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531 n. Chr.

Neunzehn Jahre später

»Sind die Männer bereit?«

»Aye, Mylord.«

»Gut.« Im Schlamm kauernd und mit Blättern und Lehm bedeckt, musterte der Befehlshaber die Szene unter sich, wo Reiter mit ihren Pferden einen steilen Bergpfad erklommen. »Da«, flüsterte er, wobei er die Lippen kaum bewegte. »Da ist er, an der Spitze. Der große Prinz selbst.«

»Ich sehe ihn, Mylord.«

»Sag den Männern Bescheid. Er ist derjenige, den wir haben wollen.«

»Aye.«

Weiter unten und immer näher kommend glitt der wachsame Blick des schwarzhaarigen Kriegers, der die Gruppe anführte, über die Bäume und das Gestrüpp. Hoch zu Ross trennten ihn nur noch wenige Augenblicke von seinem Verderben.

Der Befehlshaber hob einen Finger. Das war das Zeichen für die anderen. Er deutete auf den Krieger und ließ den Arm fallen.

Es war ein verdammt ungünstiger Ort für einen Hinterhalt.

Sie hatten fast das Ziel ihrer Reise erreicht. Es war von Anfang an eine lange, beschwerliche Tortur gewesen, und Aedan fing endlich an, sich zu entspannen und an die Freuden zu denken, die ihn zu Hause erwarteten. Die Sommerwolken, die den ganzen Tag über am Horizont gehangen hatten, hatten sich schließlich doch zusammengezogen und bedeckten den ganzen Himmel. An den Rändern nahmen sie bereits ein bedrohliches Schwarz an und kamen immer näher, als die Sonne allmählich unterging. Da braute sich ein gewaltiges Unwetter zusammen, aber Aedan und seine Leute würden längst in der sicheren Festung sein, bevor es losbrechen konnte.

Er hatte bereits die Vorhut nach Kelmere geschickt, damit sie ihre Ankunft in einer Weise ankündigten, die seinem Vater gefiel. Ihm blieb dabei keine andere Wahl: Es handelte sich um ein königliches Gefolge, und die Tatsache, dass es nur aus zwölf übel zugerichteten, müden Kriegern bestand, ließ sich nun mal nicht ändern. Sein Vater würde eine Vorhut erwarten. Und was der König verlangte, das bekam er auch.

Der König hatte bestimmt nicht mit solch einer Schmach, einem Massaker so dicht vor seinen eigenen Toren, gerechnet.

Es war ein Hochlandpfad, einer der vielen geheimen Wege, die sich durch diese Hügel wanden. Manchmal schien der Pfad fast völlig zu verschwinden, sodass man seinen Verlauf zwischen Feldern, hohem Gras oder rosafarbener Heide nur noch erahnen konnte. So nahe der Festung schlängelte sich der Weg am Fuße des Berges entlang. Auf der einen Seite begrenzte ein dichter Wald den Pfad, und auf der anderen Seite befand sich ein Schwindel erregender Abgrund. An dieser Stelle mussten sie einzeln hintereinander reiten. Noch etwas, an dem man nichts ändern konnte.

Davon abgesehen wäre jede Hilfe ohnehin zu spät gekommen.

Das erste Warnsignal war für Aedan die Stille. Das völlige und absolute Fehlen von Geräuschen außer dem müden Stapfen der Pferde und dem leisen, traurigen Gesang des Windes.

Kein Vogel trällerte ein Lied. Keine einzige Grille zirpte. Kein Tier war im Wald zu hören.

Die Dämmerung hatte eingesetzt. Der Moment, wo die Schatten länger wurden und sich schließlich ganz auflösten – der Übergang zwischen den Welten, wie Mòrag sagen würde. Und in diesem Moment der Stille begriff Aedan plötzlich, dass er und seine Gruppe geradewegs in eine Falle ritten.

Doch als er warnend den Arm hochriss, war es bereits zu spät. Sie kamen aus den Wäldern, stürzten den Hügel herunter – wilde Männer, die mit Blättern, Dreck und Waldmoos bedeckt waren und schrille Schreie ausstießen. Mit ihren Schwertern und sogar im schwindenden Licht des Tages hell lodernden Augen stürzten sie sich auf sie.

Sein Pferd reagierte auf den plötzlichen Tumult, indem es ausschlug und in Panik geriet. Es war der dritte derartige Angriff in zwei Wochen, und der Hengst war am Ende seiner Kräfte.

»Zu den Waffen!«, brüllte Aedan. Doch seine Worte gingen im Kampfgeschrei der Pikten unter, die wie Heuschrecken über sie herfielen. Er zog sein Schwert und stieß es dem Mann, der ihm am nächsten gekommen war, tief in die Brust, während er der Lanze des nächsten Angreifers auswich und versuchte, sein Pferd auf dem engen Pfad zu wenden.

Zwei Pikten stürzten sich gleichzeitig auf ihn, wodurch es ihnen gelang, ihn aus dem Sattel zu reißen. Mit voller Wucht knallte Aedan auf den Boden. Einen Moment lang konnte er wegen des aufsteigenden Staubs und der wirbelnden Hufe nichts sehen, und der Schild entglitt seiner Hand. Instinktiv wich er einem Hieb aus, rollte sich herum und kam wieder auf die Beine.

Ohrenbetäubendes Kampfgetümmel beherrschte die Szene. Das Kriegsgeheul der anderen und seine eigenen Schreie bildeten das unverwechselbare Kampfgetöse. Bestimmt war der Lärm bis nach Kelmere zu hören – bestimmt würden die Männer, die Wache schoben, etwas mitbekommen.

Es gelang ihm, einen seiner Angreifer zu erledigen, doch der zweite war größer und schlauer. Er sprang erst außer Reichweite, dann machte er einen Satz nach vorn, um ihn wieder anzugreifen. Der Wilde lachte. Ein irres Grinsen lag auf seinen Lippen, und das Blut, das ihm übers Gesicht strömte, färbte seine Zähne widerlich rot.

Aedans Männer kämpften, so gut sie konnten, aber der schmale Pfad behinderte sie alle. Aus dem Augenwinkel bekam er mit, wie sein stellvertretender Kommandeur von seinem Hengst stürzte. Ein Pikten-Dolch steckte tief in seiner Kehle. Dann sah er, wie der Hengst selbst ins Straucheln geriet, den Halt verlor und mit einem unheimlichen, durchdringenden Schrei den Berg hinunterstürzte. Noch ein Mann fiel und noch einer. Bei allen Heiligen …

Der Pikte, den er gerade erledigt hatte, erwachte wieder zum Leben und kam hinter ihm hoch. Das Haar hing ihm schlammverkrustet ins Gesicht, als er sich schwerfällig in Bewegung setzte. Er hielt einen Knüppel in der hoch erhobenen Faust.

Eine Frau kreischte.

Nein. Verflucht, nein!

Der Pikte stürzte auf die Prinzessin zu.

Aedan wusste, dass sie keine Waffe bei sich trug. Er warf einen verzweifelten Blick in ihre Richtung und sah ihr wallendes blondes Haar und das safrangelbe Kleid. Ihr Pferd drehte sich auf der Hinterhand im Kreis – es sah aus wie ein außer Kontrolle geratener Tanz inmitten des Chaos. Die Männer, die zu ihrem Schutz abgestellt gewesen waren, waren bereits tot. In jenem furchtbar kurzen Moment vor seinem Tod nahm Aedan den Ausdruck auf ihrem Gesicht überdeutlich wahr: Überraschung. Sie hatte sich genau wie er so nahe dem Sitz des Königs sicher gewähnt.

»Callese!«, brüllte er, während er immer noch wie wild um sich hieb. »Bring dich in Sicherheit!«

Und wieder zu spät.

Der grinsende Mann hatte den Moment der Ablenkung für sich genutzt. Aedan sah das Schwert nur undeutlich auf sich zukommen. Er sprang und drehte sich um, aber der Pikte hatte hoch gezielt, und Aedan war nicht ausgewichen. Die flache Seite der Klinge traf ihn an der Schläfe. Ein gewaltiger Hieb, der die Welt aus den Angeln hob und ihm den Boden unter den Füßen wegriss.

Er lag auf der Straße und starrte zu den sich auftürmenden Wolken empor. Erstaunlicherweise spürte er keinen Schmerz, er fühlte nur das heiße Blut, das über seine Wange strömte. Aber er konnte sich nicht bewegen, nicht einmal, als sein Pferd aufschrie, stieg und auf sein Bein stürzte.

Immer noch kein Schmerz. Er wunderte sich darüber. Er wunderte sich über die Stimmen, die aus weiter Ferne zu ihm drangen, den Schrei seiner Schwester, und die allerliebsten Sterne begannen, ihm von der Mitte des Himmels aus zuzublinzeln. Der Himmel wurde schwarz. Die Sterne funkelten: Gute Nacht.

Bewegungen.

Endlose Bewegungen, ein gewaltiges, Übelkeit erregendes Schaukeln, das ihn nicht zur Besinnung kommen ließ. Er nahm weder seinen Körper noch die Welt, Sterne, Pferde oder Pikten wahr. Nur seine Gedanken waren ihm geblieben und dieses unerträgliche, nicht enden wollende Schaukeln.

Alles war schwarz, erbarmungslos schwarz. Aedan kannte diesen Ort nicht, wo es nichts gab. Doch dann erkannte er im taumelnden Dunstschleier seiner Verwirrung, dass er es doch wusste. Das war der Tod, und der war schnell und rau und schwankend, die ganze Zeit schwankend …

»… an die Küste … Zeit …«

»… da vorne. Sieh mal …«

Er konnte nichts sehen. Er konnte nichts fühlen. Atmete er denn noch? Atmeten die Toten denn?

»Verfluchter Regen … warum … sollten doch …«

Salz. Er konnte es schmecken. Er hatte keine Lippen, keine Nase oder Zunge, aber er schmeckte Salz.

»… verflucht! Wir sollten sofort umkehren.«

»Nay. Du kennst die Befehle.«

War das Blut? Das Meer? Aye, das Meer. Der kräftige Geschmack von Meersalz. Er konnte es jetzt auch spüren. Es füllte jeden Winkel von ihm. Bald würde es ihn zum Platzen bringen, das Salz, die allumfassende Dunkelheit.

»… soll sich nie diesen Gestaden nähern! Das weißt du genauso gut wie ich! Dieser Sturm wird uns noch zum Kentern bringen, wenn wir nicht umkehren … Lass ihn uns hier über Bord werfen. Soll doch das Schicksal entscheiden …«

Er war bis auf die Haut durchnässt, alles kribbelte, der Regen prasselte auf ihn herab, und ein schneidender Wind zerrte an ihm.

»Wir haben ein Leck! Wir müssen zurück …«

Verfluchtes Gewitter; krachender Donner, der all seine Knochen zum Vibrieren brachte.

»… uns die Kehle durchschneiden. Wenn jemand erfährt … wenn es herauskommt …«

»Keiner wird etwas erfahren! Wir können nicht näher ran. Wir machen es hier und jetzt! Hilf mir.«

Und plötzlich durchzuckte ihn der Schmerz und überdeckte alle Empfindungen von Salz, Regen und Gewitter. Er war nicht tot, noch nicht. Aedan fand seine Stimme wieder. Zumindest dachte er, es wäre seine, denn es war nur ein erstickter Laut, der aus seiner Kehle kam und der nichts Menschliches an sich hatte. Er wurde von den Stimmen der anderen übertönt und verklang zu einem gequälten Stöhnen.

»Keiner wird es je erfahren …«

Das war das Letzte, was er vernahm. Er wurde hochgehoben und herumgewälzt. Sein ganzer Körper – eine einzige blutende Wunde – verkrampfte sich. Mit einer gierigen Welle nahm das Meer ihn entgegen, und dann waren keine Stimmen mehr da und kein schwankender Bootskörper. Da war nur noch das kalte Verderben des Meeres, das ihn zärtlich umschlang, nach unten zog und alle Luft aus seiner Lunge presste. Doch schließlich gelang es ihm, wieder an die Oberfläche zu kommen, und er holte tief Luft.

Er versank, immer tiefer …

Er spürte, wie etwas Warmes, Schwereloses an ihm vorbeistrich. Aedan kam zu der Erkenntnis, dass er selbst es war, seine Seele, die ihn verließ und seinen Geist zurückließ. Dies war also die Qual, die Strafe, die er erleiden musste, weil er gefehlt hatte, weil er seine Ehre, seine Familie, seine Güter verloren hatte.

Er versuchte, sich zu bewegen, doch es gelang ihm nicht. Er versuchte zu atmen, doch er konnte es nicht. Er konnte diesen Zustand nur verwirrt über sich ergehen lassen, während er sich fragte, warum er innerlich so ruhig war.

Er merkte, dass seine Augen offen standen und er sich immer noch unter Wasser befand. Da war noch etwas anderes als das Meer um ihn, außer seiner Tunika, die sich im Wasser blähte, und seinem Haar, das in der Strömung trieb …

Aber es war gar nicht sein Haar.

Inmitten der Dunkelheit des Ozeans und dem leisen Rauschen des Bluts in seinen Ohren gewahrte er plötzlich ein bleiches, geisterhaftes Antlitz – eine Frau mit seidigem Haar, das um ihren Körper wallte. Es loderte wie Feuer und schien ihm zuzuwinken. Ihre Augen sahen an ihm vorbei. Sie waren von langen Wimpern umkränzt, und ihre Haut schimmerte wie Silber oder Stein. Genau wie der Regen oder das Unwetter war auch das etwas, was außerhalb seines Verständnisses lag.

Plötzlich warf sie ihm einen Blick zu. Ehe er einen Gedanken fassen konnte, ehe sich seine Vernunft wieder meldete, tauchte das Meer ihn wieder in seinen schwarzen Schleier.

»Schsch. Nicht sprechen.«

Sie beugte sich über ihn und legte ihre weichen, warmen Lippen auf seine, während sie sprach. Sie schmeckten süß wie das Leben, wie honigsüße Träume. Ihr Kuss war kurz. Eine flüchtige, erregende Berührung ihrer Zunge, ihres Busens, der über seine nackte Brust strich. Als sie sich zurückzog, streckte er die Arme nach ihr aus, ohne sie jedoch zu erreichen. Wie eine Göttin erhob sie sich über ihm. Kühler Marmor und brennende Glut. Der lebende Gegensatz aus hellem Hoffnungsschimmer und dunklem, tiefem Verlangen.

Er konnte den Blick nicht von ihr abwenden. Er wollte den Blick nie wieder von ihr abwenden.

Lange Locken fielen über ihre Schultern und ihre Arme. Sie war die personifizierte Vollkommenheit, und das helle Mondlicht hüllte sie in magische Farben: rotes Haar, weiße Haut und Augen von dunkelstem Blau. Seine Finger glitten in ihre zerzausten Locken und zogen sie zu ihm zurück. Sie lächelte, als sie seinem wortlosen Befehl folgte: ein wissendes Lächeln, verführerisch und verlockend. Ihr Kopf senkte sich wieder auf ihn herab. Der Atem stockte ihm, als seine Sinne ihren Geschmack wahrnahmen.

Sie war das Meer. Sie war wie die schwellenden Wogen und der vom Wind zerrissene Nebel.

Er streichelte sie und sehnte sich nach mehr, mehr als das, was sie ihm bereits gab. Ihre festen Brüste mit den steil aufgerichteten Brustwarzen drückten sich in seine Handflächen. Jeder Atemzug, den sie tat, füllte seine Hände und ließ seinen Körper in reinstem erotischem Verlangen erschauern. Er drückte sie sanft und spürte, wie ein Stöhnen in seiner Kehle aufstieg. Sie hob das Kinn und wölbte ihren Rücken, und immer noch lag dieses betörende Lächeln auf ihren Lippen. Das Mondlicht liebkoste ihren schmalen Nacken und glitzerte auf der silbernen Kette mit dem reich verzierten Medaillon, das sie trug. Ihre Haut schimmerte wie Perlmutt, und ihr geschmeidiger Körper war stark und straff. Sie war gleichzeitig Frau und geheimnisvolle Göttin.

Seine Hände glitten tiefer zu der Stelle, wo ihre Schenkel zusammenkamen. Sie hockte mit gespreizten Beinen über ihm und rieb sich an seinem Körper. Ihr langes Haar schwang hin und her, während er sie streichelte und spürte, wie heiß und feucht sie war. Als er einen Finger in sie hineinschob und sie keuchte und die Augen schloss, konnte er nicht mehr länger warten. Er konnte sich nicht mehr zurückhalten. Nicht mehr ganz so sanft und sehr viel fordernder zog er sie an sich. Es bedurfte keiner Worte mehr: Sie griff nach ihm und ließ sich ganz tief nach unten sinken. Jetzt war es an ihm zu keuchen.

So etwas hatte er noch nie gespürt. Er hatte noch nie solch ein Entzücken erlebt, solch ein schmerzendes Vergnügen wie die Hitze, mit der sie ihn umschloss. Er wollte immer mehr von ihr, von diesem köstlichen Augenblick. Er wollte ihren ganzen Körper auf sich spüren, wollte jeden Zentimeter ihres Körpers in Besitz nehmen ihre vollen Brüste, den weichen Bauch und ihr ach so wildes Herz

Keuchend saugte sie an seinen Lippen. Fest und unnachgiebig erwiderte er ihren Kuss, so unnachgiebig wie sein Körper, der in sie stieß. Sie atmeten dieselbe Luft und wiegten sich im selben Tanz, während ihr rotes Haar sie beide umhüllte und ihr geschmeidiger, schöner Körper ihn fest hielt, ihn ganz fest umklammerte. Seine Hände glitten zu ihrer Taille und auf ihre Hüften. Seine Finger gruben sich in ihr Fleisch und führten sie schneller, tiefer, ja, ja, genau so …

Er schrie auf, als er die Erlösung fand und spürte, wie auch sie von den Flammen ihrer Lust erfasst wurde. Fast meinte er zu sterben, wollte sterben, als er sie mit seinem Samen füllte und sie sich wieder über ihm wölbte, um mit zitternder, köstlicher Gier alles in sich aufzunehmen.

Der Hänfling sang in seinem Vogelkäfig.

Aedan verzog wütend das Gesicht, drehte den Kopf und griff nach einem Kissen, um es sich über die Ohren zu ziehen. Er hatte gerade einen höchst erstaunlichen Traum gehabt, einen herrlich intensiven, lustvollen Traum, und er wollte noch nicht daraus erwachen …

Dieser verdammte Vogel. Ständig, Tag und Nacht sang er sein trauriges Lied, trällerte seine schluchzende Kaskade von Noten. Er war der Meinung gewesen, ihn längst Callese gegeben zu haben. Sie hatte ihn doch in ihr Zimmer mitgenommen, oder nicht? Damals war es ihm wie ein schönes Geschenk erschienen – der hübsche kleine Vogel und der Käfig aus Korbgeflecht.

Der verfluchte Gesang trällerte in seinem Kopf. Wenn er gewusst hätte, dass es nie aufhören würde …

»Es reicht«, sagte er und öffnete die Augen.

Das war nicht sein Zimmer. Schlimmer noch – dies war nicht einmal Kelmere.

Aedan richtete sich im Bett auf – nicht sein Bett – und schaute sich um. Ihn befiel das unangenehme Gefühl, immer noch in einem Traum gefangen zu sein – allerdings handelte es sich dabei nicht um den, auf den er gehofft hatte.

Er befand sich in einem Zimmer, dessen Wände aus Steinquadern bestanden. Es gab drei tiefe Bogenfenster, und dort, wo an der Decke der Mörtel heraus gebröckelt war, konnte man etwas blauen Himmel erkennen.

Der Raum war größer als sein eigenes Zimmer in der Feste seines Vaters. Vielleicht handelte es sich um das Gemach des Hausherrn. Es war mit Dingen gefüllt, die sowohl bizarr als auch wunderschön waren. Es gab Ruhelager ohne Kissen; Truhen ohne Scharniere; einen gewaltigen, beeindruckenden Schrank, an dessen Ecken sich das Blattgold in metallischen Schnörkeln löste. Auf einem Tisch aus schimmerndem schwarzem Granit lagen Kieselsteine verstreut. Stoffstreifen – einige zerfetzt, andere ganz – schmückten die Wände in hauchzartem Silber, Weiß und Dunkelviolett.

Eine Amsel hockte auf der Rückenlehne eines Stuhles. Sie hörte schließlich doch zu singen auf und musterte ihn.

Aedan erwiderte den Blick, war aber immer noch gefangen in seinem Traum. Ohne Vorwarnung erhob sich der Vogel plötzlich in die Luft, beschrieb einen eleganten Kreis durch das Zimmer und flog durch eines der geöffneten Fenster davon.

In dem Augenblick bemerkte er die römischen Helme, die nackt und leer wie Totenschädel an der Wand direkt gegenüber aufgereiht waren. Man hatte sie sorgsam auf jeweils zwei gekreuzte, verrostende Schwerter gesetzt, die im Geröll steckten, welches den Boden der Kammer bedeckte.

Kein Traum. So etwas würde er nicht träumen. Wo war er also?

Pikten. Dämmerung.

Wo er sich jetzt auch befinden mochte – keiner schien sich die Mühe zu machen, ihn zu bewachen oder auf ihn aufzupassen. Er schien allein zu sein. Er hörte keine Stimmen und auch keine anderen Laute, die von Mensch oder Tier hätten stammen können. Nur in der Ferne vernahm er ein vertrautes, unaufhörliches Grummeln. Hinter ihm befand sich eine Tür, doch sie lag so tief im Schatten, dass er noch nicht einmal erkennen konnte, ob sie offen stand oder geschlossen war.

Er musste fort. Er musste seine Leute, seine Soldaten finden. Er musste herausfinden, was geschehen war.

Aedan setzte sich zu hastig auf und zuckte zusammen, als ein jäher Schmerz durch seinen Körper fuhr und einen glühenden Bogen von seinem Kopf bis zu seinem linken Bein beschrieb …

… der angreifende Pikte – sein schwarzes Pferd, das sich vor dem sternenübersäten Himmel aufbäumte …

… und dann stellte er fest, dass er unter der Decke nichts anhatte, nicht einmal Beinkleider oder Verbände. Er hob eine Hand und betastete die Wunde an seinem Kopf. Sie war nicht verbunden, und er spürte die empfindliche Haut und den langen, geraden Schnitt von seiner Schläfe bis zu seinem Wangenknochen. Er nahm die Hand wieder herunter und sah kein Blut. Die klaffende Wunde war gesäubert worden. Das war gut. Doch um sein Bein stand es schlimmer. Es war zwar auch sauber, aber es war vom Knöchel bis zum Knie geschwollen, sodass die straff gespannte Haut glänzte und ganz unnatürlich gefärbt war. Außerdem war der pochende Schmerz fast unerträglich. Zwei Holzlatten sorgten zu beiden Seiten seines Beins dafür, dass dieses ruhig gestellt war.

Er hatte sich das Bein angeknackst, wenn nicht gar gebrochen. Jemand hatte sich die Mühe gemacht, es wieder zu richten, es dann aber dabei belassen. Es gab keinen Hinweis darauf, dass irgendwelche heilenden Substanzen verwendet worden waren oder jemand Umschläge gemacht hätte, um die Schwellung oder den Schmerz zu lindern. Er hatte keine Erinnerung daran, was mit ihm geschehen war – weder wie er gefunden, mitgenommen noch hier untergebracht worden war. Wo zum Teufel war er hier überhaupt?

Der Überraschungsangriff, das Aufblitzen eines Schwertes, Calleses Antlitz …

Callese war in Gefahr. Kelmere selbst war in Gefahr, aye, da war ein Hinterhalt gewesen, ein Überfall der Pikten, und wer ahnte schon, was dann geschehen war, was man seinen Leuten, seinem König angetan hatte …

Aedan biss die Zähne zusammen und wälzte sich aus dem Bett, um sich dann auf sein gesundes Bein zu stellen. Als das Schwindelgefühl etwas nachließ, begann er, auf die Helme und Schwerter zuzuhüpfen. Er bemühte sich gar nicht erst, dabei leise zu sein. Wer immer sich um ihn gekümmert hatte, wusste, dass er am Leben war, und hatte ihn mit Absicht hier untergebracht. Wenn sie ihn an irgendetwas hindern wollten, sollten sie nur kommen und es versuchen. Er hätte nichts dagegen, jemandem kräftig eins über den Schädel zu ziehen.

Er kam an einem Haufen salzverkrusteter Lumpen vorbei und erkannte, dass es sich um seine Tunika und seinen Umhang handelte. Aedan setzte seinen Weg unbeirrt fort.

Die an seinem Bein festgeschnürten Holzlatten waren zu lang, um damit richtig gehen zu können; er blieb immer wieder an losen Steinen hängen, sodass ihm der Schmerz bis in den Rücken schoss. Er brauchte eine halbe Ewigkeit, um das Zimmer zu durchqueren. Aber er schaffte es.

Ächzend hob er den Helm hoch, der ihm am nächsten war. Das riesige Ungetüm bestand aus Bronze und angelaufenem Silber. Achtlos ließ er ihn fallen, und er landete krachend auf dem Boden. Eins der beiden gekreuzten Schwerter war nutzlos. Es war seltsam verbogen, und die Spitze war abgebrochen. Das andere sah vielversprechender aus. Es war eindeutig sehr alt, breit und schlicht und mit Rost bedeckt. Aber das Heft war noch mit dem ursprünglichen Leder umwickelt, und die Klinge gab einen reinen Klang von sich, als er sie kurz gegen die Wand schlug. Mit dem Schwert in der Hand fühlte er sich gleich ein bisschen besser, und mit ein paar unbeholfenen, taumeligen Schritten schaffte er es bis zum nächsten Fenster.

Nackt, lahm, aber bewaffnet betrachtete Prinz Aedan von Kelmere den Ausblick, der sich ihm bot. Und im Bruchteil eines Augenblicks begriff er, dass er nicht wieder nach Hause zu seinem König oder seinen Leuten kommen würde … nie wieder.

Zeiten der Leidenschaft

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