte Himmler die Zahl dann auf 2000 hinauf.
Da sich damals 6544 Gefangene im Lager befanden, bedeutete das neue Ziel, fast ein Drittel aller Frauen in Ravensbrück zum „Gnadentod“ zu verurteilen. Mennecke erkannte, dass seine Diagnosen Zeitverschwendung waren und die Zahlen in Berlin festgesetzt wurden, und das ärgerte ihn. Berlin sei es egal, wie die „Bögen“ ausgesucht wurden, beklagte er sich bei Eva, das sei die „berühmte Berliner Organisation“.
Trotzdem legte er sich ins Zeug. Mennecke, Schmalenbach und Meyer setzten die Arbeit energisch fort und konkurrierten darum, wer die meisten „Bögen“ ausfüllte. Mennecke schrieb Eva, die beiden anderen hätten „bis 11 h zusammen nur 22“, er aber am Vortag allein 56 Bögen geschafft. Zumindest sparten sie Zeit, indem sie jüdische „Pat.“ einfach durchwinkten. Auch hier gab es neue Anweisungen. Nicht nur die Zahl war gesteigert worden, die drei Ärzte erhielten auch den Befehl aus Berlin, sich nicht mit der Untersuchung der jüdischen Gefangenen aufzuhalten, wie Mennecke nach dem Krieg bei seinem Prozess bestätigte.25
Beim Nürnberger Ärzteprozess 1947, wo er als Zeuge auftrat, äußerte sich Mennecke fast so offen wie in den Briefen an seine Frau. Er führte etwa aus, wie er im November 1941 plötzlich angewiesen worden sei, Gefangene nach „politischen und rassischen Erwägungen“, nicht nur nach „gesundheitlichen Gesichtspunkten“ für die Euthanasie zu selektieren. Von diesem Augenblick an wurden Juden nicht mehr untersucht, sondern nur wegen ihrer Herkunft auf die Selektionsliste gesetzt. Ein Gericht in Frankfurt am Main verurteilte Mennecke zum Tode, aber er starb in seiner Zelle. Zwei Tage zuvor hatte ihn seine Frau besucht und man nimmt allgemein an, dass sie ihrem „Fritz-Pa“ das Mittel zur Selbsttötung gab.
Am Tag vor seiner Abreise nach Buchenwald aß Mennecke mit Dr. Sonntag zu Mittag. Er schrieb noch am selben Abend an Eva, sie hätten Rindfleisch, |147|Wirsing und Kartoffeln in der Kantine gegessen. Nach der Arbeit wurde ihm Sonntags Frau Gerda vorgestellt und in Fürstenberg gab es noch zwei Stück Kuchen und Kaffee im Café am Markt, bevor er schlafen ging. Er erinnerte Eva daran, dass er am nächsten Tag abreise, und sagte, nun müsse das Lagerpersonal selbst die noch fehlenden 1500 „Pat.“ finden. Er habe die Aufgabe nicht beenden können, nicht zuletzt, weil Berlin Schmalenbach und Meyer noch vor dem Abschluss wieder abgezogen habe.26
Die von Mennecke unterzeichneten Fragebögen waren mit seinen Anmerkungen bereits nach Berlin geschickt worden, jeweils mit einem Foto der Gefangenen und auf dessen Rückseite gekritzelten Bemerkungen, als sollte ihn das erinnern, wer sei waren. Eine Handvoll dieser Fotos sind erhalten und die Bemerkungen legen nahe, dass er im Gegensatz zum Tenor seiner Briefe manchmal Interesse für die „Pat.“ zeigte. Auf ein Foto schrieb er: „Ottilie Sara S., geb. 6.12.1879, led., Kontoristin, tschech. Jüdin, marxistische Funktionärin, üble Deutschen-Hasserin, Beziehungen zur englischen Botschaft“, auf ein anderes „Charlotte Sara C., geb. 4.10.1893 in Breslau, gesch. Ehefrau, Jüdin, Krankenschwester, fortgesetzte Rassenschande. Tarnte ihre jüdische Abstammung durch den Katholizismus, hängte sich ein Christenkreuz um den Hals“.27
Nachdem die Ärztekommission Ravensbrück verlassen hatte, mussten sich die Gefangenen vor anderen Dingen fürchten. Im November 1941 wurden drei weitere Polinnen erschossen, eine Mutter und ihre beiden Töchter, und Anfang Dezember wurden noch einmal vier Polinnen hingerichtet. Die Schüsse waren im ganzen Lager zu hören und bald darauf kamen die blutgetränkten Kleider in die Effektenkammer.
Jede Frau im Lager fragte sich, ob sie den Winter überleben werde. Die Mitglieder der Arbeitskolonnen hatten von Erfrierungen schwarz geschwollene Glieder. In einem Brief an Carlos schrieb Olga: „jetzt wünsche ich mir nur, dass ich mit der nötigen Willenskraft und körperlichen Abhärtung in der Lage bin, dem sich nahenden Winter besser begegnen zu können. Die Frage ist nur, ob es der letzte ist.“28
Die Nachrichten von der Front legten nahe, dass der Krieg immer weiterging, was alle mit Verzweiflung erfüllte. Im Osten hielt die Rote Armee die Linie Rostow – Moskau – Stalingrad und die deutsche Kriegserklärung an die USA vom 11. Dezember folgte dem japanischen Überfall auf Pearl Harbor.
Die Frauen im jüdischen Block hatten allen Grund, den längeren Krieg zu fürchten. Im Oktober 1941 hatte Hitler die Deportation aller deutschen Juden befohlen; Züge fuhren aus den Großstädten nach Osten. Briefe an jüdische Gefangene erwähnten, dass ganze Familien verschwunden waren. |148|Und mit den Nachrichten von den Deportationen kam die Ankündigung, dass keine Juden mehr aus Deutschland emigrieren durften, ob mit oder ohne Unterstützung von außen. Für Olga war damit die Entlassung nach Mexiko oder in ein anderes Land illusorisch geworden.
Und doch, bei aller Verzweiflung, ließen der Anblick deutscher Offiziere, die verwundet von der Front kamen, und die besorgten Gesichter der SS-Kameraden, die sie ablösen sollten, erahnen, dass der Wind sich zumindest im Osten gedreht haben könnte. Olga arbeitete immer noch an ihrem Miniatlas. Ihre neuesten Karten zeigten, wie Stalin die Deutschen bei Rostow und Leningrad zurückdrängte. Auf einer Seite war ein ausgeschnittenes Zeitungsdiagramm mit den letzten Positionen um Moskau herum, auf der Rückseite die Todesanzeige für einen deutschen Soldaten vom 10. Dezember 1941.
Olgas Briefe an Carlos aus dieser Zeit sind keineswegs pessimistisch:
Oft muss ich auch lachen, wenn ich daran denke, wie sehr Dich die Frau überraschen wird, die Du zurückbekommst … Doch ganz besonders habe ich hier gelernt, den wahren Wert alles Menschlichen zu erkennen, das Wachstum und die Energie, zu denen die menschliche Seele fähig ist. Eine Höhe, die auch wir selbst nur schwer erreichen. Mein Lieber, ganz besonders haben mich Deine Zeilen über Anita berührt. Hast Du ein neues Bild von ihr? Schon bald wird sie uns auch selbst schreiben können.
Im selben Brief aber räumt Olga ein, dass die Anstrengung, an eine bessere Zukunft zu glauben, sie jetzt oft überfordert; sie sei dabei, „Luftschlösser über unsere gemeinsame Zukunft zu bauen“.29
Im Dezember gab es immer noch keine Nachricht über das Schicksal der von Mennecke selektierten Frauen und die zusätzlichen 1500 Gefangenen für seine Listen waren noch nicht ausgewählt. Ein Grund für dieses Zögern war vielleicht die Abreise von Dr. Sonntag, der an die Front nach Leningrad versetzt wurde. An seine Stelle trat die junge Ärztin Herta Oberheuser, die vermutlich als zu jung für eine so wichtige Rolle wie die Selektion für die Ermordung galt. Doch der Aufschub währte nicht lange.
Etwa eine Woche vor Weihnachten wurde die Fassade, dass ein Lagerarzt für die Selektionen nötig wäre, aufgegeben und Max Koegel aufgefordert, die Listen selbst zu erstellen. Seine Methode war das Delegieren: Er gab den Befehl an die Blockältesten weiter.
Koegel ließ zum ersten Mal alle Blockovas zusammenrufen, um sie direkt anzuweisen. Rosa Jochmann nannte den Vorgang einen „Appell der Blockältesten“. Gewiss war es ein ungewöhnliches, vielleicht einzigartiges Ereignis und es erzeugte große Besorgnis, die rasch in Unglaube und Schrecken |149|umschlug, als die Frauen verstanden, was er von ihnen forderte: „der Lagerkommandant … erklärte, daß sie alle ‚Minderarbeitsfähigen‘ und alle Kranken angeben müssen, weil diese in ein Sanatorium kommen. Er wies mit dem Kopf auf den Bunker hin und sagte: ‚Wer einen ausläßt, kommt dorthin, und ihr wißt, was das bedeutet.‘“30
Vor dem Kommandanten standen etwa 20 Frauen, die privilegiertesten Gefangenen des Lagers, fast alle Begünstigte der Übernahme der Kapoposten durch die Politischen zu Beginn des Jahres. Sie standen vor einer unmöglichen Alternative. Koegel besaß bereits ihre Kooperation und war offenbar überzeugt, er könne sie mit ein wenig List dazu bringen, für die Gaskammern zu selektieren. Zeugin des Ganzen war Johanna Langefeld mit ihren zuverlässigen Lagerältesten Bertha Teege und Luise Mauer. Diese beiden hatten besondere Anweisungen: Sie sollten die Namen bei den Blockovas einsammeln und an Langefeld weitergeben, die wiederum von Koegel zur Leiterin des Ganzen erklärt wurde.31
Wie genau die Blockältesten reagierten, werden wir nie wissen; die Überlebenden unter ihnen waren die einzigen Zeugen und gerade, weil sie dabei waren, sahen sie sich als Beteiligte genötigt, mit der Wahrheit zu jonglieren. Einige gaben zu, Namen eingereicht zu haben, andere wiesen die Unterstellung zurück und manche sagten zur Rechtfertigung, es sei besser gewesen, dass sie selektiert hätten als die SS.
Die katholische Autorin und Blockälteste der „Asozialen“ Nanda Herbermann sagte aus, sie habe zehn bis zwölf kranke „Asoziale“ ausgewählt, weil sie damals glaubte, sie würden wirklich in ein Sanatorium geschickt. Die Stubenälteste Rosemarie von Luenink sagte, sie und ihre Blockälteste hätten sich geweigert, irgendjemanden zu selektieren. Minna Rupp, die schwäbische Kommunistin und Blockälteste, die Grete Buber-Neumann bei der Ankunft verhört hatte, stritt ebenfalls ab, Gefangene übergeben zu haben.
Grete bestritt nicht, Namen ausgewählt zu haben – sie war damals Blockova der Zeuginnen Jehovas –, verwies aber auf Koegels Zusicherungen. Und sie vermied eine nähere Befragung, indem sie es im Protokoll zur späten Zeugenbefragung dabei beließ, erst im Sommer 1942 als Blockälteste eingesetzt worden zu sein. „Es war im Winter 1941/42 als an die Blockältesten von der SS die Anordnung erging, dass aus den einzelnen Blocks die von Geburt verkrüppelten Frauen, die Geisteskranken, die Bettnässerinnen, Asthma-Leidende usw. listenmäßig zu erfassen seien. … Im Lager wurde das Gerücht verbreitet, daß diese Menschen zu besserer Arbeit und damit zu besseren Verhältnissen kommen würden.“ Man fragt sich, warum sie, wenn sie keine düsteren Absichten ahnte, gemeinsam mit Milena so sehr darum kämpfte, Lotte Henschel von der ursprünglichen Selektionsliste zu bekommen.32
|150|Lotte Henschel war eine der drei Kommunistinnen, denen man im Frühherbst wegen ihrer Tbc-Erkrankung die Entlassung versprochen hatte, die aber danach von Walter Sonntag selektiert wurden. Lotte, die Grete zuerst im „Alex“, dem Berliner Gefängnis, begegnet war, hatte sich seitdem mit ihr und Milena angefreundet. Milena hatte sich Lottes im Revier angenommen, wo auch die junge Kommunistin arbeitete, und hier wurde Lotte krank. Da sie wusste, dass zu dieser Zeit Tbc-Kranke entlassen wurden, ersann Milena eine List, um Lotte aus dem Lager zu bringen, indem sie deren Auswurfprobe mit einer Tbc-belasteten vertauschte. Der Trick ging aber auf schreckliche Weise schief, als Sonntag auf die ersten Selektionslisten auch Tbc-Patienten setzte.
Mit Gretes Ermutigung versuchte Milena erfolglos, die Entscheidung über Lotte rückgängig zu machen. „Milena zerquälte sich in Selbstvorwürfen“, schrieb Grete später. „Sie ließ kurz hintereinander neue Sputumbefunde von Lotte anfertigen, die natürlich alle negativ waren. Sie machte den SS-Arzt Sonntag darauf aufmerksam und betonte, daß wunderbarerweise Lotte ausgeheilt sei.“ Der bald darauf nach Leningrad versetzte Sonntag willigte schließlich ein, sie zu streichen. „Nur ihrer Hartnäckigkeit und dem Umstand, daß der SS-Arzt Lotte durch ihre Arbeit im Krankenrevier kannte, war es zu verdanken, daß er sie nicht mit auf die Liste der Krankentransporte schrieb.“ Grete sagt allerdings nicht, wer stattdessen auf die Liste kam.33
Lotte Henschels Geschichte nahm später eine weitere Wendung. Nach Lottes eigenem Zeugnis war es wohl Sonntags Frau, die ihr wirklich das Leben rettete. Lotte hatte im Revier gearbeitet, als Gerda Weyand dort vor ihrer Heirat mit Walter Sonntag noch als Ärztin beschäftigt war. Damals galt Gerda als anständig und hatte sich freundlich gegenüber Lotte gezeigt.
Nach dem Krieg wurde Gerda wie ihr Ehemann wegen Kriegsverbrechen angeklagt, insbesondere wegen der Todestransporte, deren Kenntnis sie zu ihrer Verteidigung leugnete. Lotte sagte gegen Gerda aus, obwohl sie sie gerettet hatte. Dass Gerda geholfen habe, sie von der Selektionsliste zu streichen, beweise, dass sie die Wahrheit über die Transporte wusste, sagte Lotte. „Ebenso hätte sie Lina [Bertram] und Tilde [Klose] schützen können“ – die beiden anderen Tbc-kranken Kommunistinnen, die entlassen werden sollten. „Wenn sie ernstlich gegen diese Verbrechen gewesen wäre, hätte sie sich von dem Lager und ihrem Mann trennen müssen.“34
Lotte Henschels Fall ist nicht der einzige Hinweis, dass die Blockältesten wussten – oder guten Grund zu der Annahme hatten –, dass Selektion für die Listen den Tod bedeutete. Noch belastender ist das Zeugnis der Häftlingssekretärinnen, die für Sterbebücher und andere Papierarbeit verantwortlich waren. Die hochgebildete polnische Gräfin Maria Adamska wurde |151|von der Lagerleitung so geschätzt, dass sie den Posten der Sekretärin im politischen Büro erhielt, wo alle Todesfälle im Lager registriert wurden.
Bis Ende 1941 hatte das Lager kein eigenes Sterberegister gebraucht. Todesfälle wurden im winzigen Standesamt im Ort Ravensbrück festgehalten. Im Dezember wurde aber ein neues Standesamt, Ravensbrück II, geschaffen und direkt dem Lagerkommandanten unterstellt. Maria Adamska äußerte später, das Sterberegister sei genau zu dem Zeitpunkt eingerichtet worden, als der Befehl zur Erstellung neuer Listen der Kranken und Arbeitsunfähigen kam.
Eine andere Sekretärin, die Österreicherin Hermine Salvini, trug weitere Hinweise auf das Kommende bei. Hermine, die in der „Fürsorgeabteilung“ des Lagers arbeitete, war mit dem Briefwechsel der Gefangenen mit ihren Angehörigen befasst. Als die Listen zusammengestellt wurden, sollte sie Hunderte Formulare mit falschen Todesursachen schreiben. Was man von Hermine verlangt hatte, sagte sie Rosa Jochmann und den anderen Blockältesten: „Sie erzählte uns, man habe sie auf der Schreibstube 1500 Abschriften eines Formulars schreiben lassen, das so lautete: ‚Sie werden hiermit in Kenntnis gesetzt, dass … in Ravensbrück aufgrund einer Embolie gestorben ist.“35
Rosa gehörte zu denen, die später sagten, sie hätten von Anfang an gewusst, dass Koegel in Bezug auf das Sanatorium log, und sie besprach mit anderen, was zu tun sei. „Wir verstanden, dass die Lage sehr ernst war. Ich sprach darüber mit meinen politischen Freunden und wir beschlossen, niemanden auszuwählen.“ Obwohl sie nicht sagt, wer diese „politischen Freunde“ waren, ist es wahrscheinlich, dass Rosa es wie alles andere auch mit Käthe Leichter besprach. Schließlich war es ihre alte Freundin aus Wien, mit der sie so viele Kampagnen für Frauenrechte geführt hatte, die Rosa zuerst geraten hatte, den Posten als Blockälteste anzunehmen, da sie, sogar als Arm der SS, etwas helfen könnte. Als Käthe zwei Jahre später aufgefordert wurde, vor die Ärztekommission zu treten, muss ihr die Lage ganz anders vorgekommen sein. Rosa ging zu Langefeld und sagte ihr, sie werde nicht selektieren. „Langefeld sagte nichts. Sie schien es zu verstehen.“
Auch Bertha Teege und Luise Mauer behaupteten in ihren Aussagen nach dem Krieg, den Befehl verweigert zu haben, doch das Zeugnis der beiden Lagerältesten ist vielleicht das widersprüchlichste aus der ganzen Gruppe. In einem Bericht erklärt Luise, sie und Bertha „bekamen im Februar 1942 den Auftrag, alle arbeitsunfähigen Häftlinge zu registrieren“, was nahelegt, dass ihnen aufgetragen war, die von den Blockältsten vorgelegten Listen durch eigene Selektionen zu ergänzen. Luise erzählt weiter: „Wir gingen von Block zu Block und stellten fest, … daß alle Häftlinge ihrer zugeteilten Arbeit nachgingen.“36 In einer Zeugenbefragung sagt Luise hingegen, |152|sie und Bertha hätten Frau Langefeld gebeten, sie „von dieser Aufgabe zu entbinden. Daraufhin äußerte sich Frau Langefeld dahingehend, wir dürften diese Weigerung nicht laut werden lassen, da wir sonst mit Repressalien zu rechnen hätten.“37
Bertha Teege sagt nichts über die Listen, erwähnt aber an anderer Stelle, dass sie sich darauf freute, im Januar aus dem Lager entlassen zu werden, bei Gelegenheit eines erneuten Besuchs Himmlers. Teeges Vorgängerin als Lagerälteste war ein Jahr zuvor entlassen worden und sie hatte den Posten in der Erwartung angenommen, genau wie Babette Widmann entlassen zu werden. Die Listen wurden jedenfalls aufgesetzt, ob von den Kapos oder den Aufseherinnen oder wahrscheinlich von beiden, aber auch zu Weihnachten war von Mennecke noch nichts zu sehen.
Die Frauen erinnerten sich an Weihnachten 1941 wegen des beißenden Winds, der durchs Lager heulte, und des außergewöhnlich strengen Frosts, aber es fiel kein Schnee. Während der Heiligabendschicht in der Schneiderei erlaubte die Aufseherin jeder Nationalität ein Weihnachtslied und die Deutschen begannen mit „Stille Nacht“. Die Polinnen weigerten sich zunächst, mitzumachen, sangen dann aber doch, aber als sie zu den Worten „Heb die Hand Du Gotteskind“ kamen, versagte ihnen weinend die Stimme.38
Auf dem Weg zurück in den Block kam die Schicht an einem Weihnachtsbaum vorbei, den die Aufseherinnen auf der Lagerstraße aufgestellt hatten; er war sogar mit Kerzen geschmückt. Und in den SS-Häusern stellte Hanna Sturm Weihnachtsbäume für die SS-Offiziere und ihre Familien auf. In dieser Nacht machten die Gefangenen einander kleine Geschenke. Manche hatten Sterne und Krippen aus Stroh gemacht. Olgas Weihnachtsgeschenk für Maria Wiedmaier war ihr Miniaturatlas.