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Er bestand darauf, sein Zimmer zu verlassen, obwohl sie ihm heute Morgen bestimmt dreimal erklärt hatte, dass er noch nicht gesund sei und Ruhe brauche. Er hatte sie nur störrisch mit seinen silberhellen Augen angesehen, und entschlossen, ihre kleine Welt zu erforschen, war er trotzdem weitergehüpft.

Also hatte Ione schließlich nachgegeben und ihm eine Krücke besorgt, eine richtige Krücke und nicht den schweren afrikanischen Speer, den er benutzt hatte. Die Krücke war irgendetwas Griechisches. Der Schaft bestand aus kräftigem Eichenholz, und am Ende befand sich ein geschnitzter Elfenbeinkopf, der eine Hydra darstellte. Dem Schotten schien das nichts auszumachen.

»All diese Schätze«, meinte er und zeigte in einen der Räume, an dem sie gerade vorbeikamen. »Hast du sie dahin getan?«

»Ein paar«, erwiderte sie. Sie ging dicht hinter ihm durch den Korridor.

»Sie stammen von den Schiffen und wurden an Land gespült?«

»Ein paar«, sagte sie wieder.

»Aber nicht die Statuen.« Er drehte sich um und schaute sie finster an, als würde ihn die zu erwartende Antwort jetzt schon ärgern.

Sie hatte das grüne Tuch von gestern gegen ein Stück Stoff aus reinem, cremeweißem Leinen getauscht, das ganz schmal gefältelt war. Es wurde von zwei goldenen Broschen gehalten, die an vier goldenen Ketten hingen. Das Leinen ging bis zum oberen Rippenbogen, schmiegte sich eng an den Rest ihres Körpers und fiel dann bis zu ihren Füßen. Nach einem langen, überraschten Blick am Morgen hatte der Schotte seinen Blick seitdem nicht mehr tiefer als bis zu ihrem Kinn gleiten lassen.

»Nein, die Statuen nicht«, bestätigte Io, während sie sich an ihm vorbeibeugte, um in den Raum zu schauen. In diesem Zimmer lebten die Götter. Sie waren unregelmäßig im Raum verteilt und sahen einander, die Fenster oder die Wände an. Es gefiel ihr, sie zusammen aufzubewahren – die Griechen, Römer und Kelten, ein paar nordische Gottheiten und dann noch ein paar aus Persien und Ägypten. Sitzend oder stehend sahen sie einander in ewigem Schweigen aus leeren Steinaugen an. Am liebsten mochte sie die Statue von Circe, die einen mit einer Sandale beschuhten Fuß anmutig auf den Kopf eines Pfaus gesetzt hatte.

»Wie sind sie hierher gelangt?«, fragte Aedan. »Wer hat sie in dieses Zimmer geschafft?«

»Ich habe es getan. Ich und andere.«

»Du hast gesagt, es gäbe niemanden sonst auf der Insel.«

»Das stimmt. Nicht mehr.«

»Aber früher gab es andere?«

»Natürlich«, erwiderte sie leichthin, während sie zurücktrat und ihm so Platz machte, damit er sich umdrehen konnte. »Meine Eltern lebten früher hier und meine Großeltern und so fort.«

Er rührte sich nicht. »Deine Eltern?«

»Aye.«

Er schien darüber nachzudenken, während er immer noch in das Zimmer schaute. Nach einer ganzen Weile sprach er wieder. In seiner Stimme klangen keine Emotionen mit. »Ist irgendetwas von dem, was du erzählst, wahr, Ione?«

»Es ist alles wahr, Schotte.«

Fast wirkte es so, als würden die Götter sie aus ihren Winkeln anschauen, während dieses versteinerte Lächeln auf ihren Lippen lag. Sie kannte alle Namen, angefangen bei Jupiter, über Vesta bis hin zu Seth. Sie kannte jede einzelne in Marmor geritzte Ader, jede polierte Rundung, weil sie sie so lange und so eingehend studiert hatte. Sie waren die einzige Gesellschaft gewesen, die sie über einen längeren Zeitraum gehabt hatte, als sie rechnen konnte. Vielleicht waren es Jahre, die sie mit ihnen verbracht, in denen sie ihre harten Arme gestreichelt und ihnen Blumen auf ihre Sockel aus Jaspis und Malachit gelegt hatte. Im Laufe der Zeit hatte Ione begonnen, sie als die perfekte Verbindung des Alten und des Neuen zu betrachten: das Beste ihrer Art und der Sterblichen, Abbilder des Menschen, die doch keine waren, altertümliche Kräfte und bezaubernde Schönheit.

»Es ist kalt hier drin«, sagte Aedan plötzlich und zog sich zurück. »Ich will nach draußen gehen. Wie komme ich nach draußen?«

»Ich werde dich hinbringen«, erwiderte Io.

Doch er wartete nicht darauf, dass sie die Führung übernahm, sondern ging an ihr vorbei nach unten in den Saal.

Bis auf ein paar Wolken im Westen, die in der Ferne über dem Wasser dräuten, war das Unwetter der letzten Nacht abgezogen und hatte die Insel mit Strandgut übersät zurückgelassen. Feuchte Blätter machten die Stufen der Außentreppe glatt, und der Mann war gezwungen, sich auf sie zu stützen, als sie nach unten stiegen. Sie schlang einen Arm um seine Taille und spürte sein Gewicht. Sie spürte auch, wie er versuchte, sich gerade und so fern wie möglich von ihr zu halten. Die Perlen in seinen Zöpfen stießen sanft gegen ihre Wange und ahmten ihren langsamen Schritt nach.

Heute trug er einen Gürtel mit einer Scheide für das Schwert, das er bei sich hatte. Er hatte die Sachen selbst gefunden.

Am Fuße der Treppe befand sich ein kleiner Strand, dessen trocknender Sand bernsteinfarbene und goldene Streifen aufwies. Er ließ sie schnell los und schaute sich um, als Wind aufkam, sein Haar zerzauste und ihr Kleid hauchdünn an ihren Körper presste. Hinter ihnen, hinter dem Schloss war der smaragdgrüne Wald, der nach Regen und feuchter Erde roch.

»Letzte Nacht war ein Schiff da draußen«, sagte Aedan und deutete auf das in der Ferne liegende Riff.

»Ich weiß.«

»Hast du es gesehen? Gab es Überlebende?«

»Nein.«

»Nein«, wiederholte er grimmig. »Natürlich nicht.« Er hob eine Hand, um seine Augen gegen die Sonne abzuschirmen. »Wir werden trotzdem suchen. Wir müssen es versuchen. Vielleicht hat es ja doch jemand geschafft. Vielleicht …«

Sie unterbrach ihn. »Du musst akzeptieren, was ich sage. Keiner von diesem Schiff hat überlebt.«

Wortlos starrte er in die Brandung, dann nahm er seine Krücke und begann, den Strand hinunterzuhumpeln. Sie folgte ihm.

»Vielleicht solltest du dich vom Ufer fern halten. Im Moment zumindest. Vielleicht wäre es klüger, ins Schloss zurückzukehren.«

Er achtete nicht auf sie, sondern kämpfte sich weiter durch den Sand. Die Krücke versank bei jedem Schritt tief im Sand. Wütend riss er sie wieder heraus.

»Vielleicht gibt es … Dinge, dort draußen, die du eigentlich gar nicht sehen möchtest«, meinte Io.

Er blieb stehen, um sie endlich anzuschauen und ihr einen strengen, misstrauischen Blick zuzuwerfen, als wäre da plötzlich ein Feind an die Stelle getreten, wo vorher ein Freund gewesen war. Ione wich einen Schritt zurück. Sie spürte einen unerwarteten Stich von Schuld in ihrer Brust, und aus der Schuld trat etwas anderes, etwas Warmes, Bittersüßes hervor.

Sie wusste, dass er gut aussah. Wie das verblassende Licht der Sterne hatten sich auch seine Züge für immer in ihrer Erinnerung eingebrannt. Aber nun erkannte sie, dass das Licht im Schloss – und sogar das Licht des Meeres – ihm kaum gerecht geworden war. Hier draußen in der prallen Sonne war der Schotte einfach nur herrlich, sogar mit seiner neuen Narbe. Doch seine Miene blieb finster und besorgt.

»Wie hast du diese Statuen wirklich in das Zimmer bekommen?«

»Ich habe es dir bereits gesagt.«

»Aye, du hast es mir gesagt. Du warst es. Und andere.« Er lachte, es war ein schneidender Laut, und auch Wut schwang darin mit. »Du, Ione von Kell, willst also eine Statue aus massivem Stein, die größer ist als du – größer als ich – hochgehoben, diese Stufen hoch, ins Schloss, dann noch eine Treppe hoch in dieses Zimmer da getragen haben? Hast du Magie benutzt, Zauberin?«

»Nein. Das war nur ich.«

»Natürlich«, grollte er bissig. »Nur du.«

Sie streckte die Hand aus und schnappte sich seine Krücke. Sie hielt den dicken Stock vor sich, und ohne ihn aus den Augen zu lassen, legte sie ihre Hände nebeneinander um das Holz und brach es in zwei Stücke.

»Nur ich.« Sie warf die Stücke in den Sand und ging davon, ehe sie ihn noch mehr schockieren konnte.

Sie hatte nicht vorgehabt, sich so aufzuregen. Sie hatte sie beide zusammenbringen und nicht auseinander treiben wollen – aber er war ja so schwierig! Sie war an die schweigende Dankbarkeit von Männern gewöhnt und nicht an diesen brütenden, mürrischen Zorn, der jedes Mal auszubrechen drohte, wenn sie sich näherte. Sie mochte ihn lieber, wenn er schlief. Sie mochte ihn viel, viel lieber nachts, wenn er nicht sprach oder sich zurückzog.

Zum Teufel mit ihm. Sie würde ihn seinem Elend und seinen Zweifeln überlassen. Sie hatte heute anderes zu erledigen, als sich mit einem undankbaren Mann herumzuschlagen.

Aedan sah ihr hinterher, als sie ging. Ihr rotes Haar schwang hin und her, und das durchscheinende Stück Stoff verhüllte kaum ihre Schenkel, wenn sie einen Schritt tat. Sie umrundete ein Wäldchen und kehrte nicht zurück.

Er ließ sich in den Sand sinken und griff nach der zerbrochenen Krücke, um die beiden frischen Bruchstellen zu untersuchen. Das Holz war weder weich noch morsch. Das Holz gab kaum nach, als er mit dem Daumen dagegendrückte. Er hielt eins der Stücke so, wie sie es getan hatte, und setzte seine ganze Kraft ein. Es gab nicht nach.

Und doch hatte sie das Holz mit der gleichen Leichtigkeit zerbrochen, wie es ein Kind vielleicht mit einem Hühnerknochen tun würde oder ein Riese mit dem Arm eines Feindes.

Er kannte keine Riesen. Er kannte niemanden, der so etwas konnte, was Ione gerade getan hatte – einen Stock aus schwerem Eichenholz, ohne zu zögern oder nachzudenken, einfach durchzubrechen.

In den Gemächern des Königs stank es nach Tod. Die Dunkelheit, die herrschte, war erdrückend, die Fensterläden waren geschlossen. Weder den gefährlichen Strahlen der Sonne noch dem Wind wurde Einlass gewährt. Die Gestalt unter den Decken im königlichen Bett war ausgemergelt und verlor sich fast unter dem bunten Quilt und den schweren Pelzen. Eine am anderen Ende des Gemaches brennende Fackel beleuchtete die Knochen seines Gesichts und die ausgezehrten Rundungen seiner Schultern. In seinen besten Jahren war er ein großer Mann gewesen, ein mächtiger Mann, der im Verlaufe seiner letzten Tage seine Herrschaft sogar vom Bett aus aufrechterhalten hatte. Sogar jetzt, wo die Krankheit an ihm zehrte, sein blondes Haar weiß werden ließ und seinen Bart grau, liebte und respektierte man ihn. Sein Volk kannte ihn als einen Mann, der wie ein Vater für sie alle gewesen war. Ein Mann, der sie geführt und beschützt, der jahrzehntelang mit den silberscharfen Augen eines Wolfes über sie gewacht hatte.

Aber diese Augen hatten sich nun geschlossen und würden sich auch nie wieder öffnen. Der König tat noch nicht einmal einen letzten Seufzer, als er von seinem bewegten Leben Abschied nahm. Erst das verzweifelte Schluchzen seiner Tochter rief die Ärzte ans Bett zurück, wo sie fast gewaltsam ihre Finger von seinen befreien mussten, während die Priester Gebete anstimmten und Segnungen sprachen.

»Der König ist tot«, verkündete der Älteste der Ratgeber des Königs mit ernster, förmlicher Stimme. »Es lebe die Königin!«

Alle Blicke richteten sich auf die junge Frau, die immer noch neben ihrem Vater kniete. Ihr Kopf ruhte neben seinem auf dem Kissen, und ihr leises Schluchzen erfüllte den Raum.

»Es lebe die Königin«, nahmen die anderen den Ruf leise auf, aber die neue Königin hörte nicht auf zu weinen.

Das erste Signalfeuer errichtete Aedan am Nachmittag.

Er suchte nach einem Platz, wo vielleicht schon einmal eins gebrannt hatte – bestimmt hatte doch irgendjemand in all diesen Jahren schon einmal das Gleiche getan – aber er fand nur unberührten Strand und knorrige Bäume. Nirgends ein Hinweis auf eine Feuerstelle. Keine Asche, keine Holzkohle.

Also grub er eine eigene Feuerstelle, für die er am Anfang seine Hände benutzte und später dann die Reste eines Ruders, das er an einer Stelle in einer Höhle gefunden hatte, wo die Brandung Kieselsteine und Geröll aufgetürmt hatte. Mit dem Ruder ging die Arbeit leichter vonstatten, aber als er endlich mit dem Ergebnis zufrieden war, brannte sein Rücken, und an den Händen war die Haut aufgeplatzt. Wenn er eine Pause machte, setzte er sich ans Ufer und hielt seine schmerzenden Hände ins Salzwasser.

Ione tauchte nicht wieder auf.

Er brachte ein einigermaßen anständiges Feuer zustande. Überall lag Treibholz herum, und im Aushub seiner Feuerstelle entdeckte er etwas wahrhaft Segensreiches: eine sehr scharfe, glatte Scherbe aus dickem Glas. In der prallen Sonne erwies sie sich als hervorragendes Brennglas. Erst kokelte das Holz nur schwach, dann kam Rauch und immer mehr Rauch, bis schließlich die erste Flamme hochzüngelte.

Mit Sand und Schweiß bedeckt setzte er sich zurück. Sein Feuer schlug hohe, schöne Flammen, eine flackernde Hoffnung im Angesicht der weiten blauen See. Wenn ein Schiff vorbeifuhr … Aye, wenn das Glück mit ihm war und irgendjemand in diese Richtung schaute …

Nur der Himmel wusste, was sie wohl denken würden. Vielleicht meinten sie, dass die Geister von Kell sich erhoben, dass die Meerjungfrauen im Feuerschein tanzten, dass, bitte, Schicksal, hab ein Erbarmen, dass dort Menschen waren, Gestrandete, die wieder nach Hause mussten, ehe es zu spät war.

Eine neugierige Möwe schwebte herab, geriet in den aufsteigenden Rauch und flog kreischend wieder davon.

Zwei Krebse rangen links auf einem Felsbrocken miteinander, wobei sie mit ihren fetten Scheren winkten. Aedan richtete sich auf und beobachtete ihren langsamen, bedrohlichen Tanz. Dann stand er auf und verfolgte ihren Abstieg auf der anderen Seite.

Noch ein Segen: Es sah so aus, als besäße Kell Gezeitenseen, und zwar eine ganze Menge. Sein Abendessen war gesichert.

Er war nicht ganz unerfahren als Koch. Lange Feldzüge, die ihn von Kelmere wegführten, hatten dafür gesorgt, dass er sich die Grundlagen aneignete, die man brauchte, um zu überleben. Er wusste, dass die braunen Miesmuscheln essbar waren, die roten jedoch nicht; dass der blaue Krebs schneller war als sein grüner Vetter; dass er sogar Fische hätte fangen können, wenn er nur ein Netz gehabt hätte, sei es auch noch so klein. Doch er hatte kein Netz, und seine Tunika benutzte er schon, um darin die Miesmuscheln und die Krebse zu transportieren.

Er kroch zwischen den mit Meerwasser gefüllten Senken herum. Sein Bein behinderte ihn dabei, die Sonne brannte auf ihn herab, und die Seeschwalben zogen kreischend ihre Runden. Aber Aedan würde zu essen haben.

Dass er auf den Inseln aufgewachsen war, hatte ihn auf so eine Situation gut vorbereitet. Er kannte das zähe, glitschige Seegras, das an den Felsen hing. Es würde dem, was er kochte, zusätzlichen Geschmack verleihen, also stopfte er sich auch ein bisschen davon in die Tunika. Mit Hilfe eines krummen Stocks, den er unter dem Treibholz gefunden hatte, schleppte er sich zurück. Dabei verlor er nur einen Krebs, der aus seiner Tunika hüpfte und eilig davonkrabbelte.

Er überließ seine behelfsmäßige Krücke dem Meer, wo sie von der Brandung herumgewirbelt wurde.

Die Schlossküche war hell, spartanisch eingerichtet und so sauber, dass es fast schon unheimlich war. Er kannte natürlich die Küche auf Kelmere. Als Kind hatte er Küchlein von den heißen Blechen stibitzt, und als junger Bursche hatte er dem König sein Essen gebracht. Er kannte rußige Herde, geschäftige Frauen, das volle Aroma von Gewürzen, das in der Luft hing. Aber hier waren die Kochstellen bis zum hellen Stein blank geputzt, und in der Luft lag nur der Geruch des Meeres. Es war offensichtlich, dass dieser Raum schon sehr lange Zeit nicht mehr benutzt worden war.

Doch über der Feuerstelle hing ein Kochkessel. Er war sauber wie alles andere und wies noch nicht einmal einen Hauch von Rost auf. Noch ein Widerspruch hier in Iones Schloss.

Gott sei Dank gab es gleich neben der Tür eine Zisterne für Regenwasser. Die Vorstellung, nach einem Brunnen suchen zu müssen, hatte ihm überhaupt nicht behagt.

Er schüttete den Inhalt seiner Tunika in den Kessel, goss Wasser aus der Zisterne dazu und stellte dann fest, dass es kein Holz gab.

Aedan begab sich wieder nach draußen.

Das regennasse Treibholz brannte nur langsam, und die durch das Salz knisternden Flammen leuchteten in unterschiedlichen Farben von Hellrosa über Grün bis hin zu Gold. Dichte Rauchwolken stiegen auf und breiteten sich aus, sodass er kaum noch etwas sehen konnte. Aber er blieb, wo er war, und passte auf das Feuer und den Eintopf auf, den er mit einem dünnen Birkenast langsam rührte.

Und Ione war immer noch nicht aufgetaucht.

Er aß aus einer Schüssel aus gebranntem Ton, die er zusammen mit einem Stapel weiterer Schüsseln in einem Schrank gefunden hatte. Die Hälfte von dem, was er gekocht hatte, ließ er übrig. Das Feuer war zu rotglühender Glut heruntergebrannt. Draußen begann es zu dämmern. Er nahm einen Stock und ging hinaus, um den Sonnenuntergang, seinen zweiten, den er auf dieser Insel erlebte, zu beobachten.

Immer noch nichts von Ione zu sehen.

Er kümmerte sich um sein Signalfeuer, legte mehr Holz auf, damit das Feuer die ganze Nacht anhielt, und ließ seinen Blick suchend über das Meer schweifen. Kein einziger Lichtpunkt erwiderte sein Feuer. Wenn da draußen Schiffe waren, blieben sie so dunkel wie das sich herabsenkende Zwielicht.

Er stand allein im Licht.

Wo war sie?

Schließlich gab er das Warten auf. Aedan aß den Rest vom Eintopf, wusch den Kessel aus und warf das Seegras und die Muschelschalen über die Küchentreppe nach draußen. Er ging durch verschlungene Gänge, bis er wieder in den großen Saal gelangte. Von dort aus nahm er die Haupttreppe, die er sich mühsam hochzog. Nach jedem Schritt ruhte er sich aus und bemühte sich, den Schmerz in den Griff zu bekommen. Das helle Licht des Mondes, das an mehreren Stellen in die Festung drang, verbreitete einen leicht frostigen Schimmer und half ihm, seinen Weg zu finden. Auf der Schwelle zu seinem Zimmer blieb Aedan wieder stehen und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Den Rest des Wegs bis zum reich verzierten Holzbett legte er in einem Zug zurück. Zusammengerollt schlief Ione auf ihrer Seite unter den Decken. Einen Arm hatte sie unter den Kopf geschoben, und ihr außergewöhnliches Haar bildete das Kissen.

Er blickte auf sie hinab und spürte, wie in seinem Innern etwas zu zerbrechen begann. Sie bildete einen so lieblichen Anblick mit ihrem ganz und gar ruhigen und reinen Antlitz. Es war vollkommen – keine Frau war wahrhaft vollkommen. Er lebte bereits lang genug, um das erkannt zu haben. Doch auf irgendeine wundersame Weise war diese Frau vollkommen. Diese Frau, die, soweit er das sehen konnte, allein lebte, ohne Feinde oder Freunde. Er war auf der Suche nach ihr so weit gegangen, und jetzt konnte er sie nur beim Schlafen betrachten. Seine Lippen brachten keinen Ton hervor. Alles in ihm, woran er als Mann glaubte, hatte vor diesem Augenblick zurückgescheut. Aber das, an was er glaubte, hatte sich gedreht und gewendet, bis er sich hier in diesem Zimmer wiederfand und den Mythen seiner Kindheit, einfachen Märchen, gegenüberstand.

Sie hatte ihm dort unten, tief im Meer, das Leben gerettet. Dafür gab es nur eine denkbare Erklärung.

Das verzierte Silbermedaillon war an seiner Kette in die Höhlung ihrer Schulter gerutscht. Es schimmerte genauso hell wie der Mond, der draußen am Himmel hing.

Ione öffnete die Augen. Sie zeigte weder Bestürzung noch Erstaunen, als sie ihn an ihrem Bett stehend entdeckte. Ohne etwas zu sagen setzte sie sich auf und schob die Decken zur Seite. Das Medaillon schwang zurück über ihr Herz. Sie war nackt.

»Komm«, lud sie ihn ein, als er sich nicht rührte. »Ich habe dir vergeben.«

»Ich habe dich gesehen, als ich im Wasser war«, stieß er hervor, ohne sich von der Stelle zu rühren. »Zwischen uns waren Schwaden von Blut und über uns war die Meeresoberfläche.«

Sie strich ihr Haar zurück und hörte nur zu. Sie wartete.

»Über uns«, wiederholte Aedan sich, um diese Tatsache zu betonen. »Wir waren zusammen unter den Wellen, unter dem Unwetter.«

»Da war es sicherer.«

»Ich sah … Ich sah …« Er lachte über seine eigenen Worte und konnte noch nicht einmal den Satz beenden.

Voll natürlicher Anmut stieg sie aus dem Bett. Wegen ihrer Nacktheit machte sie sich genauso wenig Gedanken wie die Kinder, die zu Hause in den Flüssen planschten, oder die Druiden, die ihre heidnischen Riten begingen. Er nahm die Hand, die sie ihm reichte, und blickte darauf hinab. Weiche Formen, verborgene Kraft. Haut so hell wie Nebel neben seiner von der Sonne verbrannten Haut.

»Ich habe dir Essen gebracht«, sagte sie. »Brot«, fügte sie hinzu, als er immer noch nichts sagte. »Pökelfleisch. Das meiste davon war noch gut.«

Er ließ ihre Hand nicht los. »Woher hast du die Sachen?«

»Von dem Schiff aus der letzten Nacht.«

»Wie hast du alles geholt?«

»Ich bin hinausgeschwommen.«

»Zum Riff.«

»Aye.«

Da ging ihm auf, dass er ihr die falschen Fragen gestellt hatte – völlig falsche Fragen, denn es gab nur eine einzige, die wirklich eine Rolle spielte. Das wusste er jetzt.

Ihre Augen wiesen ein so dunkles Blau auf, dass es schon schwarz wirkte und es ohne Schwierigkeiten mit der Nacht hätte aufnehmen können. Was er in diesen strahlenden Seen erblickte, ließ seinen Mund trocken werden, sodass seine Stimme, als er wieder etwas sagte, schmerzerfüllt und rau klang.

»Ione – was bist du eigentlich?«

Erst überrascht, dann verwirrt schaute sie zu ihm auf. Ihre Finger schlossen sich um seine.

»Aber ich dachte, das wüsstest du. Ich bin die Sirene von Kell.«

Zeiten der Leidenschaft

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