Читать книгу Zeiten der Leidenschaft - Shana Abe - Страница 14

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Er brauchte neue Kleidung. Schon wieder.

Aber wie es das Schicksal wollte, gab es auf Kell Truhen über Truhen mit Kleidung, die den Schotten ein ganzes Leben lang mit Sachen zum Anziehen versorgen würden. Da waren Gewänder von Herrschern, Soldaten oder Seeleuten. Er brauchte es sich nur auszusuchen. Io zeigte ihm die Truhen und ließ ihn die kunterbunt gemischten Sachen durchsehen. Sie beobachtete ihn dabei, wie er Tuniken, Togen und Tücher hochhielt, und genoss das wechselnde Spiel der Empfindungen auf seinem Gesicht, die von Erstaunen bis hin zu Befriedigung reichten. Er verzog vor Erstaunen das Gesicht bei einem Umhang aus Goldbrokat, der mit dunkelrotem Stoff eingefasst war, und legte ihn in die Truhe zurück.

Während er auf der Suche war, lehnte Io an der Wand und spürte keine geringe Befriedigung wegen des Grundes, warum er neue Sachen brauchte. Wolkenverhangenes Sonnenlicht strömte durch das Fenster, milderte die strengen Konturen ihres Geliebten und fiel auf die weiten Falten des Lakens, das er sich umgewickelt hatte. Es stammte aus dem Bett, wo sie ihr im Garten begonnenes Liebesspiel fortgesetzt hatten.

Er sah sehr gut aus in dem Laken. Er wirkte entspannt, sein Körper schimmerte schlank und geschmeidig, genau wie die Statue von Apollo im Zimmer nebenan. Sie zog es eigentlich vor, wenn er nur das Laken trug – oder gar nichts, aber das hatte Aedan abgelehnt.

Ione spielte mit ihrem Medaillon. Ach, sollte er sich doch anziehen. Sollte er doch haben, was er wollte. Sie machte es ja nicht anders. Er würde ohnehin schon bald wieder nichts mehr anhaben.

Er entschied sich für eine Tunika, die der vorherigen sehr ähnlich sah. Sie war graugrün und schmucklos. Dazu suchte er sich noch Beinkleider aus, doch die Stiefel behielt er. Nachdem er sich angezogen hatte und zu ihr umdrehte, war er wieder ein Mensch – wenn auch ein atemberaubend gut aussehender –, der wie ein Mensch gewandet war, während er sich auf seine Krücke stützte.

»Abendessen«, verlangte er nachdrücklich.

»Unten«, erwiderte sie und stieß sich von der Wand ab, um ihn zu begleiten.

Er nahm getrocknetes Fleisch und Brot sowie frisches Obst aus dem Garten zu sich. Sie fütterte ihn mit zurechtgeschnittenen Stückchen Birne, von denen sie ihm eines nach dem anderen gab. Dann leckte er den Saft von ihren Fingern, und sie genoss das Gefühl seiner samtigen Zunge auf ihrer Haut. Ihre Blicke trafen sich. Angezogen von den silbernen Abgründen rückte Io ein bisschen näher.

Als sie sich küssten, schmeckte er nach Sommer, Nektar und Himmel. Sie ließ das letzte Stück Birne auf den Tisch fallen.

»Nicht schon wieder«, sagte Aedan und drückte sein Gesicht in ihren Nacken. »Noch nicht, Ione. Du bringst mich noch um.«

»Nie«, schwor sie und kuschelte sich mit der Wange an seinem Haar in seine Arme.

Sie hatte das Gefühl, als wäre ihr Herz erfüllt, ganz erfüllt von seiner Liebe, und schreckte noch nicht einmal auf, als er sagte: »Ich muss gehen.«

Er verließ ihre Umarmung und stand auf. Anstelle der Wärme seines Körpers spürte sie nun wieder die leichte, stets gegenwärtige Kühle der Burg.

»Wohin?«, fragte Io.

»An den Strand.«

»Ich werde dich begleiten.«

Er warf ihr einen kurzen Blick zu. »Wie du willst.«

Die Wolken, die die Gipfel der Berge umhüllt hatten, waren im Verlaufe des Tages in die Niederungen der Insel gekrochen, wo sie sich in Tälern und kleinen, bewaldeten Senken geisterhaft breit machten. Als Aedan und Io die Küste erreichten, hingen überall Nebelschleier, sodass sie die Ansammlung aus zerbrochenen Holzstücken, die auf dem Sand ausgebreitet waren, erst sahen, als sie fast darauf traten.

Nicht zerbrochene Holzstücke – nein, nicht nur das, sondern zerbrochene Boote, Ruder, Taue, Paddel, Holzstifte, das lange Seitenteil eines Ruderbootes. Alles war sorgfältig arrangiert, sodass man den Umriss eines Bootes erkennen konnte, das in seine Einzelteile zerbrochen war.

Aedan entfernte sich von ihr und fand eine Stelle, wo er sich hinsetzen konnte. Er nahm ein zersplittertes Paddel in die Hand und begann, es mit einem Seil zu reparieren.

»Was machst du da?«, fragte Io, obwohl sie es längst wusste – oh, sie wusste es.

Eingehüllt in den Nebel, saß er schweigend da. Er arbeitete langsam und gewissenhaft, und in seinen Bewegungen – wie er mit dem Holz umging, wie eng er das Seil wickelte, die sorgfältigen Knoten – sah sie die lebenslange Erfahrung. Während sie seine Hände bei der Arbeit und seinen gesenkten Kopf musterte, sank ihr das Herz, und Bleigewichte schienen sich auf ihre Seele zu legen. Sie fühlte sich wie betäubt, dann erwachte ihr Zorn, und sie fühlte sich betrogen, war wütend auf ihn und auf sich selber. Sie hätte ihm nicht vertrauen sollen. Warum hatte sie ihm eigentlich je vertraut?

»Du willst fort«, hörte Io sich sagen. »Sogar jetzt willst du fort.«

»Aye.« Er schaute nicht auf.

Sie schien sich nicht bewegen zu können. Sie war nicht in der Lage, einen einzigen anderen Gedanken zu fassen, außer der schrecklichen Erkenntnis: Er geht fort, er kann nicht fortgehen, aber er wird.

»Du könntest mit mir mitkommen.«

Seine Worte waren leise und wurden vom Nebel halb verschluckt. Sie dachte, sie hätte ihn nicht richtig verstanden, bis er den Kopf hob und ihr in die Augen schaute.

»Du könntest mit mir mitkommen«, sagte er wieder und klang jetzt viel deutlicher.

»Nein. Du kannst nicht gehen. Du wirst auf Kell bleiben, bei mir.«

Langsam und mit entschlossener Miene schüttelte er den Kopf. Sie tat einen Schritt auf ihn zu.

»Du wirst!«

»Nein, Ione.«

»Doch«, schrie sie in Panik. »Du musst bleiben.«

Er stand auf und warf das Paddel zur Seite. Endlich zeigte er eine Gefühlsregung. »Du hast nicht über mich zu bestimmen, Sirene. Ich gehe nach Hause.«

»Dort gibt es nichts, was du nicht auch hier finden würdest!«

»Nichts?« Er lachte ungläubig und wies mit einer heftigen Geste aufs Meer. »Jenseits von Kell, jenseits dieser Küste findet ein Krieg statt! Die Pikten, die Angeln, die Sachsen und die Bretonen – die Schotten und alle Stämme –, alle wollen dasselbe. Erobern. Die Römer sind abgezogen, und jeder versucht, sich seinen Teil an der Welt zu sichern.«

»Was hat das mit uns zu tun?«

»Alles! Das hat alles mit mir zu tun. Ich werde gebraucht, Ione.«

»Du wirst so nötig gebraucht, dass du dafür sogar dein Leben aufs Spiel setzt? Du willst gegen das Riff kämpfen, den Gefahren des Meeres trotzen? Du? Ein Mann ganz allein?«

»Ja«, sagte er.

Sie gab einen Laut des Abscheus von sich und schleuderte mit dem Fuß Sand hoch. Durch den sich immer weiter verdichtenden Nebel beobachtete Aedan sie geduldig, aber voller eiserner Entschlossenheit. So würde sie ihn nicht umstimmen, so nicht, und sie spürte, wie sich Bestürzung in ihr breit machte.

»Verstehst du denn nicht? Du bist auf diese Insel gekommen, Schotte, und bist an ihren Ufern gewandelt. Kell wird dich jetzt nicht mehr freilassen. Du gehörst jetzt der Insel, genau wie ich. Der Fluch hat auch dich erfasst. Wenn du Kell verlässt – wenn du versuchst zu gehen, wirst du sterben.«

»Ich kenne die Geschichte. Ich werde das Risiko auf mich nehmen.

»Du wirst sterben«, wiederholte sie verzweifelt.

Sein Gesichtsausdruck wurde sanft. »Ione … Mein Volk ist von den Inseln, fast genau wie deins. Wir wollen keine Feinde, haben sie aber trotzdem – und jeder würde versuchen, uns unser Zuhause wegzunehmen, wenn er könnte. Man versucht es fast jeden Tag. Das ist mir zugestoßen, so bin ich hierher gekommen. Ich wurde angegriffen und zurückgelassen, weil man mich für tot hielt.«

»Vielleicht solltest du dann tot bleiben. Lass doch die anderen deinen Krieg führen.«

Aus irgendeinem Grund brachte sie ihn damit zum Lächeln, wenn auch in dem leichten Hochziehen der Mundwinkel keine Freude lag.

»Ich bin ein Prinz. Ich glaube, das habe ich dir noch nicht gesagt, aber so ist es.«

»Ein Prinz«, wiederholte sie mit gerunzelter Stirn.

»Das bedeutet Herrscher. Einer, der Befehle erteilt.«

»Ich kenne den Ausdruck, Schotte.«

»Dann weißt du auch, welche Verantwortung ich trage. Mein Vater regiert jetzt, aber er ist alt und … müde. Mein Zuhause heißt Kelmere, und mein Königreich besteht aus vielen Inseln, die um deine herumgelagert sind. Ich habe geschworen, das Königreich mit meinem Leben zu verteidigen. Ich werde mein Wort nicht brechen. Ich wäre wirklich lieber tot, als das zu tun.«

»Das wirst du sein. Der Fluch wird dich umbringen, ehe du in deinem Krieg zur Stelle bist.«

»Dann soll es so sein.«

Sie trat auf ihn zu und stieg dafür über das Paddel. »Lass diesen Ort deine Heimat sein. Lass diesen Ort« – sie nahm seine Hand und legte sie auf ihr Herz – »dein Zuhause sein.«

»Ione.« Sie bildete sich die Sehnsucht und das Verlangen in seiner Stimme nicht nur ein. Mit zerzaustem Haar und Augen, die so nebelverhangen schimmerten wie dieser Tag, sah er auf sie herab, während die feste Wärme seiner Hand sie vor der kühlen Witterung schützte.

»Bitte bleib«, flüsterte sie.

Seine Finger legten sich um ihre. Einen Augenblick lang flackerte Hoffnung in ihr auf … aber im unerschütterlichen, eigensinnigen Silber seiner Augen las sie eine andere Antwort.

Io wich zurück.

»Damit wirst du es nie schaffen.« Sie deutete auf die Wrackteile. »Der Kiel ist verbogen, das Ruder ist gebrochen, und der Rumpf ist morsch.«

Er reagierte nicht auf ihre gehässigen Worte. »Dann hilf mir«, sagte er immer noch beherrscht. »Hilf mir, es richtig zu machen.«

Sie wich in den dichter werdenden Nebel zurück. »Ich denke eher nicht. Geh doch unter, wenn du unbedingt willst, Schotte. Dummköpfen helfe ich nicht.«

»Mein Volk braucht mich, Ione.«

»Ich brauche dich.«

»Du?« Sein Lächeln kehrte zurück, war jetzt aber noch trockener als zuvor. »Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, dass du irgendjemanden brauchst. Ich habe noch nie jemanden kennen gelernt, der fähiger wäre als du, aus eigener Kraft zu überleben.« Er drehte sich zum Meer um, von dem wegen des Nebels nur noch ein fernes Rauschen zu vernehmen war. Seine nächsten Worte hörte sie kaum, so leise sprach er sie.

»Aber sie werden ohne mich verloren sein.«

In der Ferne war das An- und Abschwellen der Brandung zu hören. Der Himmel hatte mittlerweile eine stahlgraue Färbung angenommen.

»Ich werde dir nicht dabei helfen zu gehen«, sagte sie. »Ich werde nicht dabei helfen, wie du dich selbst vernichtest.«

»Na schön«, erwiderte Aedan in leidenschaftslosem Ton. »Dann eben nicht. Ich werde es mit dem Boot allein schaffen.«

Er setzte sich hin, nahm das Paddel und das Tau und machte sich mit gebeugtem Kopf wieder an die Arbeit.

Eine ganze Woche lang hüllte der Nebel das Königreich der Inseln ein. Ein undurchdringlicher, erstickender Nebel, der sich im ganzen Land, auf allen Höhen und in allen Niederungen ausbreitete und Klanführer und Gänsemägde gleichermaßen wie blind umhertappen ließ. Auf Kelmere brannten die Fackeln Tag und Nacht, und trotzdem stürzten Pferde in Schluchten und ertranken zwei Kinder im reißenden Fluss. Die Menschen fluchten und machten trotzdem irgendwie weiter. Die Schafe blökten jämmerlich in ihren Pferchen, denn sie vermissten das frische Gras und den Klee. Sogar die Festung konnte sich des Nebels nicht erwehren. Er waberte durch Fenster und Türen und kroch sogar unter geschlossenen Läden, durch Ritzen und Spalten hindurch. Er zog durch die Zimmer und Korridore, und nur in den Tiefen der Burg, wo die Dunkelheit nie schwand, war er nicht.

Schiffe verspäteten sich. Reisen wurden verschoben.

Alle Reisen bis auf eine, wie es schien.

Aus der Burg drangen die unverkennbaren Geräusche von marschierenden Soldaten, dem unruhigen Scharren von Pferden und dem Knarren von Leder. Im Schatten der Mauer des Kornspeichers legte eine Weberin die Arme um ihre kleine Tochter und zog sie tiefer in den Nebel, wobei sie sich mit dem Rücken gegen die Mauer drückte.

»Was ist das, Mama?«, fragte das Mädchen, während es versuchte, durch den Nebel zu sehen.

»Sachsen«, erwiderte die Mutter, und dann tat sie etwas, was sie noch nie gemacht hatte: Sie spuckte auf die Erde. »Die Königin hat die Sachsen zu uns geholt.«

»Warum?«

Eine andere Frau, die dicht hinter ihnen stand, antwortete darauf mit leiser, rauer Stimme.

»Rache, meine Kleine. Rache an den Pikten, weil sie für den Tod unseres Prinzen verantwortlich sind.«

Und dann spuckte auch die zweite Frau auf den Boden.

Er würde sie mitnehmen. Aedan wusste nicht genau, wie er sie dazu überreden sollte, aber sein Verlangen, Kell zu verlassen, war genauso stark wie sein Verlangen, mit Ione zusammen zu sein. Diese einander widersprechenden Forderungen schrien beide nach Befriedigung. Diese Gedanken, die an ihm nagten und ihn quälten, waren immer präsent. Wie konnte er sie überhaupt mitnehmen? Wie konnte er es nicht tun?

Wie sollte er es Mòrag, seinem Vater und Callese erklären – zum Teufel, wie sollte er ihre Anwesenheit irgendjemandem erklären?

Er war berauscht von ihr, von seinem Verlangen nach ihr und der Bewunderung für sie. Er schaute in ihre Augen und sah, wie sein Leben aussehen könnte.

Wie es vielleicht sein könnte.

Es war Wahnsinn, es war völlig unvernünftig. Aber darin einen Sinn zu entdecken, versuchte er schon längst nicht mehr. Tief im Innern wusste er, dass er zu lange einsam gewesen war. In Friedens- wie in Kriegszeiten reiste er Tag und Nacht umher, besuchte Bauernhöfe und Dörfer und die entlegensten Nester des Königreiches – Tage und Nächte, die wie im Fluge in Jahre übergegangen waren. Er hatte es nicht einmal bemerkt, bis er sie gefunden und erkannt hatte, wie leer er geworden war. Ein Mann, der nur noch aus Pflicht, Ehre und Krieg und nicht viel mehr bestanden hatte.

Sein ganzes Leben, bevor er nach Kell gekommen war, verblich zu eintönigem Grau. Nur Ione war ein strahlender Lichtblick, ein Regenbogen, der nur ein bisschen zu weit weg war, um danach greifen zu können.

Er würde sie nicht zurücklassen. Egal, was sie sagte, Aedan würde es nicht erlauben. Er würde eine Möglichkeit finden, sie zu beschwichtigen und für sich zu gewinnen, gegen den Fluch zu kämpfen und die Sirene auf das Festland zu locken. Aye, irgendwie … Er würde eine Möglichkeit finden.

Er dachte, dass man ihn vielleicht mit einem Zauber belegt hätte. Er stellte sich vor, dass die Wolken der Insel sich selbst mit unsichtbaren Fäden umsponnen hätten, die ihn an sie fesselten, genau wie seinen Geist, sein Herz und seine Seele.

Und trotz all des Ruhmes und der Schande, die Prinz Aedan auf sich geladen hatte, sah er keine Möglichkeit, die Fäden zu zerreißen. Er war gefesselt. Wie eine Spindel ans Spinnrad war sein Schicksal mit ihrem verbunden, und er würde nie wieder frei sein.

Sie könnte sein Boot zerstören. Das würde wirklich nicht schwierig sein – hier ein paar Planken lösen, dort ein Tau zerfleddern und die Holzstifte in alle Richtungen verstreuen. Sie könnte es wieder in seine Einzelteile zerlegen, so viele Einzelteile, dass er sie nie wieder würde zusammensetzen können. Und er würde bleiben und bleiben und bleiben, genau so, wie sie es wollte. Es wäre ein verrücktes Spiel, das bis in alle Ewigkeit andauern könnte; jeden Tag würde er bauen, jede Nacht würde sie das, was er geschaffen hatte, zerstören. Und zu allen anderen Zeiten … Dazwischen würde Waffenstillstand herrschen, sodass sie zusammenkommen und einander lieben konnten.

Sie wusste, dass sie das machen könnte.

Doch stattdessen überließ Io Aedan seinem Spielzeug und schwamm wütend im Meer, während er arbeitete. Sie tauchte und kam wieder nach oben, wirbelte herum und kreiste, während sie versuchte, der Qual Herr zu werden. Sie schwamm so lange, bis sie nicht mehr konnte, und jeden Abend schleppte sie sich an Land und in sein Bett, wo er sie in seine Arme nahm und streichelte und küsste, bis das Meersalz unter seiner Leidenschaft dahinschmolz. Bis sie erschöpft in bewusstloses Vergessen sinken konnte.

Jeden Morgen ging er wieder an den Strand und sie ins Meer. Und so verging eine Woche. Zwei Wochen.

Drei Wochen.

Das Laub der Bäume ging von Grün in Orange und Rot über. Aedan entfernte seine Beinschienen und benutzte jetzt nur noch die Krücke. Und sein elendes kleines Boot wurde immer solider und die Kluft zwischen ihnen immer breiter. Io hatte das Gefühl, als würde sie alles aus weiter Ferne beobachten – einen Mann auf einer Insel, der entschlossen war zu gehen; eine Sirene, die vor Liebeskummer verging und der die Worte fehlten, um ihn zu halten.

Eigentlich fehlten ihr in diesen letzten Tagen alle Worte. Sie konnte nicht mehr mit ihm sprechen. Es schien ihn nicht zu kümmern, und er bemerkte es offenbar nicht einmal. Nachts im Dunkeln sagte er nur ihren Namen und wiederholte seine alte Forderung: Komm mit, komm, komm.

In diesen Augenblicken konnte Io nur die Augen schließen und den Kopf schütteln, während undurchführbare Ideen ihren Geist beherrschten.

Und doch versuchte er es immer wieder.

Ganz häufig wachte sie auf und sah, dass er am Fenster stand und von dort auf die Wellen schaute, während er an zu Hause dachte. Wenn er sich zu ihr umdrehte, lag auf seinem Gesicht immer der gleiche Ausdruck: tiefe Linien, eine strenge Miene und in den Augen die Erinnerung an lieb gewordene Dinge.

In diesem Moment war er nicht bei ihr. In seinen Gedanken war er bereits wieder in seinem Königreich und führte ein Leben, an dem sie nie Anteil haben würde. Sie trauerte um einen Mann, der bereits fort war.

Der Tag kam, an dem das Boot fertig war. Sie wusste es, ohne fragen zu müssen. Er war anders, als sie in dieser Nacht zu ihm kam. Er war kühl und distanziert, sogar als er sie an sich zog. Als er sie berührte, fühlte sie sich wie misshandelt – das war natürlich nur Einbildung, doch sie sagte viel aus. Sie wälzten sich miteinander über das weiche Bett, ein schweigender Kampf, der aus Küssen, geraubten Seufzern und köstlichem Verlangen bestand. Er wollte sie erobern, und sie leistete unter ihm liegend Widerstand. Sie kämpfte so lange, bis ihm keine andere Wahl mehr blieb, als sie mit den gleichen Waffen zu schlagen und sich zu nehmen, was er wollte. Es war ihr egal, ob sie ihn verletzte oder er sie. Sie sehnte sich förmlich danach, trieb es bis auf die Spitze und schluchzte seinen Namen, als er endlich in sie eindrang, während der Damm in ihrem Herzen brach.

Danach lagen sie keuchend und schlaff in den zerwühlten Laken. Draußen toste das Meer.

»Morgen«, sagte Aedan, ohne sie anzuschauen.

»Ich weiß.«

Er bewegte sich. »Ione …«

»Frag nicht wieder.«.

»Ich frage nicht mehr. Ich befehle. Du wirst mitkommen.«

»Du befiehlst?«, wiederholte sie mit gefährlich klingender Stimme.

Er stützte sich auf, um sie anzusehen. Er war dazu übergegangen, immer eine Lampe neben das Bett zu stellen – ein bleich flackerndes Licht, das über seine Gesichtszüge tanzte und sie mit goldenem Schimmer überzog. Hinter den halb gesenkten Lidern brannte in seinen Augen ein ruhiges, tiefes Feuer im Gegensatz zum unsteten Licht der Lampe.

»Ich bin der Prinz dieser Inseln. Das habe ich dir bereits gesagt. Ich bin der Prinz all dieser Inseln, und Kell gehört auch dazu. Das bedeutet, dass du meine Untertanin bist.« Bedächtig legte er eine Hand auf ihre Brust – eine bestimmte, besitzergreifende Geste. »Ich bin sicher, dass du dieses Gesetz kennst.«

»Menschengesetze«, schnaubte sie ganz leise. Aber sie entwand sich seiner Berührung nicht.

»Das Gesetz der Menschen und der Natur. Es gibt eine Hierarchie, Ione. Du gehörst genauso dazu wie wir anderen.«

»Du nimmst dir zu viel heraus, Schotte.«

»Du hast ja gar keine Ahnung, was ich mir herausnehme, Sirene.« Er schob sich auf sie und sein Körper bedeckte sie schwer und dominierend. »Wenn hier irgendjemand zur Natur gehört, dann du. Die Gesetze der Natur. Die Menschen haben sie nur kopiert.« Er senkte den Kopf, um sie zu küssen. Es war ein rücksichtsloser, fast schon schmerzhafter Kuss, bis seine Zähne ihre Lippen fanden und daran knabberten. »Ich will, dass du mitkommst. Ich befehle es, und du gehorchst.«

Wieder küsste er sie, während er ihre Schenkel mit seinem Knie spreizte. Ein freudiger Schauer durchströmte sie, und Hitze wallte in ihr auf.

»Gehorche mir«, flüsterte er. Seine Hände, die in ihrem Haar vergraben waren, zogen ihren Kopf nach hinten, sodass sie ihm ihre zarte Kehle darbot. Er fuhr mit seiner Zunge über ihren Hals, unter ihr Ohr, während er immer wieder an ihr knabberte und saugte. Die Luft wurde zu dünn, und das Atmen wurde ihr schwer. Sie versuchte, sich abzuwenden, aber er hielt ihr Kinn mit seinen Fingern fest und setzte seine zärtliche Folter fort.

»Gehorche«, hörte sie ihn hauchen, während er sie mit seinen Worten und seinen Berührungen fesselte. »Gehorche mir, Sirene.« Und im selben Moment, als er ihre Lippen in Besitz nahm, drang er auch wieder mit einem langsamen, mächtigen Stoß in sie ein.

Ione kam wieder zu sich. Sie packte seine Schultern und drückte ihn so weit nach hinten, dass sie ihm ins Gesicht sehen konnte.

»Ich werde Kell nicht verlassen«, sagte sie. »Ich kann nicht gehen. Ich werde sterben, wenn ich gehe.«

»Was soll das«, murmelte er, während er hungrig in sie stieß. »Schon wieder dieser Fluch? Ione, Liebste …«

»Nein«, fuhr sie ihn an. »Nicht der Fluch.«

»Was dann …«

»Himmel noch mal«, rief sie verärgert, »kannst du es dir denn nicht vorstellen? Ich wurde geboren, bevor dein Volk diese Inseln überhaupt kannte, geschweige denn sie ein Königreich nannte! Ich lebe schon ein Dutzend Mal mehr Jahre, als du alt bist, Schotte.«

Der verhangene Blick schwand. Er bewegte sich nicht mehr in ihr. »Was?«

»Wenn ich Kell verlasse, verliere ich meine ganze Kraft. Ich verliere die Hoffnung auf mein Kind.« Io drehte den Kopf weg. Plötzlich konnte sie seinen Blick nicht mehr ertragen. »Unser Kind«, fügte sie leise in Richtung der bestickten Kissen hinzu.

Er sprang fast aus dem Bett, sodass die Lampe durch den von ihm verursachten Luftzug blau flackerte. Io setzte sich auf und zog sich die Decke bis ans Kinn.

»Ist das der Grund, warum du …« Seine Stimme klang heiser und erstickt. »Ist das der Grund? Ein Baby?«

Sie zuckte die Achseln, um ihre Bestürzung zu überspielen. »Überrascht es dich so sehr? Hast du denn nie darüber nachgedacht, was passieren könnte, wenn du mit einer Frau zusammen bist?«

»Du bist keine Frau!«

»Nein«, stimmte sie ihm zu. »Aber du bist ein Mann. Und es könnte trotzdem passieren.«

»Du willst auf dieser Insel ein Kind in die Welt setzen!«

»Ja, genau wie ich hier zur Welt gebracht wurde.«

»Mein Gott«, sagte er, und Schock und Verblüffung hielten sich die Waage. Er legte eine Hand über die Augen und schimmerte golden im Schein der Lampe und der Nacht.

Entnervt senkte sie den Blick auf die Decke, während sie spürte, dass sich ein trotziger Zug um ihre Lippen legte.

Feiger Mensch! Zu behaupten, er wolle sie, kurz bevor er floh. Typisch Mensch, vor der Wahrheit davonzulaufen und sie auf Kell zurückzulassen.

Dumme, dumme Ione, dass sie immer noch wünschte, er würde nicht so handeln.

Sie hob den Blick. Sollte er es ihr doch ins Gesicht sagen.

»Bist du …?«, fragte Aedan in die schreckliche Stille hinein. Er blickte auf ihren Bauch, der sich hinter Decken verbarg, und dann wieder nach oben.

»Wenn ich es wäre, würdest du dann bleiben?«

Ach, sein Zögern war so kurz. »Ich würde.«

Sie wandte den Blick ab. »Dann hast du Glück, Schotte. Ich bin nicht schwanger. Es steht dir frei zu gehen.«

Er kam näher. Sein Schatten fiel auf den Boden aus Stein.

»Bist du dir sicher?«

»Aye«, sagte sie und biss sich auf die Lippe, damit sie nicht mehr zitterte.

Langsam näherte er sich, bis er dicht neben dem Bett stand. Sein Gesicht wirkte kantig und streng im Dunkeln. Sie sah die geschwungenen Augenbrauen, die vom Mondlicht erhellten Augen … ein wahrer Prinz der Nacht. Aus einer anderen Welt.

Welch dummen Traum sie in ihrem Herzen genährt hatte.

Er hob seine Hand ein Stück und ließ sie wieder fallen. »Oh Gott – Ione.«

Das zerriss sie endgültig. In den Silben ihres Namens hörte sie alles, was sie über ihn wusste – Stolz, Verlangen und vergebliche Hoffnung. Ohne ihn noch einmal anzusehen rollte sie von ihm weg zur Wand und hüllte sich in die Decken.

Endlich kam auch er wieder ins Bett und legte sich hinter sie, während er einen Arm um ihre Taille schlang. Er war länger und breiter als sie, sodass er sie fast einhüllte, als er auch noch sein Bein über ihre schob. Aber er versuchte nicht, die Decken wegzuziehen, und er küsste sie auch nicht noch einmal.

Die Flamme in der kleinen Lampe flackerte und verlosch schließlich.

Als Aedan am nächsten Morgen erwachte, war er allein. Mit sinkendem Herzen suchte er nach Ione und wusste, dass er sie doch nicht finden würde, denn sie hatte ihn beim Wort genommen und beschlossen, ihn zuerst zu verlassen.

Trotzdem suchte er weiter. Er suchte den ganzen Morgen und rief immer wieder ihren Namen. Doch nur die Seeschwalben antworteten ihm.

Er kam zu seinem Leuchtfeuer, das immer noch brannte und von dem eine schmale Rauchsäule aufstieg. Aedan löschte es mit Sand. Jetzt wollte er nicht mehr, dass irgendwelche Schiffe Kell sahen. Er wollte nicht, dass irgendjemand sie hier ganz allein entdeckte. Das würde ein kleiner Schutz sein, bis er zurückkam. Klein, aber immerhin.

Als er zu seinem Boot kam, sah er es in der steigenden Flut tanzen. Es war mit dem letzten guten Tau an einem jungen Baum festgebunden. Er konnte nicht länger warten. Seine Nahrungsmittel waren immer noch da, ebenso wie Wasser und Kleidung zum Wechseln. Er hatte alles am letzten Abend im Boot verstaut. Doch oben auf seinen Paddeln lag etwas Neues: ihre Halskette, die sorgfältig um das ovale Medaillon gelegt war, das sich hell vom verwitterten Holz abhob.

Er hob es hoch und ließ seinen Blick über das Wasser gleiten. Doch er sah nur Schaumkronen und Wellen.

Aedan öffnete den Verschluss und legte sich die Kette um den Hals. Sie saß etwas eng, aber das war zu ertragen. Dann band er das Tau los, und das Boot begann abzudriften.

»Ione«, rief er ein letztes Mal. »Ich werde zu dir zurückkommen!«

Er trieb sein geflicktes Boot hinaus auf die stürmische blaue See.

Zeiten der Leidenschaft

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