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Die ersten Momente waren immer wie ein Segen. Eine wundervolle Erleichterung, während sie das Gefühl von Richtigkeit durchströmte und das Salzwasser alle Unreinheiten wegspülte. Io spürte, wie der Schmerz der Verwandlung von ihr Besitz ergriff, und unterwarf sich ihm, ja, genoss ihn sogar, während um sie herum Blasen aufstiegen und die Veränderung sich näherte, kam – ja –, und plötzlich waren ihre Beine fort, und sie hatte ihre wahre Gestalt zurück, ihre herrliche, prächtige Gestalt.

Vom Kopf bis zu den Hüften blieb sie dieselbe, mit Armen und Brüsten, um die das lange Haar floss. Doch unterhalb ihrer Taille begann der Zauber: der Schwanz einer Meerjungfrau in schimmerndem Grün. Ein vollkommener Schwanz, dessen einzelne Schuppen mit Silber eingefasst schienen, als wären sie mit glitzerndem Frost überstäubt.

Sie drehte sich vor Freude im Wasser, atmete es ein und streckte ihre Schwanzflosse. Sie war so ein natürlicher Bestandteil ihres Körpers wie ihre Füße an Land. Instinktiv wusste sie, wie sie sie bewegen musste, in welche Richtung sie das Wasser drücken musste, um voranzukommen. Sie – die Königin der Meere – verband Kühnheit und Anmut in sich. Dies war ihr unumstrittenes Reich. Sollte der Mann doch jetzt noch an ihr zweifeln.

Io stieg an die Oberfläche, wo der Schotte stand und sie beobachtete. Er war wieder zu Stein geworden. Keine Regung war seiner Miene zu entnehmen. Er stützte sich schwer auf seinen Stock.

»Ich bin die Letzte«, sagte sie, während sie sich vom Wasser tragen ließ. »Es gibt keine anderen mehr von unserer Art.«

»Ich glaube, ich habe diese Geschichte schon gehört.« Sein Gesicht zeigte keine Empfindungen und gab auch keinen Hinweis darauf, was er über sie dachte. Da waren nur diese bewusst leeren Augen.

»Dann kennst du die Geschichte also doch?«

»Geschichte?« Er lachte. Der Klang hallte in der Höhle wider. »Aye. Ich kenne sie.«

»Dann kennst du mich«, sagte sie erfreut. »Ich bin das Kind vom Kind des Kindes jener ersten Sirene.«

»Gewiss. Das ist völlig klar.«

Sie schwamm ein bisschen näher heran, wobei sie sein Gesicht keinen Moment aus den Augen ließ. »Würdest du gern zu mir ins Wasser kommen?«

»Nein, danke«, sagte er sehr höflich. »Das würde ich nicht.«

»Du magst das Meer nicht?«

»Nein.«

»Es würde dir gefallen.«

»Das glaube ich nicht.«

»Doch, würde es.« Die Tropfen, die in ihren Wimpern hingen, strahlten in allen Regenbogenfarben. Sie strich über das Wasser und ließ es durch ihre Finger gleiten. »Es ist nicht kalt.«

»Wer's glaubt, wird selig.«

»Nun ja, nicht sehr kalt«, korrigierte sie sich. »Und mit mir an deiner Seite wirst du es gar nicht merken.«

»Das kann ich schon eher glauben.« Seine Stimme klang fest. Trotz seiner Größe wirkte er plötzlich seltsam zerbrechlich, dieser hoch gewachsene Mann, der aus warmen Muskeln und einem schlagenden Herzen bestand – und doch hatte Io das Gefühl, dass sich ein versteckter Riss auftun würde, wenn sie ihn auch noch so leicht anstieß. Er würde in unzählige scharfe Stücke zerspringen.

Sie konnte nicht zulassen, dass das geschah.

Sie schwamm dichter heran, und ihr Haar, das ein Spielball der Wellen war, trieb vor ihr.

»Komm zu mir ins Wasser, Aedan.«

»Nein.«

Wieder prallten ihrer beider Willen aufeinander. Doch sie würde diese Runde gewinnen, sie musste einfach.

»Komm rein«, lockte sie mit Sirenengesang und sah zu, wie seine Entschlossenheit ins Wanken geriet. Er tat einen zögernden Schritt auf sie zu, wobei er den anderen Fuß hinterherzog. Und noch einen.

Sie trafen sich an der Kante des Stegs. Sie hielt sich mit beiden Händen daran fest und schaute zu ihm nach oben.

»Du bist wunderschön«, sagte er. Aber er klang wütend.

»Ich weiß.« Sie berührte seinen gewundenen Stock, dessen Rinde vom Meer abgeschliffen worden war. »Den wirst du hier unten nicht brauchen.«

Er setzte sich hin und schaute sie aus mit schwarzen Wimpern umkränzten Augen an. Der Stock rollte leise davon. Der Bartwuchs auf seinen Wangen verlieh ihm ein leicht verruchtes Aussehen. In seinen Augen waren Anspannung und vorsichtige Zurückhaltung zu erkennen. Sie schenkte ihm ein Lächeln und streckte ihre Hand nach ihm aus, um ihn noch dichter heranzuziehen.

»Hier unten«, versprach ihm Io leise, »kannst du fliegen.«

Etwas in seiner Miene änderte sich. Er war immer noch wütend, immer noch vorsichtig – aber da war jetzt auch noch etwas anderes. Plötzlich nahm er sie bewusst wahr. Sein Blick glitt nach unten und musterte ihre nackten Schultern, ihre Brustspitzen, die undeutlich unter der Wasseroberfläche zu sehen waren. Sie spürte diesen Blick. Ein leises Feuer erwachte in ihrem Blut zum Leben, in ihrem Bauch begann es zu kribbeln. Ihr Lächeln schwand. Eine ganze Weile lang sahen sie einander nur an.

Dann bewegte er sich. Voll bekleidet ließ er sich mit den Füßen voran ins Wasser fallen und tauchte sofort unter. Ione schloss kurz die Augen, schüttelte den Kopf und folgte ihm.

Sie hatte ihn nicht gefragt, ob er schwimmen konnte. Sie würde ihn beschützen und nicht aus der Sicherheit der Grotte lassen, also spielte es kaum eine Rolle. Aber dann sah sie, dass er sogar mit seinem verletzten Bein gut zurechtkam. Mit starken, schnellen Bewegungen zog er durchs Wasser. Er musterte sie und dann den Grund der Grotte. Dann blickte er wieder sie an, während ihrer beider Haar sich in der Strömung schlängelte.

Ione nahm seine Hände. Eine legte sie sich auf die Schulter, sodass er nicht selbst schwimmen musste, und die andere auf ihre Taille, womit sie ihn einlud, sie zu erforschen. Sie trieben ruhig im Wasser, und es war genau so, wie sie gesagt hatte: Er trieb schwerelos dahin wie ein Vogel am Himmel.

Am Anfang spürte sie die Abwehr in seiner Berührung, er bewegte seine Finger kaum. Aber als das Wasser sie sanft wiegte, wurde er kühner und erforschte die Form ihrer Taille und ihrer Rippen. Sein Handrücken strich kurz über ihren Busen, sodass ihre Sinne in Aufruhr gerieten. Doch schon glitt seine Hand weiter zu ihren gerundeten Hüften … und dann tiefer, wo die kleinsten Schuppen begannen und gleichmäßige, schöne Reihen bildeten.

Während die Halme des Seegrases träge um sie schwebten und im Beisein von Seesternen, Krebsen und glitzernden Fischen ließ Aedan seine Hand über ihren Schwanz nach unten gleiten.

Und dann, oh welch Entzücken – lächelte er.

Ione küsste sein schönes Lächeln, seine Lippen waren fest geschlossen. Ehe er reagieren konnte, nahm sie ihn in die Arme und trieb sie beide mit ein, zwei kräftigen Schwanzschlägen zurück zur kühlen Luft der Grotte.

Keuchend brach er durch die Wasseroberfläche und schüttelte sich das Haar aus dem Gesicht. Sie fand seine Hand und verwob ihrer beider Finger miteinander.

»Würdest du gern mehr sehen?«

»Aye«, sagte er mit hellblau glitzernden, klaren Augen.

Sie zog ihn zurück zum Boden der Grotte.

Der Meeresgrund war voller Schätze, wenn auch nicht die Sorte, die man auf Schiffen oder in Schlössern findet. Hier erhoben sich mächtige Pfeiler aus Fels, die Seepferdchen und Napfschnecken, Jakobsmuscheln und vorbeischnellenden schwarzen Elritzen ein Zuhause gaben. Es gab große, fächerförmige Wasserpflanzen, die in allen erdenklichen Rottönen schimmerten; Mollusken in tintenblauen Gehäusen, graue Meeräschen, einen jungen Hai, der sich hinter Blasentang verbarg. Sie zog den Schotten an all diesen Dingen und noch viel mehr vorbei, bis sie den strahlenden Lichtkreis erreichten, durch den man ins offene Meer gelangte. Gemeinsam schwammen sie durch das Höhlenportal.

Seine Hand lag fest in ihrer. Der Auftrieb des Wassers zog sie aus der Grotte in hellere und wärmere Gewässer. Sie brachte sie wieder nach oben an die Luft, und als Aedan seine Lunge diesmal mit Luft füllte, schäumte das Meer in seinen Haaren, und die Gischt ergoss sich wie feiner Nebel über sie. Er drehte sich im Wasser und betrachtete die Klippen von Kell, die sich über ihnen erhoben und die mit grünen Flecken aus Gräsern und Büschen übersät waren. Dann schaute er in die andere Richtung auf die offene See.

»Dort«, sagte er und deutete auf eine Stelle, wo sich die Wellen V-förmig brachen. »Bring mich dorthin.«

Das tat sie und brachte ihn in südliche Richtung, wo die Strömungen zusammenliefen und einander kreuzten wie beim Flechten eines Korbes, sodass die Wellen gegeneinander krachten.

Aedan paddelte mit seinem gesunden Bein und ließ das andere hängen, sodass er sich an einer Stelle halten konnte, während er Wind und Wasser musterte. Von hier aus wirkte Kell wie ein grüner Zufluchtsort, das einzige Land in Sicht, das am Meereshorizont immer wieder aufstieg und sank. Die Reihen aus doppelten Wellen, die er beobachtete, führten geradewegs dahin zurück.

Das war also der Weg nach Hause.

Seine Atmung war jetzt angestrengter. Ione runzelte die Stirn.

»Es reicht«, sagte sie, und ohne Vorankündigung schlang sie ihre Arme um ihn und zog ihn unter Wasser. Er meinte zu ersticken, konnte sich aber trotzdem nicht rühren. Er wollte sich nicht bewegen, denn sie trieb sie beide so schnell durchs Wasser, dass er die vorbeirauschende See kaum bemerkte. Er spürte einen Druck, einen gewaltigen Druck auf sich. Sie war ihm ganz nah, und ihre Arme lagen fest um ihn. Er behielt die Augen offen, auch als sein Blick sich zu verdunkeln begann und das Rauschen in seinen Ohren immer lauter wurde. Als er es nicht mehr ertragen konnte, als seine Brust sich aufbäumte, um sich Erleichterung zu verschaffen, und sein Kopf gegen sie stieß, war plötzlich fester Boden unter ihm, und er spürte den Wind auf seinem Gesicht.

Aedan brach keuchend in der Brandung zusammen und ließ sich von den Wellen hin- und herwerfen. Ione sah er nicht, nur den feuchten, weichen Sand und in der Ferne einen neugierigen Seehund, der ihn aus dunklen Augen beobachtete.

Dann schoben sich zwei Beine zwischen ihn und den Seehund. Wohl geformte Beine, die in wohl geformte Schenkel und wohl geformte Hüften übergingen – aber an dieser Stelle schloss Aedan die Augen, hustete und rollte sich auf den Rücken.

Er hörte, wie sie sich neben ihn setzte, hörte das leise Rauschen von Sand in der Brandung.

»Es tut mir Leid«, erklärte Ione sehr sachlich. »Unter Wasser schwimme ich schneller. Ich dachte, du hättest genug Luft geholt.«

Es gelang ihm, ein Stöhnen zu unterdrücken, und er warf sich einen Arm über die Augen. Die Sonne wärmte ihn aus der Ferne, und der Strand war wie eine weiche Wiege. Mit jeder Welle versank er tiefer darin, aber er machte sich noch nicht einmal die Mühe aufzustehen.

»Du wirst in der Sonne verbrennen«, sagte die Sirene. Sie klang nicht besorgt.

Er zog seinen Arm etwas zur Seite und sah, dass sie mit fest geschlossenen Beinen neben ihm kniete. Ihre Hände lagen in ihrem Schoß: Ihre Haltung war sehr sittsam, doch ihre völlige Nacktheit verdarb diesen Eindruck. Ihr Haar klebte in verführerischen rotgoldenen Strähnen an ihrem Körper. Die schäumende Brandung schuf immer wieder den Eindruck, sie würde einen Rock tragen. Ihre Augen waren tausendmal blauer als der Himmel.

Natürlich war sie eine Meerjungfrau. Natürlich.

Und sogar hier – während der Ozean an ihm zerrte und er zu erschöpft war, um sich von der Sonne wegzudrehen – war sein Verlangen nach ihr wie ein ziehender Schmerz, der unter seiner Haut pochte. Aedan schluckte und wandte den Blick ab.

»Wie lange bin ich schon auf Kell?«, fragte er, als er wieder sprechen konnte.

»Fast zwei Wochen«, erwiderte sie prompt.

Zwei Wochen. Eigentlich kein langer Zeitraum – doch er wusste, dass Königreiche schon innerhalb eines Tages gestürzt worden waren. Zwei Wochen konnten für Kelmere eine Ewigkeit sein.

»Stimmt es, dass sich kein Schiff dieser Insel jemals unbeschadet genähert hat?«

»Das stimmt.«

»Noch nicht einmal jenseits des Riffs?«

»Wenn man nah genug ist, um das Riff zu sehen, bedeutet das das Ende für jedes Schiff«, erklärte Ione, während der Wind mit ihrem trocknenden Haar spielte.

»Und jenseits davon?«

»Jenseits davon – du meinst draußen auf dem Meer?«

»Aye.«

Sie antwortete nicht. Sie kniff die Augen zusammen, hob beunruhigt eine Hand und strich sich das Haar aus dem Gesicht.

»Wo wir gerade gewesen sind«, erklärte Aedan weiter, »da draußen, weit draußen. Ist es dort sicher?«

»Daran hast du also gedacht, als du mich batest, dich dorthin zu bringen? An Schiffe, die Kell nicht zum Opfer fallen?«

»Nein.« Schließlich setzte er sich doch auf. »Ich denke an Schiffe, die Kell verlassen könnten.«

»Verlassen?«, wiederholte sie mit dumpfer Stimme. »Warum solltest du Kell denn verlassen wollen?«

Darauf gab es zu viele Antworten – wegen des Königs, wegen Callese, wegen der Pikten, der Festung, der vielen Hundert Pächter, Bauern und Fischer, die ihn brauchten. Da waren Mòrag und die nicht befriedeten Wälder, die großen Schaf- und Rinderherden seiner Leute, die Sachsen und Angeln und die Hinterhalte.

Die beiden Männer, die ihn mit einem Boot entführt und auf dem Meer zurückgelassen hatten, damit er ertrank.

»Wenn ich nur irgendein Boot hätte – vielleicht eins von denen, die auf dem Riff gestrandet sind – könntest du mich dann in sichere Gewässer lotsen? Könntest du mich vielleicht sogar zu einer der anderen Inseln bringen?«

Sie wich vor ihm zurück und erhob sich. Die Sonne stand hinter ihr, sodass er ihr Gesicht nicht sehen konnte.

»Warum sollte ich das tun?«, fragte sie ihn kalt.

»Weil ich es nicht allein schaffen kann.« Vorsichtig kam auch er hoch und fand sein Gleichgewicht im weichen Sand.

»Nein, das kannst du nicht. Und ich werde Kell nicht verlassen, Schotte. Schlag dir diese Gedanken aus dem Kopf. Du wirst hier bleiben.«

Es war ihm gelungen, sie zu provozieren. Sie stolzierte davon, wieder auf das Wasser zu. Das Meer hieß sie mit funkelnden weißen Wellen willkommen, und der Seehund schnaubte, bellte und watschelte hinter ihr her. Sie verschwanden beide aus seiner Sicht, ohne eine Spur zu hinterlassen.

Als er zu seinem Signalfeuer ging, um neues Holz aufzulegen, musste Aedan feststellen, dass es ausgetreten worden war und Sand jedes einzelne Stück Holz bedeckte. Nicht einmal ein winzig kleines Flämmchen hatte überlebt.

Eigensinnig fegte er den Sand beiseite, sammelte neues Holz und errichtete wieder sein Leuchtfeuer.

Es dauerte Tage, ehe sie zurückkehrte – fünf, um genau zu sein. Es reichte, um einen ganzen Berg von Treibholz zu verbrennen. Aedan nutzte die Stunden, so gut er konnte, indem er das Feuer unterhielt und mit Hilfe einer neuen Krücke Schloss und Insel langsam humpelnd zwar nicht schnell, aber gründlich erforschte.

Er war nicht daran gewöhnt, tagelang allein zu sein. Auf Kelmere war er ständig von Leuten umgeben, die ihm Fragen stellten und um seinen Rat baten. Er war ein Prinz, an den man sich wandte und der mit den Leuten redete. Die Ruhe von Kell zehrte an seinen Nerven und erinnerte ihn an eine Jagd im Winter, die er vor zehn Jahren unternommen hatte. Es war ein einsamer Streifzug ins frostige Innere seines Territoriums gewesen, ein Brauch seines Volkes, der mehr als nur ein paar der jungen Männer bezwungen hatte – und für den Aedan über einen Monat gebraucht hatte.

Und wie bei jenem vergangenen Streifzug konnte es auch hier nur ein ehrenhaftes Ende geben.

Kelmere konnte ohne Erben nicht überleben. Die Inseln waren fruchtbar und die Menschen weit verteilt. Das Königreich der Inseln zeigte eine große Vielfalt, denn im Gegensatz zu anderen Reichen waren alle Menschen willkommen, solange sie für ihren Unterhalt arbeiteten und dem König Lehnstreue schworen. Doch es gab immer noch gelegentlich Zank und Streit, örtlich begrenzte Meinungsverschiedenheiten, belanglosen Ärger, der jedoch ohne das Eingreifen des Königs die Möglichkeit in sich barg, sich zu ernsten Unruhen zu entwickeln.

Schlimmer war aber die Bedrohung von außen, einfallende Horden, die entschlossen waren zu stehlen, was ihnen nicht gehörte. Im Innern seines Kriegerherzens verstand Aedan sie: Wäre er ein Pikte, Sachse oder Angel gewesen, hätte er das Gleiche getan. Ländereien waren dazu da, erobert zu werden. Die Heimat war dazu da, verteidigt zu werden.

Das war es, was er so gut machte – gemacht hatte.

Ohne ihn wurde das ganze Schicksal des Königreiches in Frage gestellt. Er nahm an, dass Callese unter Umständen zur Thronerbin erklärt wurde. Man hatte schon davon gehört, dass Frauen Herrscherinnen gewesen waren. Aye, in alten Zeiten war das sogar recht verbreitet gewesen. Es bestand die Möglichkeit, dass der Rat ihr erlaubte, die Position einzunehmen, wenn auch nur dem Namen nach …

Doch gleich wie man die Situation handhabte, würden bald Freier auftauchen. Ihre Hand, die bereits so begehrt war, würde nun die wertvollste Partie in fünf Königreichen sein. Im Rahmen der Wahl ihres Bräutigams würden Bündnisse geschmiedet werden – und Feindschaften entstehen. Und Kelmere hatte bereits so viele Feinde.

Das Volk brauchte einen starken Herrscher, der sie an den Thron und aneinander band. Mit Aedans Vater hatten sie so einen Herrscher gehabt. Doch im Gegensatz zu anderen wusste Prinz Aedan etwas, das andere nicht wussten – dass der König sterbenskrank war. Er würde den Winter nicht überleben.

Immer wenn Aedan daran dachte, schien sich eine schwere Decke über ihn zu legen, sodass er meinte zu ersticken. Es war unbedingt nötig, dass er in die Burg zurückkehrte, ehe sein Vater starb. Das war für Kelmere wichtig – und für ihn.

Er musste Lebewohl sagen.

Jeden Tag ließ er seinen Blick auf der Suche nach Schiffen über das Meer schweifen. Doch jeden Tag sah er nur die blanke See.

Er beschloss, die Nahrungsmittel der Seeleute aufzubewahren und sich seine Mahlzeiten selber zu beschaffen, indem er mit Hilfe eines alten Fischernetzes so viel wie möglich aus den Wattseen fischte. Bald kannte er sich in der Küche von Kell gut aus – er wusste, wo Töpfe verstaut waren, die er gebrauchen konnte, wo Flaschen, Geschirr standen und sogar, wo der Brunnen war. Er stieß auf einen Lagerraum, der nach Gewürzen und Ölen duftete, und benutzte beides für seine Mahlzeiten. Er erforschte die ungenutzten Räume der Festung, fuhr mit den Fingern die Fugen der Steine nach und fragte sich, wer sie wohl behauen und mit Mörtel verbunden hatte.

Er ging wieder in die türkis schimmernde Grotte zurück. Sie war leer. Und dann zum Strand, der noch leerer war. Er entdeckte die Überreste einer Gartenanlage mit Spalieren, Rankgewächsen und Rosen, die wild wucherten.

Er rasierte sich den Bart mit Wasser und einer scharfen keltischen Klinge ab. Ein poliertes Stück Blech diente ihm dabei als Spiegel.

Er fand eine Lampe, die ihm nachts den Weg leuchtete, ein schwaches gelbes Licht, das die Dunkelheit vertrieb.

Und schließlich suchte er die Ufer nach verunglückten Schiffen ab und begann, Stück für Stück Dinge für seine Reise nach Hause zu sammeln.

Manchmal beobachtete ihn der Seehund bei der Arbeit – ob es derselbe Seehund war oder ein anderer, konnte Aedan nicht erkennen. Er nahm an, dass es sich um denselben handelte. Oder gab es noch andere, die genauso gefleckt und neugierig waren, ihren schlanken Kopf aus den Wellen streckten, sodass die langen Barthaare glitzerten? Er kam nie nah heran, sondern sah ihm nur dabei zu, wie er schwitzend und keuchend zerbeulte Schiffsrümpfe, Ruder und Taue über den Strand zog. Immer wenn Aedan eine Pause einlegte, schien der Seehund ihm zuzunicken, um dann wieder abzutauchen.

Nie sah er Ione, immer nur den Seehund.

Am Tage holte er sich Blasen an den Händen, und seine Augen brannten, weil er immer Ausschau hielt. Doch des Nachts beim Schein seiner angelaufenen Messinglampe schien all seine Wachsamkeit vergebens zu sein.

Sie beherrschte all sein Denken und auch seine Träume. Ihre Berührungen, ihr Lächeln verfolgten ihn. Er erinnerte sich daran, wie sie im Wasser ausgesehen hatte: das in der Sonne strahlende Haar, die Wölbung ihrer Brüste. Er dachte daran, welche Empfindungen ihre Flossen – Flossen – in ihm ausgelöst hatten, wenn sie damit über seine Haut gestrichen hatte. Er dachte an die Erregung, das Gefühl einer langsamen, in den Wahnsinn treibenden Verführung.

Er wollte sie. Oh ja.

Er bemühte sich, wieder zur Vernunft zu kommen und seine Bedenken wach zu halten. Wenn dies ein Spiel sein sollte, dann hatte sie es bereits gewonnen. Allein durch ihre Abwesenheit war er dazu verdammt, an sie zu denken und ihre weiße Haut, ihren weichen Körper, ihre willigen Hände und ihren Mund zu verfluchen.

Aufhören, aufhören, lieber Himmel, aufhören.

Als die Tage vergingen, nahm Aedan Zuflucht zu Tricks, um sie aus seinen Gedanken zu vertreiben: Er rief sich die vielen Aufgaben, die auf ihn warteten, in Erinnerung, zählte die Stufen von den Stallungen bis zum Festungsturm, beschrieb bis ins Detail das genaue Aussehen des geschnitzten Kreuzes, das im großen Saal hing … aber es waren alles nur Tricks, die mit Leichtigkeit von jener stärkeren, dunkleren Macht in ihm überwältigt wurden.

Allmählich brachen seine guten Vorsätze in ihm zusammen. Er beschwor die Erinnerung an Kelmere herauf, aber er konnte nur noch Kell sehen. Er presste sich die Fäuste auf die Augen und dachte intensiv an die Schlachten, die er geschlagen hatte, wobei er sich so sehr auf seine Erinnerungen konzentrierte, dass er wieder den Gestank brennender Felder in der Nase hatte und die Schwerter hinter seinen Lidern aufblitzten. Er dachte verzweifelt an Regen, Schnee und an die Hatz von Hirschen durch den Wald. Er dachte an die Fuchswelpen, die jedes Jahr am Ende des Winters geboren wurden, und das Herbstlaub des Espenwäldchens jenseits der Burgmauern. Er dachte an sein Zuhause, er konzentrierte sich darauf und rief sich alle Details in Erinnerung.

Aber immer und immer wieder träumte er von Ione.

Er musste Kell verlassen, und es musste schnell geschehen. Sie würde nicht mehr lange fortbleiben. Er fürchtete, wenn er nicht bereit war zu gehen, wenn sie das nächste Mal zu ihm kam, würde sie vielleicht in der Lage sein, ihn zum Bleiben zu überreden. Er würde seinen Vater, sein Königreich vergessen, würde es voller Glück vergessen, während er sich in ihren Armen verlor. Aye, sie war ihm in jeder Hinsicht überlegen: Sie besaß Magie und Verlangen, indigoblaue Augen, süßes, verführerisches Fleisch …

Er stellte sich vor, wie er sie liebte, ihre Schenkel spreizte und sich wie schon zuvor in ihr vergrub, sich fallen ließ, immer und immer wieder, bis es keine Rolle mehr spielte, wo er lebte oder starb. Es wäre ein Leichtes. So einfach, dass sogar seine Tagträume ihn über Stunden beschäftigten und er sich dabei ertappte, wie er feurig Mauern oder Bäume anstarrte und dabei völlig entbrannt und nicht ganz bei Sinnen Ione sah und spürte.

Er musste fort.

Aber dann kehrte sie am fünften Tag zurück, und Aedan begann zu begreifen, dass es für ihn bereits zu spät war.

Zeiten der Leidenschaft

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