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Als er noch ein kleiner Junge gewesen war, hatte Aedan einst eine Libelle über eine Wiese verfolgt. Er jagte dem strahlend blauen Insekt bis in den Wald hinein hinterher, in dem, wie man sagte, Feen leben sollten.

Er hatte ihr mit dem Übermut der Jugend nachgesetzt. War gehüpft und gesprungen und hatte in die Hände geklatscht, bis eine versteckte Wurzel ihn zu Fall brachte und sein Kopf auf dem Boden aufschlug.

In seinen Träumen waren die geflügelten, goldenen Waldfeen lächelnd zu ihm gekommen. Er war aufgewacht und wieder zu sich gekommen, doch er hatte niemandem von seinem Traum erzählt. Sogar ein kleiner Junge wie Aedan hatte gewusst, was es bedeutete, wenn man von einer Fee berührt wurde. Seine Leute würden sich in Zukunft von ihm fern halten und ihn ehren, aber gleichzeitig fürchten. Er verbarg das Geheimnis vor ihnen tief in seinem Herzen. Doch in den vielen Jahren, die seit jenem Frühlingstag vergangen waren, kehrten die Feen – vielleicht als Strafe für sein Schweigen –, wann immer ihnen der Sinn danach stand, zu ihm zurück und verfolgten ihn in verworrenen Träumen.

Er hatte die Frau in seinen Träumen für einen Nachhall jener Feen gehalten. Sie hatte dieselbe zarte Erscheinung, dieselben strahlenden Augen und dieselbe Kühle, wenn sie ihn berührte.

Doch in diesem großen Saal konnte Aedan sie jetzt nur staunend anstarren, denn sie war wieder da – eine Fee und doch keine, denn die Frau auf dem Stuhl hatte keine Flügel, und ihr Haar schimmerte eindeutig mehr rot denn golden. Perlenschnüre waren hineingeflochten, und an den Handgelenken trug sie mit Juwelen besetzte Armreife. Sie trug ein grünes Gewand in einem Stil, den er nicht kannte. Es war nur locker um sie geschlungen … so locker, dass es nur ihre rechte Schulter bedeckte und eine vollkommen geformte Brust frei ließ. Sie schimmerte im Sonnenlicht wie Alabaster, der mit einer rosigen Spitze gekrönt war. Ein glitzerndes Silbermedaillon hing um ihren Hals.

Aedan schloss die Augen – und öffnete sie wieder.

Sie war immer noch da.

Er wollte in ihr Antlitz schauen und stellte fest, dass er es nicht konnte. Er wollte in ihre Augen schauen – sie mussten von einem dunklen Indigoblau sein –, aber wieder stellte er fest, dass er es nicht konnte.

Sie war real – aber wie konnte das sein? Lieber Himmel, er hatte doch eben erst von ihr geträumt …

»Hallo«, sagte die Frau. Ihre Stimme klang so lieblich wie die Sünde.

Aedan antwortete nicht darauf. Stattdessen versuchte er aufzustehen, wobei er sich an der Wand neben sich abstützte. Im Verlauf seiner Bemühungen stieß er den Kelch um. Mit einem vorwurfsvollen Klirren rollte er davon.

Die Frau ließ sich nichts anmerken und zeigte keine Furcht bei seiner plötzlichen Bewegung. Aber warum sollte sie auch, dachte er mit einem Anflug schwarzen Humors. Sie saß weit entfernt von ihm, und er hatte ein nutzloses Bein. Offensichtlich stellte er keine Bedrohung dar. Die Verletzungen, die eben noch kaum wehgetan hatten, meldeten sich erbarmungslos zurück. Aber trotzdem war es ein besseres Gefühl zu stehen, auch wenn er sich dabei an der Wand abstützen musste. Sobald er auf den Beinen war, zwang Aedan sich dazu, sich zu ihr umzudrehen und ihr Antlitz zu mustern.

Sie war genau so, wie er sie in Erinnerung gehabt hatte: ein Bild der Vollkommenheit, helle Haut und bezaubernde Augen, rubinrote Lippen und ein rosiger Hauch auf ihren Wangen. Er hatte Recht gehabt, sie für eine Fee zu halten. Ihre Schönheit verunsicherte einen fast – genau wie ihr flammendes Haar und ihre dunklen Augen.

Kein Wunder, dass er von ihr geträumt hatte. Jetzt wusste er es – sie war diejenige, die ihn gerettet hatte. Sie war diejenige, nach der er gesucht hatte, nach dieser Frau, der anderen Überlebenden auf der Insel.

Das erschien ihm so unwahrscheinlich, dass er sich umschaute – bestimmt gab es hier doch noch jemand anders. Einen gestrandeten Matrosen, einen Fischer. Sie konnte einfach nicht allein sein. Wie sollte eine Frau allein auf Kell überleben?

Die Lady auf dem Stuhl hob eine ihrer geschwungenen Augenbrauen. Ob aus Erheiterung oder Neugier, konnte er nicht erkennen. Sie sprach wieder und bediente sich einer Sprache, die er nicht verstand. Dann hielt sie inne und schaute ihn erwartungsvoll an.

»Hallo«, erwiderte Aedan, der endlich seine Stimme wiedergefunden hatte.

»Ah.« Sie verfiel wieder in seine Sprache. »Ein Schotte. Das hatte ich mir schon gedacht.«

Sie sprach mit einem ganz leichten Akzent. Ihre melodiöse Stimme besaß einen schwer fassbaren, singenden Tonfall. Oder vielleicht bildete er sich das auch nur ein. Himmel, er fühlte sich so seltsam, als hätte der Traum nie aufgehört und er sei darin gefangen, ohne zu wissen, was er nun tun sollte.

Wach auf, schalt ihn eine innere Stimme. Wach auf. Du bist ein Heerführer. Menschenleben hängen von dir ab. Beherrsche die Situation. Befiehl.

»Wer bist du?«, fragte er, ohne seine Stimme zu erheben, obwohl sie immer noch keine Furcht zeigte.

»Die Hüterin dieser Insel«, erwiderte die Lady.

»Die Hüterin?«

»Aye.«

Er ließ seinen Blick wieder schweifen und musterte die Tische und Stühle, die beiden großen Kohlenbecken, die hinter ihr glommen, den Rauch des Weihrauchs, dessen Geruch er bereits wahrgenommen hatte und der aus schwarzen Eisenschalen aufstieg. »Wie lange bist du schon hier?«

Ihre Lippen verzogen sich zu einem leichten Lächeln. »Schon immer.«

»Mit welchem Schiff«, formulierte er seine Frage klarer, »bist du hergekommen?«

»Mit keinem Schiff.«

»Du bist hier geboren worden?« Er gab sich gar nicht erst die Mühe zu verbergen, dass er ihr nicht glaubte.

»Nein.« Und ihr Grinsen wurde breiter.

Das Ganze bereitete ihr einen Heidenspaß. Aedan spürte, wie Wut in ihm aufstieg, weil sie unter diesen Umständen noch zu Scherzen aufgelegt war. Die Situation war in höchstem Maße brenzlig, vor allem nachdem er den Korridor und die Treppe hinter sich gebracht hatte und sein gebrochenes Bein vor Schmerz pochte. Damit sie seine Wut nicht sah, wandte er sich ab und suchte nach dem Speer. Er war nicht sehr weit weg neben einem der Tische liegen geblieben. Er hüpfte hin und hob ihn auf. Das Schwert konnte er nirgends entdecken.

Die ganze Zeit beobachtete sie ihn nun wieder schweigend von ihrem erhöhten Thron aus.

Aedan von Kelmere hatte seine Männer, seitdem er sechzehn war, in zweiundzwanzig Schlachten geführt und dabei nur eine verloren. Für seine Leute, für deren Wohl und auf den Wunsch seines Vaters hin hatte er geblutet, geweint und gelitten. Er hatte Feinde und Freunde in seinem Namen sterben sehen. Er war ein Krieger, ein Jäger, ein Prinz. Er würde sich nicht dazu herablassen, mit dieser Frau zu spielen – egal, welche Farbe ihre Augen hatten.

»Wie bin ich hierher gekommen?«, verlangte er zu wissen. Seine Stimme klang jetzt strenger. »Wo sind meine Männer?«

»Ich weiß es nicht.«

Mit Hilfe des Speers begann er, auf sie zuzuhumpeln, wobei er sich durch das Labyrinth der Tische hindurchschlängeln musste. »Das warst doch du, oder nicht – der Kelch mit Wasser, die Beinschienen. Du musst doch irgendetwas wissen, was mir zugestoßen ist.«

»Ich weiß, dass du herabgesunken bist, und ich habe dich aufgefangen. Ich weiß, dass man dich der See übergeben hat und damit mir.«

»Was …« Plötzlich erfasste ihn heftige Übelkeit. Er musste innehalten, um ihrer Herr zu werden. Dabei umklammerte er den Speer so stark, dass seine Knöchel weiß hervortraten. »Was meinst du damit, der See übergeben

»Man hat dich über Bord geworfen. Erinnerst du dich denn nicht daran, Schotte?«

»Ich befand mich – auf einem Schiff?«

»Einem Boot«, stellte sie richtig. »Ein kleines, wenn man den Wellengang bedenkt. Vielleicht warst du nicht der Einzige, der in jener Nacht dem Meer geopfert wurde.«

Und ohne Vorwarnung erinnerte er sich plötzlich wieder an alles – der heftige Regen, der Geschmack von Salz in seinem Mund. Stimmen, die wie nebensächlich über sein Leben diskutierten. Ein Gesicht im Wasser … ihr Gesicht. Wie konnte das möglich sein?

»Du hast mich gerettet«, sagte Aedan, um dann den Kopf zu schütteln. »Aber wie bin ich in das Boot gekommen? Wer waren diese Männer? Wie konntest du mich bei diesem Unwetter überhaupt finden?«

»Das Boot oder die anderen Insassen kannte ich nicht. Ich kenne nur dich.«

Und, bei Gott, er kannte sie auch.

Aedan kämpfte gegen die Bilder, die gegen seinen Willen vor seinem inneren Auge erschienen. Es brachte nichts, sich jetzt Wunschvorstellungen über sie hinzugeben. Seine Fieberträume hatten sich um eine Fremde gedreht. Jetzt ging es um die Wirklichkeit, nicht um irgendwelche Hirngespinste. Er brauchte Antworten.

Er war an Land gespült worden. Sie hatte ihn gefunden. So musste es passiert sein. Aber er starrte sie mit gerunzelter Stirn an, während er versuchte, sich zu erinnern, und die Übelkeit heftiger wurde.

Das dunkle Meer, ein heftiger Sturm, der ihn herumwirbeln ließ – ihre Arme, die sich um ihn schlangen, langes Haar, das in der Strömung trieb …

Aedan riss sich von der Erinnerung los. Alles drehte sich, und er kämpfte gegen den Drang aufzugeben, sich auf die Knie fallen zu lassen und zu brechen. Er würde sich nicht vor ihren Augen entwürdigen – er würde dagegen ankämpfen. Er biss die Zähne zusammen und schaute zur Decke empor. Er zählte Steine und er zählte Löcher, bis sein Körper wieder ihm gehörte und er wieder reden konnte.

»Wer bist du?«

»Ione.«

»Ione. Bist du allein hier?«

»Nein«, sagte sie ernst. »Du bist auch hier.«

Wollte sie ihn etwa verspotten? Es gab keine Anzeichen dafür, dass sie mit ihm scherzte. Da waren nur ihre ernsten blauen Augen voller Rauch und Licht.

»Da ist niemand sonst? Nur du und ich ganz allein auf dieser Insel?«

»Es gibt Vögel. Es gibt Seehunde. Es gibt viele Fische …«

»Menschen«, unterbrach er sie mit zusammengebissenen Zähnen. »Gibt es hier andere Menschen?«

»Oh, Menschen«, sagte sie leise. »Nein.«

Er sehnte sich danach, sich hinzusetzen, aber er traute seinem Bein nicht und war sich nicht sicher, ob er dann wieder würde hochkommen können. Er rieb sich mit einer Hand übers Gesicht, wobei er den Schnitt vergaß, den ihm der Pikte beigebracht hatte. Er verzog das Gesicht, als er das Blut verschmierte. Verflucht.

Ganz dicht neben ihr, wo auch das Licht hinfiel, stand ein Stuhl. Aedan ging darauf zu und legte seine Arme über die Rückenlehne. Sie beobachtete ihn dabei mit nicht nachlassendem Interesse. Sie zeigte immer noch keine Angst und saß entspannt auf ihrem Stuhl. Er hielt seinen Blick auf ihr Antlitz gerichtet und ignorierte ihren in Sonnenlicht getauchten Körper, die schimmernde nackte Brust, die sich bei jedem Atemzug hob und senkte. Er achtete nicht auf ihren Duft, der durch die Sonne intensiver geworden war und solch eine köstliche Weiblichkeit ausstrahlte …

Er würde den Blick nicht senken. Er würde sich nicht von ihrem lockeren grünen Gewand, ihrer seidenweich schimmernden Haut ablenken lassen. Er hatte immer noch Fragen, er musste Pläne machen …

Ihre Brust hob und senkte sich in ruhigem Rhythmus. Vollkommen wie alles andere an ihr. Aedan erinnerte sich an seinen Traum, sah weich fließendes Haar und Brustwarzen, die sich unter seinen Händen verhärteten.

»Hast du Schmerzen, Mensch?«

»Wie bitte?« Er riss seinen Blick von ihrer Brust los und sah ihr wieder ins Gesicht.

»Schmerzen.« Die Frau – Ione – beugte sich vor, sodass sich ihr Gewand noch weiter öffnete. »Dein Bein. Schmerzt es?«

»Es ist gebrochen«, stieß er hervor. Er würde nicht … Er würde auf gar keinen Fall nach unten sehen. »Was glaubst du denn?«

»Ich glaube«, meinte sie, »dass du im Bett liegen solltest.«

Vielleicht lag es am Weihrauch, der ihm die Sinne verwirrte, oder an der Hitze der Sonne, die auf seinen Kopf strahlte. Er konnte nicht mehr klar denken. Sie sagte das Wort Bett, und sein ganzer Körper rief Ja.

Io ließ sich zurück auf ihren Stuhl sinken, sodass ihr Körper wieder in Sonnenlicht getaucht war. Sie wusste, wie er sie sah: hell leuchtend wie ein einzelner Funke in dunkler Nacht, helle Farben und unausgesprochenes Verlangen. Sie sah ihr Spiegelbild in seinen hellsilbernen Augen – und ihr gefiel, was sie dort erblickte.

Er wollte sie trotz des geduldig ertragenen Schmerzes, trotz seiner Verwirrung. Er wollte sie. Die Bestürzung, die sich in seinen Zügen gezeigt hatte, als er aus dem Turmfenster schaute, war fort.

Gut.

»Sollen wir nach oben gehen?«, fragte sie.

Ihr wohlgestalteter dunkler Mann starrte sie, ohne zu antworten, mit gerunzelter Stirn an, und etwas an ihm berührte sie plötzlich – vielleicht lag es an der Art, wie er mit Hilfe des Stuhles seine Schmerzen zu verbergen suchte oder wie heftig er sich gegen ihre Ausstrahlung wehrte. Vielleicht lag es aber auch nur an den Sorgenfalten, während er sie anschaute. Oh, es war wahrscheinlich nicht gerade leicht gewesen zu ertrinken, zu sterben und dann bei ihr auf Kell wieder zum Leben zu erwachen.

Ione streckte die Hand aus und legte sie auf seinen Arm. »Geht es dir nicht gut?«

Er blickte auf ihre Hand hinab. »Aye«, antwortete er langsam. »Mir geht es … nicht gut.«

Sie stand auf und trat zu ihm. Er wich nicht vor ihr zurück, nicht einmal, als Stare in ihren Nestern an den Deckenbalken raschelten und eine Staubwolke erzeugten, die wie ein Elfensturm in der Sonne auf sie niedersank.

Seine Muskeln waren heiß und angespannt. Ihre Finger glitten mit einer ganz leichten Liebkosung über seine Tunika.

»Hab keine Angst«, sagte sie. »Du wirst wieder gesund. Kell wird dir dabei helfen. Dies ist mein Zuhause. Aber du bist hier willkommen.«

Mit keiner Geste gab er zu erkennen, dass er ihre Worte oder ihre Berührung wahrgenommen hatte. Nur seine Wimpern sanken herab, um seine Gedanken zu verbergen.

»Schotten«, seufzte sie. »Ein Römer hätte mir gedankt.«

Der Mann hob sein Gesicht zum Himmel empor, der Sonne und den rastlosen Vögeln entgegen. Die Linien um seinen Mund begannen, sich zu entspannen, sodass sich ein Lächeln auf seine Lippen legen konnte. Es war ein schönes Lächeln, wiewohl nur angedeutet. Es erinnerte sie an herrliche, sternenklare Nächte und an ihre eigenen Pläne.

Das Lächeln wurde zu einem leisen Lachen. »Ich glaube, ich muss wohl immer noch schlafen.«

»Komm«, drängte sie ihn. Ihre Hand lag immer noch auf seinem Arm. »Komm mit, Schotte.«

»Ich heiße Aedan«, sagte er. Doch er ließ zu, dass sie ihm wieder die Treppe hinaufhalf.

Zeiten der Leidenschaft

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