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ОглавлениеDas Inselkönigreich
512 n. Chr.
Heute Nacht war die See unruhig, und das Knacken und Knirschen des Schiffes hielt Aedan wach, lange nachdem seine Eltern und seine Schwester schon ins Land der Träume entschwunden waren. In fast völliger Dunkelheit lag er da und beobachtete schläfrig das letzte Aufflackern der Lampen, die von der Decke herunterhingen.
Das Schiff hob und senkte sich, und Aedans Magen folgte den Bewegungen.
Die königlichen Quartiere waren schön, doch sehr beengt, und es roch nach muffigen Pelzen, Binsen und dem Meer. Der Geruch des Meeres war allgegenwärtig. Wenn er die Augen schlösse, könnte er es sich vorstellen, wie es den Schiffsrumpf umschloss: schwarz und aufgewühlt, im Mondlicht glänzend und mit silbrigen Spitzen, die die endlosen Wellen umkränzten.
Doch er würde die Augen nicht schließen. Das verstärkte nur das Problem mit seinem Magen. Er würde dagegen ankämpfen. Er würde nicht klein beigeben. So hielten es die Könige. Zwar war er noch nicht König, aber eines Tages …
Das Schiff wurde nach oben geschleudert und hing einen unendlich langen Moment bewegungslos in der Luft. Aedan drückte den Kopf ins Kissen und umklammerte den Rand seiner Decke, während er krampfhaft schluckte und sein Herz wie wild hämmerte. Mit einem gewaltigen Krachen stürzte das Schiff ins nächste Wellental, sodass der ganze Rumpf erbebte.
Er setzte sich auf und atmete durch den Mund. Die Lampe schwang mit Übelkeit erregender Fröhlichkeit hin und her und hin und her … Jetzt konnte er es auch noch riechen – heißes Metall und den schmierigen, süßlichen Gestank des Öls.
Er kämpfte sich aus seiner Koje heraus, taumelte auf die Tür zu und griff nach dem Riegel.
In diesem Moment hörte er eine leise Stimme direkt hinter sich. »Aedan?«
Also war Callese doch noch wach, aber er hatte keine Zeit, um mit ihr zu reden. Er riss die Tür auf und schaffte es bis zur Treppe, wo er gierig die frische Luft einatmete. Irgendwie gelang es ihm dann, die Stufen nach oben zu steigen, während er seine Hände flach gegen die Wände drückte, damit ihn die wogende See nicht zu Fall brachte.
Draußen war es dunkel, genauso schwarz wie in seiner Vorstellung, aber es dauerte etwas, bis Aedan es bemerkte. Er klammerte sich an die Reling, als ob sein Leben davon abhinge. Seine Augen presste er zusammen, bis der kalte Wind begann, wie mit spitzen Nadeln auf sein Gesicht einzustechen. Ganz langsam öffnete er vorsichtig die Augen. Vor ihm erstreckten sich die aufgewühlte See und der wolkenlose Himmel. Eine in ein weißes Gewand gehüllte Gestalt kauerte neben ihm – seine kleine Schwester hockte entspannt auf dem trügerischen Deck. Ihr Nachthemd flatterte im Wind, als sie mit großen blauen Augen zu ihm aufsah.
»Wie geht's?«, fragte sie.
»Es ist nichts.« Er drehte sich um, sodass ihm der Wind wieder voll ins Gesicht blies.
Aedan verabscheute seine Schwäche. Dass sein Körper ihn so im Stich ließ, beschämte ihn mehr, als er hätte sagen können. Er befürchtete, dass dies ein Hinweis auf einen noch tiefer liegenden Mangel sein könnte und er insgeheim ein Feigling, ein Dummkopf oder Schwächling wäre. Er war ein Prinz, der Herr der Wälder und Erbe des Hohen Throns. Er konnte gar keine Fehler haben. Was würde das Volk – sein Volk – von ihm denken, wenn seine geheimen Befürchtungen wahr sein sollten und er sie enttäuschte? Er war jetzt zwölf und somit alt genug, seinen Magen und seine Schwächen zu beherrschen. Er würde lernen, sie zu beherrschen.
Callese rückte näher, bis ihr flatterndes Gewand sie beide umhüllte und sie ihre Hände um seinen Oberarm legen konnte. Seite an Seite saßen sie da und beobachteten das aufgewühlte Meer.
»Du solltest wieder nach unten gehen«, sagte Aedan. Er sprach leise, denn irgendwo war ein Seemann, der Nachtwache hielt. »Du frierst.«
»Tue ich nicht.«
»Ohne Aufpasser darfst du nicht an Deck, Callese.«
»Du auch nicht«, wies sie ihn zurecht. Er schaute auf sie herab, wie sie dünn und eigensinnig neben ihm saß, während ihr Profil von ihrem wild flatternden, flachsfarbenen Schopf verhüllt wurde. Sie war klein für ihr Alter. Seine fünf Jahre jüngere Schwester war für ihn das Kostbarste auf der Welt. Wenn er einen Makel hatte, dann war Callese das genaue Gegenteil von ihm: forsch und flink und wahrhaft furchtlos. Als sie ihre nackten Füße unter der Reling durchschob, schlang er seinen Arm um ihre Schulter, um sie zurückzuziehen.
»Callese, geh nach unten.«
»Komm mit.«
Er spielte mit dem Gedanken – rief sich die enge Kajüte, die Binsen, das heiße Metall in Erinnerung – und musste wieder tief Luft holen.
»Noch nicht. Du gehst runter. Ich komme bald nach.«
Sie machte sich noch nicht einmal die Mühe zu antworten, sondern kuschelte sich nur enger an ihn, während ihr Kopf an seinen Rippen ruhte. Er wusste, dass sie erst einen Riesenwirbel veranstalten würde, ehe sie ginge, und wenn er eins wusste, dann, dass er keinen Riesenwirbel wollte. Eine Erklärung darüber abzugeben, warum sie sich beide spätnachts und ganz allein hier draußen, auf dem verbotenen Deck aufhielten, war wirklich das Letzte, was er wollte.
Na schön. Er stützte sich wieder hinten auf den Händen auf und genoss die Wärme, die ihr Körper an seiner Seite ausstrahlte. Hier draußen war es eigentlich gar nicht mal so schlecht. Es war nicht so, dass er das Meer gehasst hätte – schließlich würde er eines Tages darüber herrschen, genauso wie er über all die Inseln herrschen würde, die das Königreich bildeten. Es gefiel ihm sogar recht gut, entschied Aedan. Aye, gerade jetzt, in diesem Augenblick, war es trotz der spitzen Wellenkämme fast friedlich.
Callese hob den Arm und deutete schweigend nach Osten. Am Horizont begann sich etwas Grünes abzuzeichnen: unheimlich, fern, wie Feenfeuer, das sich im Wasser spiegelte. Aus reiner Gewohnheit drehte Aedan den Kopf und blickte suchend in die entgegengesetzte Richtung, um nach Hinweisen zu schauen, wie weit sie wohl noch von zu Hause entfernt waren. Gerade kam eine Insel in Sicht … Er konnte noch nicht erkennen, um welche es sich handelte … Sie war nicht sehr groß, also konnte es nicht Bealou oder Alis sein. Auch nicht Griflet, die man an ihrer ungewöhnlich geformten Bucht erkennen konnte …
Aedan runzelte die Stirn. Er hätte sie eigentlich kennen müssen. Er kannte alle Inseln – besser als sein eigenes Herz …
Die Erkenntnis dämmerte ihm im gleichen Moment, als Callese erschrocken Luft holte und erstarrte. Sie sagten es gemeinsam:
»Kell.«
Allein schon der Name reichte, dass sich die Haare in seinem Nacken aufstellten. Sie blickten auf Kell! Die eine Insel, die noch nie jemand, nicht einmal der König, betreten hatte. Aedan kannte die Geschichten, die man sich zuraunte, und die Legenden: ein Stück unbezwungenes Land, ein verfluchter Ort, an dessen Gestaden die Seelen unzähliger Seeleute gefangen waren. Ein gefährlicher, ungeweihter Ort, auf den kein Mensch einen Fuß setzen durfte.
Aedan sprang auf, um besser sehen zu können. Callese stand bereits und beugte sich über die Reling. Er lehnte sich neben ihr darüber.
Schon früher hatte er Kell aus der Ferne gesehen, aber noch nie so nah. Schiffe durften doch gar nicht so dicht heranfahren, dachte er. Vielleicht hatte der Wind sie von ihrem Kurs abgetrieben.
Schroffe Berge erhoben sich aus den Wogen und waren erst nur schwach zu erkennen, während sie die ersten Anzeichen der grünen Morgendämmerung einfingen. Ein Strand war zu sehen, Sand und die unregelmäßige Silhouette von Bäumen, sehr hohe Klippen. Feenlicht und pechschwarze Schatten. Vom Kurs abgekommene Schiffe, gekentert und mit zerborstenen Wanten – und dann …
»Das Schloss«, hauchte Callese. »Oh, Aedan, schau doch.« Er spürte ihre Erregung, die sie fast zittern ließ. Aedan stieß den Atem aus, den er angehalten hatte, und gab sich dem Staunen und der Ehrfurcht hin. Und obwohl er die ganze Zeit hinstarrte, spürte er in sich immer noch einen Hauch von Unglauben.
Hinter Bäumen erhob sich ein Schloss – oder das, was einmal ein Schloss gewesen war. Es bestand aus Mauern aus Stein, einem spitzen Dach und Säulen. Es war nur undeutlich, klein und verschwommen zu sehen, als hätte sich der Nebel mit Absicht dazwischengelegt. Das war ein Schloss, bestimmt – oder doch nur Klippen? Nein, nein, das mussten von Steinmetzen bearbeitete Steine sein, warum würden sie sonst schimmern? Das Schloss der Meerjungfrau von Kell. Aye.
Callese seufzte. »Na so was … Es sieht wie …«
»Ein Heiligtum aus«, führte Aedan ihren Satz leise zu Ende. »Es sieht wie ein Heiligtum aus.«
»Ja.«
Ihr Schiff fuhr sehr schnell und entfernte sich von der Insel, als hätte der Kapitän erst jetzt bemerkt, wie nah sie dem gefährlichen Ort gekommen waren. Über ihnen knackten die Wanten und knallten die Segel, als das Schiff den Kurs wechselte. Männer brüllten, und das Schiff kämpfte gegen die hohen Wellen an. Ohne Vorwarnung drehte Callese sich plötzlich um und rannte das Deck hinunter, um die Insel, die sie hinter sich ließen, nicht aus den Augen zu verlieren.
»Callese!«
Er setzte ihr nach. Auch sein Blick hing immer noch an der Insel und dem lockenden Anblick des Schlosses hinter Bäumen. Man würde sie erwischen – Vater würde richtig wütend sein –, aber es handelte sich um Kell …
Callese blieb am Bug stehen und lehnte sich gegen die Reling, die hier deutlich niedriger war. Ein kleines Mädchen mit zu viel Haar und nicht genug Gewicht, das auf Zehenspitzen stand und dessen Umriss sich gegen den weiten Horizont abzeichnete. Irgendwo in einem dunklen, verborgenen Winkel seines Hirns wusste Aedan, was passieren würde. Er wusste es und konnte sich doch nicht schneller bewegen. Seine Füße waren zu langsam, der Wind zu stark. Er hätte ihren Namen geschrien, wäre ihm nicht von einer Böe der Atem genommen worden, er streckte seine Hände aus …
… doch der Schiffsrumpf hob sich, sodass er taumelte und seine Schwester fast schon graziös den Halt verlor und über Bord fiel.
Ein wütender Schrei entrang sich seiner Brust. Er schlitterte über das glitschige Holz des Decks und kämpfte sich bis zur Reling. Er lehnte sich weit hinaus, suchte nach ihr und rief gleichzeitig um Hilfe, während das Meer vor ihm blau, schwarz und feengrün schimmerte.
Mit einer schmalen, schwachen Hand hatte Callese ihren Sturz gebremst und klammerte sich an das äußerste Ende eines Balkens. Dort hing sie mit weit aufgerissenem Mund. Vielleicht schrie sie – er konnte es nicht hören –, das Meer, der Wind übertönten alles.
Er beugte sich über die Reling und packte ihr Handgelenk. Dann stemmte er sich mit den Füßen ab und zog. Sie war nicht schwer – er wusste, dass er sie eigentlich hätte halten müssen können. Aber warum konnte er sie dann nicht hochziehen? Seine Hände waren zu nass vom feuchten Deck. Sie glitten von ihrem Handgelenk zu ihrer Hand – nein, nein, er musste es schaffen, er musste …
Sie umklammerte mit ihrer anderen Hand den Handlauf der Reling. Er ergriff auch diese und keuchte vor Anstrengung. Wo waren die anderen? Warum kam bloß niemand?
Ihr Kopf kam in Sicht. Das hellblonde Haar hing über ihren Kopf und bedeckte einen Teil ihres Gesichts. Er hatte sie noch nie so verängstigt gesehen – und dabei hatte sie bestimmt nicht halb so viel Angst wie er. Sie versuchte, sich mit dem Ellbogen an der Reling festzuklammern, schaffte es jedoch nicht. Er beugte sich nach vorn, packte den Stoff von ihrem Nachthemd und zog ihn straff. Sie hatte es fast geschafft, es fehlten nur noch wenige Zentimeter …
Callese schrie. Sie schrie seinen Namen – wieder und wieder. Schrill und voller Panik. In der Ferne machte sich Aufregung breit. Man hörte donnernde Schritte und Männer, die schrien. Aber er hatte sie jetzt …
Sie hing halb über der Reling und konnte nirgendwo anders mehr Halt finden. Ihre Beine strampelten über der Wasseroberfläche. Aedan lehnte sich noch weiter nach vorn und packte ihren Knöchel. Einen schrecklichen Moment lang schaukelten beide über der Reling. Er konnte das Wasser jetzt ganz deutlich sehen. Oh Gott, und er hatte vorhin schon gedacht, dass es ihm Übelkeit bereiten würde …
Callese strampelte wieder und traf ihn am Unterkiefer – so fest, dass sich Blut in seinem Mund sammelte. Er konnte ihr Bein nicht mehr festhalten.
Nicht loslassen! Nicht loslassen! Nicht loslassen!
Er hatte sich zu weit nach draußen gelehnt. Sie begannen, in die falsche Richtung zu rutschen. Calleses Schreie wurden zu einem abgehackten Keuchen, und es war kaum mehr als ein schriller Laut zu hören, als sie anfingen zu fallen. Sie würden sterben, und alles war seine Schuld, weil er nicht auf sie aufgepasst hatte, seine Schuld, seine …
Ganz tief in seinem Innern erwachte etwas zum Leben, ein inbrünstiger Wille, den er nicht kannte und der doch schnell immer stärker wurde. Er spürte, wie er durch seinen Körper strömte und sich zu einer Stimme, einem Wunsch, einem Befehl formte.
So würde er nicht den Tod finden, und er würde auch sie nicht sterben lassen.
Aus voller Kehle brüllend wuchtete Aedan sie beide zurück, sodass beide auf das Deck taumelten. Er schlug auf einem Ellbogen und dann auf einer Schulter auf. Mit seiner Schwester in den Armen rollte er genau vor die Füße des Kapitäns und seiner Männer, die über das Deck geschlittert waren.
Man hob sie beide hoch, und er stand verwirrt und zitternd da. Hände lagen auf seinen Schultern, und man klopfte ihm auf den Rücken. Von allen Seiten drängten sich die Männer um sie. Er konnte nur noch Tuniken und Bärte sehen. Die Seeleute brüllten alle durcheinander – Heilige Mutter Gottes, was für eine Leistung – er hat sie ganz allein hochgezogen, Heiliger Himmel, habt ihr das gesehen. Und mitten in dem ganzen Aufruhr schwankte Callese auf ihn zu und warf ihre Arme um ihn, um an seiner Brust in ein herzzerreißendes Schluchzen auszubrechen.
Er hielt sie fest und ließ sie weinen, während langsam das Gefühl in seine Glieder zurückkehrte. Allmählich ließ das Brausen in seinen Ohren nach, und die Lobeshymnen der Männer begannen, zu ihm durchzudringen.
Er hatte es geschafft. Er hatte sie gerettet.
Aedan schaute in die rauen Gesichter auf, die ihn umringten, und grinste.