Читать книгу Zeiten der Leidenschaft - Shana Abe - Страница 7
3
ОглавлениеEin Mann auf ihrer Insel.
Ein Mann in ihrem Zuhause.
Ione runzelte die glatte Stirn und biss sich auf die Unterlippe, während sie mit einem Finger Kreise in den Sand neben ihren Füßen zog. Mit untergeschlagenen Beinen saß sie schweigend im Schatten ihres Schlosses und ließ es zu, dass ihr der Wind ihr feines Haar ins Gesicht wehte. Über ihr wölbte sich der strahlend blaue Himmel und lud sie ein, ein Bad im Meer zu nehmen. Aber Io rührte sich nicht. Während sie mit dem Rücken an einem Stein lehnte, stellte sie sich vor, dass niemand sie sehen könnte, nicht einmal die Wolken.
Sie hatte etwas Gefährliches getan, etwas Schreckliches, und sie wusste nicht, wie sie es wieder rückgängig machen sollte. Sie wusste noch nicht einmal, ob sie das überhaupt wollte.
Ein Sterblicher, ein Mann schlief in ihrem Bett, verströmte seinen Duft in ihre Laken, seine Wange lag auf ihrem Kissen. Und sein Gesicht erst, oh, sein Gesicht …
Das erste Mal hatte sie ihn im Licht des Unwetters gesehen, als er von den Wellen hin- und hergeworfen wurde. Und sogar in dem Moment, als er vor ihren Augen ertrank, hatte er dunkel und schön ausgesehen.
Es war eine schreckliche Nacht gewesen. Solch ein Gewitter zusammen mit dem wütenden Toben des Meeres und den tiefen und starken Strömungen hatte Ione noch nie erlebt. Es war eine trügerische Nacht gewesen und sogar für sie gefährlich. Aber trotzdem war sie gegangen. Es hatte sie in einer Weise zum Meer gezogen wie noch nie zuvor. Und sobald sie im Wasser gewesen war, hatte auch sie den Elementen nicht trotzen können. Genau wie jenes kleine Boot war sie dem Meer hilflos ausgeliefert gewesen, doch sie hatte sich hineingeworfen und panisch nach dem gesucht, das sie dazu brachte, bei diesem Unwetter draußen auszuharren.
Nach ihm hatte sie gesucht. Io hatte es im ganzen Körper gespürt, jenen unsichtbaren Ruck, der sie bei seinem ersten Anblick durchzuckte: die dem Tode geweihte Anmut, mit der der Mann in die Tiefe des Meeres gezogen wurde.
Er hatte schwer und leblos in ihren Armen gelegen, sodass sie schon gedacht hatte, sie wäre zu spät gekommen. Eine dunkelrote Wolke aus Blut strömte aus einer Wunde an seinem Kopf. Doch selbst im Tod war er das schönste menschliche Wesen, das sie je gesehen hatte. Sein Haar hatte im Wasser blauschwarz geschimmert und sein Gesicht Kälte und gleichzeitig klassische Schönheit ausgestrahlt. Ein Paradebeispiel dafür, was die Natur hervorbringen konnte: eine gerade Nase, ein kräftiger Kiefer, geschwungene Lippen, die sehr sinnlich und doch männlich waren. Die geschlossenen Augen mit den eleganten schwarzen Wimpern harmonierten mit dem Schwung seiner Augenbrauen.
Seine Augen hatten sich geöffnet. Sie waren von einem silbrigen Grau, das an Sternenlicht bei Sturm erinnerte.
Wieder an der Wasseroberfläche, hatte er nichts von seiner Schönheit verloren, und als er keuchend Luft geholt hatte, hatte sie eine unerwartete Erleichterung verspürt. Er würde überleben. Aus Gründen, die jenseits ihres Begriffsvermögens lagen, hatte sie ihn gerettet, und er würde überleben.
Weil sie nicht gewusst hatte, was sie tun sollte, hatte Ione ihn mit nach Hause gebracht, jenen heiligen, geheimen Ort. So etwas hatte sie noch nie zuvor getan, sie hatte es noch nicht einmal in Erwägung gezogen. Einen Mann nach Kell zu bringen bedeutete, den Zorn des Fluches auf sich zu ziehen … doch er war verletzt, und er blutete. Er hatte silberne Augen. Inmitten der unermesslich hohen Wellen schienen alle anderen Ufer plötzlich viel zu fern.
Also hatte Ione ihm Unterschlupf gewährt und ihm ihr Bett gegeben, wo er gar nicht mehr aufgehört hatte zu schlafen, während sie ihn voller Muße hatte betrachten können.
Jetzt endlich wusste sie, warum sie es getan hatte. Sie begriff, worin seine Anziehungskraft bestand, warum sie so viel nur für einen sterblichen Mann, wie schön er auch sein mochte, aufs Spiel gesetzt hatte.
Drei Tage waren vergangen. Drei Nächte.
Heute war ein heller und strahlend schöner Tag, und das Meer glitzerte verlockend. Der Wind sang ein Lied von Walen und Delfinen, rosigen Wolken und Sonnenlicht, das sich in den verspielten Wellen brach.
Ione schaute auf, als sie im oberen Turmfenster eine Bewegung wahrnahm und ein Gesicht und dunkles Haar erspähte. In der viereckigen Ausbuchtung wirkte er schmal und wild wie ein einsamer, in einem Steinbau gefangener Wolf. Gebannt betrachtete er den Ausblick, den sie so sehr liebte. Seine Finger lagen verkrampft in der Fensterlaibung.
Das Gefühl, das in ihr aufstieg, kam Bedauern unangenehm nah. Io stand auf und zog sich tiefer in den Schatten zurück. Dann drehte sie sich um und lief an der zum Meer weisenden Mauer entlang, bis sie die schaumige Brandung erreichte.
Sie musste nachdenken. Sie würde bald wieder nach Hause zurückkommen.
Immerhin war die Tür seines Zimmers nicht abgeschlossen.
Aedan verweilte dort schweigend, während er seinen Blick durch den schattigen Korridor schweifen ließ. Sein eigener Schatten verschmolz fast vollständig mit der Dunkelheit des Gangs: ein großer Mann mit Beinschienen in einer zerlumpten Tunika, die schmale Linie des Schwertes, das er in der Hand hielt, der lange Speer, den er als Krücke benutzte.
Wie die anderen seltsamen Gegenstände dieses Ortes kannte er auch diese Art von Speer nicht. Ein schwerer, mit einer Sehne umwickelter Stock aus rötlichem Holz, an dessen Ende mit einem geflochtenen Lederstreifen etwas befestigt war, was wohl einmal Federn gewesen waren. Er hatte ihn schräg an einer Wand lehnend entdeckt, wo man ihn wohl wie seine Kleider hingeworfen und vergessen hatte. Der polierte Schaft wies viele Kerben auf und schien noch bis vor kurzem, ehe er beschädigt worden war, in Benutzung gewesen zu sein. Aedan brauchte nicht lange darüber zu rätseln, wo er wohl herkommen mochte – diese seltsame Waffe stammte aus dem Meer. Auch alles andere, was er hier sah, hatte das Meer an Land geschleudert, wovon die unzähligen Schiffswracks, die sich unter seinem Fenster auftürmten, beredt Zeugnis ablegten.
Er befand sich auf einer Insel. Es handelte sich nicht um eine der Inseln, die in den Herrschaftsbereich seines Vaters fielen – diese Insel gehörte nicht zum Königreich. Doch im tiefsten Innern wusste Aedan mit absoluter Sicherheit ganz genau, wo er sich befand.
Er war auf Kell.
Eigentlich unmöglich und völlig unglaublich – aber aye, Kell.
Es gab keine Fackeln, Lampen oder Kohlenbecken, die er hätte anzünden können, trotzdem war der Gang nicht gänzlich leer. Von seiner Tür aus konnte er zerbrochene Möbelstücke und kaputtes Geschirr sehen. Der Boden selber schien auch ohne Licht zu glitzern. Verwirrt machte er einen Schritt nach vorn. So weit sein Auge reichte, bedeckten Münzen den Steinfußboden. Es waren unzählige kleine Sonnen und Monde, Münzen aus Gold, Silber und dem dunklen Grün alter Bronze.
Himmel. Ein wahres Vermögen lag zu seinen Füßen und setzte Staub an.
Kell, Kell, das unbekannte Eiland und Verderben der Seeleute …
»Hallo«, rief Aedan und hob das Schwert. Das Echo seines Grußes verhallte ungehört. Er holte tief Luft und bekämpfte die Schwäche, die es ihm immer wieder dunkel vor Augen werden ließ. Dann hüpfte er barfuß und mit seiner Beinschiene in den mit Münzen bedeckten Korridor.
Seine Stiefel hatte er noch nicht wiedergefunden.
Kell, Kell – Land der Mythen und des Vergessens. Aedan war mit der Sage aufgewachsen, der Legende von der Meerjungfrau und dem Fischer und ihrer Liebe, die ein schreckliches Ende genommen hatte. Nur die Abergläubischsten hielten diese Geschichte noch für wahr. Kell war eine Insel, doch mehr nicht. Seit Menschengedenken war sie immer deutlich zu sehen gewesen. Und genauso lange hatte man Kell gemieden. Denn von der Insel ging eine sehr reale Gefahr aus, die sogar noch den Mythos überwog: Kein Schiff konnte sich der Insel nähern. Das hatte sich immer wieder gezeigt. Nie war jemand dichter an die Insel herangekommen als Aedan in seiner Kindheit – und hatte es überlebt.
Die Strömungen in diesem Gewässer waren unberechenbar, tief und gefährlich. Noch nie hatte ihnen jemand getrotzt.
Das stimmt nicht ganz, raunte eine leise innere Stimme. Ein Mann hatte es überlebt. Ein verletzter, verzweifelter Mann war auf dieser verfluchten Insel gestrandet …
Und aus diesem Grunde würde natürlich auch niemand kommen, um ihn zu retten. Man würde noch nicht einmal auf die Idee kommen.
Jedes Mal, wenn er mit dem Speer auf den Boden mit den Münzen stieß, klimperte es, während die Beinschienen über die Erde scharrten. Aedan konzentrierte sich darauf, das Schwert nicht sinken zu lassen, während er sich grimmig entschlossen weiterschleppte und dabei nicht auf den Schmerz in seinem Kopf und die innere Stimme achtete.
Es gab hier noch jemanden – einen richtigen Menschen, keine Sirene und kein Geist, sondern höchstwahrscheinlich ein Überlebender jener Schiffswracks, die er gesehen hatte. Aedan würde ihn ausfindig machen und sich ein paar Antworten holen, auch wenn er dafür diesen Ort Stein für Stein auseinander nehmen müsste.
Klimper, stampf, klimper, stampf. Ein Schritt nach dem anderen. Noch einer. Noch einer.
Er blieb an jeder Tür, an der er vorbeikam, stehen, um wieder zu Atem zu kommen. Die anderen Zimmer zeigten sich in dem gleichen Zustand wie das, in dem er aufgewacht war – voll gestopft mit Reichtümern, seltsamen Gerätschaften und erstaunlichen Entdeckungen. Amphoren, geschnitzte Trennwände, haufenweise glasiertes Geschirr, das solch erstaunliche Farben wie Blau und Weiß aufwies. Er sah riesige Muscheln, Juwelen lagen verstreut herum, und es gab sogar Fischernetze, an denen noch die schimmernden, unbeschädigten Glasschwimmer hingen. An den Wänden standen Statuen von Menschen und Göttern mit fremdländischen Gesichtern, die man aus einem glänzenden Stein gehauen hatte.
In einem Raum befanden sich nur Rüstungen und Waffen. Hier machte Aedan mehr als nur eine kurze Verschnaufpause. In diesem Zimmer gab es genug Waffen, um damit ganz Kelmere auszurüsten. Er nahm einen kunstvoll geschwungenen Dolch mit rasiermesserscharfer Klinge hoch. Zischend zerschnitt er die Luft, aber er würde sein Schwert zurücklassen müssen, wenn er ihn mitnehmen wollte, denn er besaß keine Scheide, in die er ihn hätte stecken können, und noch nicht einmal etwas so Schlichtes wie einen Gürtel.
Aedan legte ihn zurück. Er war sehr gut mit dem Dolch. Aber mit dem Schwert war er tödlich.
Wieder begann sich sein Blick an den Rändern zu verdunkeln. Er nahm an, dass wohl Hunger für seinen Zustand verantwortlich war, und sein gebrochenes Bein verschlimmerte alles zusätzlich. Er schwankte. Er achtete darauf, seine Lunge mit langsamen, bedächtigen Atemzügen zu füllen, und schleppte sich weiter.
Am Ende des Ganges musste er anhalten. Vor ihm lag eine Treppe, deren breite, tiefe Stufen sich nach unten in den Tiefen des Schlosses verloren.
Frustriert schloss er die Augen und lehnte sich gegen eine Wand. Er war gar nicht auf die Idee gekommen, dass er sich in einem der oberen Stockwerke befinden könnte.
Vor ihm erstreckten sich die in gefährliche Schatten gehüllten Stufen, die auch mit Münzen bedeckt waren. Aedan wusste plötzlich, dass er es nicht schaffen würde. Mit diesen Stufen konnte er es nicht aufnehmen, nicht jetzt. Er war erschöpft und zitterte. Sein ganzer Körper pochte vor Schmerz, und alles verschwamm vor seinen Augen.
Doch dann setzte der Speer auf der ersten Stufe auf. Sein gesundes Bein folgte, qualvoll kämpfte er um sein Gleichgewicht. Dann zog er sein linkes Bein nach und unterdrückte den Schrei, der sich seiner Kehle entringen wollte. Sein ganzer Körper war in Schweiß gebadet.
So. Die erste Stufe geschafft.
Der Speer nahm die nächste Stufe in Angriff.
Die vierte Stufe war etwas abschüssig. Der Speer rutschte ab, und er taumelte. Sein geschwollener Knöchel schlug auf der oberen Stufe auf. Der Schmerz, der Aedan durchzuckte, blendete ihn. Er ließ das Schwert los und fiel auf die Knie. Aber das genügte nicht, um den Sturz aufzuhalten. Er überschlug sich dreimal, ehe er sich fangen konnte. Doch dann glitten seine Finger wieder von den Steinen ab, und er fiel weiter die Treppe hinunter.
Die beiden Männer hingen mit geübter Lässigkeit in der Takelage, und ihre Körper folgten dem Auf und Ab des Schiffsrumpfs, während sie die Augen gegen den salzigen Wind zusammenkniffen. Unzählige Stunden hatten sie bereits gemeinsam auf dem Hauptmast verbracht, bei Tag und bei Nacht, bei gutem Wetter und bei schlechtem. Sie waren Seeleute, Händler und bei Bedarf auch Piraten. Doch heute waren sie nur Seeleute, die die erste Etappe einer dreimonatigen Reise angetreten hatten, welche sie nach Süden und Osten und schließlich wieder nach Norden führen würde.
Die Männer arbeiteten schnell, als sie das große weiße Tuch vertäuten, das ihr Segel bildete.
»Was für eine Krankheit hat denn der König? Hast du was gehört?«, rief der jüngere Seemann seinem Gefährten über den Wind hinweg zu.
»Fieber«, erwiderte der andere. »Dämonen im Blut. Der Hof ist in Aufruhr.«
»Aufruhr?« Der Jüngere fing das Seil auf und zurrte es fest. »Du meinst, weil der Prinz tot ist?«
»Das war ein schwerer Verlust für den König.« Der Ältere zog an seinem Ende des Seils. »Wir haben unseren Meister verloren, aber er seinen Sohn – und unser Land seinen Erben. Der König ist immer noch bettlägerig. Man sagt, er würde dieses Fieber nicht überleben.«
»Er trauert um den Prinzen.«
»Aye.«
Der Wind zerrte heftig an ihnen. Beide klammerten sich an das Seil, als der Mast ächzte und das Segel unter ihnen anschwoll. Doch insgesamt war es ein schöner Tag, und die Böe ließ nach. Die Matrosen setzten ihre Arbeit fort.
»Die Pikten werden immer dreister«, meinte der jüngere Mann. »Ich habe gehört, dass es Hunderte gewesen sein sollen. Sie hätten alle bis auf Callese niedergemetzelt.«
»Aye.«
»Aber sie hat überlebt. Der König sollte sich darüber freuen.«
»Aye.«
Wieder drehte der Wind, und wieder hielten sie in ihrer Arbeit inne, bis er sich erneut legte. Doch nachdem der Wind nachgelassen hatte, verspürte keiner der beiden noch das Bedürfnis, die Unterhaltung fortzusetzen. Sie arbeiteten Hand in Hand und konzentrierten sich auf ihre Aufgabe. Als der letzte Knoten festgezurrt war, verweilten sie noch einen Augenblick in angenehmem Schweigen, während sie ins weite Blau blickten, das den Himmel und das Meer, ihre ganze Welt bildete.
Der Jüngere der beiden zuckte plötzlich zusammen.
»Da – schau mal! Hast du das gesehen?«
»Was? Wo?«
»Da! Da! Da ist sie wieder – siehst du sie?«
»Wovon zum Teufel redest du …«
Der Ältere verstummte und starrte aufs Meer.
»Heilige Mutter Gottes«, keuchte der Jüngere. »Sie ist … Sie ist wunderschön!«
Der Ältere wandte sich so abrupt ab, dass er beinahe den Halt verloren hätte. Sein Gesicht war totenbleich. »Sieh nicht hin! Sieh nicht hin, sage ich! Wende dich ab, Junge! Bei deiner Seele, wende dich ab!«
Dann packte er den Arm seines Gefährten und zerrte ihn mit sich. Zusammen hangelten sie sich an der Takelage nach unten. Um die Sicherheit des Decks zu erreichen, ließen sie sich so schnell hinab, dass sie beinahe stürzten.
Vom Wasser aus beobachtete die Meerjungfrau ihren Abstieg, der in seiner Schnelligkeit und von den Bewegungen her an Spinnen erinnerte. Als sie sie nicht mehr sehen konnte, tauchte sie unter die Wellen mit den weißen Schaumkronen. Das rote Haar und die silbrig grünen Flossen schimmerten noch einmal kurz auf, ehe sich das Wasser über ihr schloss.
Nah und fern pflügte sie durch die Meere und folgte dabei denselben Wegen, die ihre Vorfahren schon genommen hatten. Fischschwärme, unterseeische Schluchten und Strömungen wiesen ihr die Richtung. Heute zogen nur wenige Schiffe vorbei. Meist gab Ione sich damit zufrieden, sie aus der Ferne zu betrachten und zu beobachten, wie ihre schwarzen, massigen Silhouetten vor dem Horizont auf und ab schaukelten.
Sie wusste, dass auf diesen Schiffen Seeleute waren. Auf Schiffen gab es immer Seeleute, sogar nach Seuchen, Stürmen oder Wochen fern ihres geliebten Festlandes. Wie die Distel überlebten auch die Menschen jede Katastrophe, die versuchte, sie dem Erdboden gleichzumachen.
Sie ließ sich noch einen Moment von der Strömung treiben, wobei sie das Schiff vor sich beobachtete. Dann strich sie sich die Haare aus den Augen und glitt wieder unter Wasser.
Da unten befand sich eine ganz andere, wunderschöne Welt. Sie kam an Aalschwärmen vorbei, die in schwarzen Spiralen neben ihr durchs Wasser zogen, Seetangfeldern, in denen es vor Fischen nur so wimmelte, und entzückenden Krabben, die zwischen ihren Fingern tanzten. Noch tiefer unten gab es Wälder aus Pflanzen, deren gelblich schimmernde Blätter an Farnwedel erinnerten. Korallenbänke zerfurchten den Meeresboden. Einzelne Krebse krabbelten flink dazwischen umher und hinterließen schwache Abdrücke im Sand.
Sie schwamm langsam, fast schon träge dahin, um das Unausweichliche so lange wie möglich hinauszuzögern.
Ione war hier in diesen Gewässern geboren worden. Sie lebte hier und würde hier auch sterben. Sie kannte alle Launen des Meeres und nahm jede einzelne mit der unendlichen Geduld der Seelenverwandten hin. Doch so gefiel ihr der Ozean am besten, wenn er vom Sonnenlicht durchdrungen wurde und sie von den glitzernden Strahlen umgeben war. Sie liebte die Sonnenwärme, die sich unter den Wellen ausbreitete und die kühleren Wasserschichten weiter nach unten bis zum Grund des Meeres schob, wo alles still und gedämpft war und eine saphirgrüne Dunkelheit herrschte, die dabei half, den Sand, die Pflanzen und die Tiere, die hier lebten, zu verhüllen.
Sie näherte sich dem Ort, wo ihre Mutter getötet worden war. Sie mied diesen Ort und schwamm in einem weiten Kreis um ihn herum, wobei sie tiefer tauchte und die Schatten umarmte.
Doch sie konnte nicht bis in alle Ewigkeit so weiterschwimmen. Der Mann wartete auf Kell auf sie, und es dauerte nicht lange, und Ione erblickte ihre Insel, ihre Perle mitten im blauen Wasser. Sie schwamm an den versteckten Grotten vorbei, die sich unterhalb des Schlosses erstreckten, überwand das gefährliche Riff, an dem unzählige Schiffe zerschellt waren, und die scharfkantigen Felsen, die das südliche Ufer bildeten. Dahinter lag ein Strand, ein schlichter Strand mit schlichtem Sand, auf den Io zuhielt. Als sie dicht genug war, brach sie durch die Wasseroberfläche und strich sich wieder das Haar zurück, wobei sie Wasser gegen Luft tauschte. Das war ein Leichtes für sie und geschah völlig unbewusst, denn es gehörte zu ihrer Natur.
Ganz am Rande des Ufers hielt sie inne. Sie befand sich immer noch in der schaumigen Brandung, und in ihrer wahren Gestalt schaffte sie es nicht weiter. Sie schaute zum Turmfenster hinauf: Da stand jetzt niemand mehr, und nur die Schatten begrüßten sie.
Vielleicht hatte er es nach draußen geschafft. Vielleicht suchte er nach ihr. Sie wurde von einer nervösen Erregung erfasst. Sie unterdrückte sie, schloss die Augen und konzentrierte sich. Sie spürte den Sand unter ihren Händen, die warme Festigkeit unter ihrem Leib …
Und dann kam die Verwandlung, hier an diesem Ort zwischen dem Meer und dem Festland. Sie kam über sie wie die Gischt, eine brennende, prickelnde Empfindung, die jedoch viel schöner war … Ein Gefühl der Veränderung … wie winzige Bläschen, die in ihren Adern prickelten, immer weiter nach oben stiegen, bis Ione in einem kurzen, köstlichen Moment des Schmerzes verwandelt wurde. Und wo eben noch ihr herrlicher Schwanz gewesen war, war nun etwas Neues und sehr Irdisches – ein Körper, geschaffen für das Land, nicht für das Meer.
Sie erhob sich aus dem Sand und ging den Strand hinauf, wobei das Meer ihre Füße zum Abschied küsste.
Ihr Tuch war dort, wo sie es zurückgelassen hatte. Der jadegrüne Wollstoff war mit faustgroßen Steinen beschwert, und die Kanten flatterten in der leichten Brise. Sie zog ihn unter den Steinen hervor und schlang das Tuch um ihren Körper, sodass ihre Haut mit Sand bestäubt wurde. Sich zu bedecken war eine Erfindung der Menschen, aber gerade jetzt kam sie ihr sehr zupass. Ungeduldig zog sie das Tuch um sich fest, während sie zu den Stufen ging, die zum Eingang des Schlosses führten.
Die ganze Zeit, während sie geschwommen war, hatte Ione an den Mann gedacht. Die ganze Zeit hatte sie sich an ihn erinnert: sein rabenschwarzes Haar, die verblüffend klaren Augen. Seine Berührung. Seinen Geschmack.
Den Schwung seiner Lippen, der Anflug von Bartwuchs, der seine Wangen verdunkelte. Das Gefühl seiner schwieligen Hände auf ihrer Haut.
Io ging ein wenig schneller.
Er träumte wieder von ihr. Die Küsse, das Streicheln, das Eindringen. Atemloses, strahlendes Vergnügen und die Erlösung, die ihn völlig verzehrte, bis nichts mehr übrig blieb außer ihr und ihm und der Nachklang ihres Zusammenseins. Ihre indigoblauen Augen, ihr verführerisches Lächeln.
Als Aedan erwachte, lag der Duft von Weihrauch in der Luft. Er wusste, dass es Weihrauch war, obwohl er die rauchige Süße erst einmal, im Lager eines anglischen Prinzen, wahrgenommen hatte. Der Prinz hatte ihn bei einem blutigen Überfall in seinen Besitz gebracht und verbrannte ihn, um die Geister der Toten zu vertreiben.
Sein Kopf schmerzte. Oh Gott, sein ganzer Körper schmerzte.
Der Rauch zog über ihn hinweg. Die fahlgrauen Schleier zogen zur Decke, wo sie sich in der dunklen Luft auflösten.
Ganz langsam drehte er den Kopf. Das war nicht sein Zimmer. Das war nicht sein Schloss. Das war noch nicht einmal sein Zimmer in diesem Schloss.
Er lag auf dem Boden in der Nähe eines Treppenabsatzes. Aye, daran konnte er sich erinnern. Das Suchen, den Sturz. Und dann …
Mit einer Hand an der Stirn setzte er sich auf, während er versuchte, den Schmerz mit reiner Willenskraft zu überwinden. Er hatte lang ausgestreckt auf einem sehr harten Boden gelegen, wobei sich Bruchstücke von Steinen in seinen Rücken gebohrt hatten. Beide Beine waren gerade ausgestreckt. Anscheinend hatten die Schienen bei seinem Sturz gehalten. Obwohl sein Körper unheimliche grüne und schwarze Schwellungen aufwies, tat er längst nicht so sehr weh, wie es seiner Meinung nach so einem Sturz der Fall hätte sein müssen.
Er blickte auf seine Hand. Seine Handfläche war mit feuchtem Blut bedeckt. Der Schnitt auf seiner Stirn hatte sich also wieder geöffnet.
Ganz allmählich wurde ihm klar, dass das schwache Glitzern von Farben auf dem Boden neben ihm nicht von den unzähligen Münzen kam, die er vorher gesehen hatte. Neben seinem Schenkel stand ein großer Kelch, der bis zum Rand mit einer Flüssigkeit gefüllt war, die wie Wasser aussah.
Aedan ließ die Hand sinken und starrte darauf. Dann tauchte er einen Finger in die Flüssigkeit. Er untersuchte den Tropfen, der an seiner Fingerspitze hing.
Wasser.
Er führte den Tropfen an seine Lippen. Reines, frisches Wasser. Plötzlich merkte er, wie durstig er war, wie ausgedorrt, als hätte er seit Jahren, sein ganzes Leben lang kein Wasser gehabt. Er nahm den Kelch mit beiden Händen und leerte ihn in einem Zug. In seinem ganzen Leben hatte noch nie etwas so köstlich geschmeckt.
Nachdem er alles ausgetrunken hatte, setzte er den Kelch vorsichtig ab. Er bestand aus poliertem Silber und war mit Opalen und Amethysten bedeckt. Dann sah er sich in dem ihm unbekannten Raum um.
Es war ein großer Saal, beeindruckend und hoch, von weichen Schatten erfüllt. Es gab mehrere leere Feuerstellen. Durch hoch liegende Fenster und Löcher im Dach fiel Sonnenlicht in langen Streifen auf den Boden. In dem Saal standen Tische, aber keine Bänke, sondern nur Stühle, und auch davon nur ein paar. Der größte von ihnen ähnelte wegen seiner Ausmaße und wegen der Polster mehr einem Thron denn einem Stuhl. Ein schräger Sonnenstrahl fiel genau darauf und erhellte das strahlend rotgoldene Haar der Frau, die darauf saß und ihn schweigend beobachtete.