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Ich zeige Nicole meine Zeichnungen, die sie wortlos und Blatt für Blatt durchgeht, bis sie an meinem linken kleinen Finger angekommen ist.

»Das sind immer Sie, nicht?« Ich nicke. »Obwohl ich Sie nicht nackt gesehen habe, kann ich Sie in jedem Körperausschnitt erkennen. Sie haben großes Talent.«

Nicole legt die Blätter sanft zu Boden, sieht mich an, ihr Blick wandert von meinem Hals zu meinen Füßen, dann nimmt sie meine Hand und inspiziert meinen linken kleinen Finger. »Was für wunderschöne Bilder«, sagt sie. »Sie haben Ihren kleinen Finger wirklich perfekt getroffen!« Meine Erinnerung ruft die Stimme meiner Mutter hervor, auch sie hat ständig »perfekt getroffen« gesagt, was wollte sie von mir?

Nicole will nichts. Mit kleinen Schritten kehrt sie auf die Terrasse zurück. »Ich sehe so gern von hier oben hinunter«, meint sie und stemmt sich auf ihren Stuhl.

»Der Fernseher, das war der eigentliche Grund«, erklärt sie. »Das kleinen Baby und das große Haus und das Essen, das war alles toll, aber der Fernseher, der war unglaublich. Später hatte Vater sogar einen Satelliten, was glauben Sie, was das für meinen Bruder und mich bedeutet hat! Endlich habe ich in der Schule mitreden können über diese Filme und Serien, die schon alle gekannt haben. Black Beauty, endlich habe ich gewusst, wie dieses Pferd aussieht. Ich habe alles, was ich in der Schule gelernt habe, vergessen, aber ich kann mich noch heute an das Mädchen erinnern, das auf dem Pferd geritten ist. Mein Vater und seine Frau haben uns fernsehen lassen, mindestens zwei Stunden. Wir haben es immer gleich gemacht, mein Bruder und ich: Wir sind von der Schule nachhause gekommen, haben gegessen, Hausaufgaben gemacht, und dann waren wir weg. Ein paar Häuser weiter haben wir an der Tür von unserem Vater angeläutet. Er war gar nicht da, aber seine Frau. Sie war nett, sie hat meiner Mutter ähnlich gesehen, das war komisch. Sie war nicht hübscher, nicht jünger, der gleiche Typ, dick mit großem Busen. Ich habe mich gefragt, warum er meine Mutter verlassen hat, wenn er dann doch wieder dasselbe genommen hat. Wie ein Speckbrot, das wer stehen lässt, und alle denken, der nimmt sich jetzt sicher den Kuchen, und dann macht er sich ein neues Speckbrot. Sie hat uns Essen hingestellt, Chips, Kuchen. Dann hat sie mit Beatrice gespielt. Mein Bruder und ich sind im Wohnzimmer gesessen und haben alles angesehen. Sogar die Sendungen für die Erwachsenen. Aber dann hat meine Mutter das alles auf einmal beendet. Sie hat gemeint, wir dürften nur noch einmal pro Woche zu unserem Vater. Und Schluss.

Mein Bruder gab klein bei. Aber mir war das nicht genug. Ich habe mit meiner Mutter gestritten, so wild, dass ich ihr am Ende gedroht habe, zu meinem Vater zu ziehen. »Dann tu es doch!«, hat sie geschrien, und ich hatte keine Argumente mehr. Ich musste mich fügen.

Auch wenn sie nett waren, mir war immer klar, dass ich nie bei meinem Vater hätte wohnen können. Wir haben nicht einmal darüber gesprochen, bei ihnen zu übernachten. Es gibt wohl stillschweigende Übereinkommen, bei denen keiner die Grenze überschreiten möchte. Meinem Bruder und mir war klar, wo diese Grenze lag.

Heute weiß ich, was in meiner Mutter vorgegangen ist. Aber Kinder sind schonungslos. Für mich war sie eine frustrierte Geldzählerin. Ich habe sie nur noch als Spaßverderberin angesehen. Mit einem Mal habe ich verstanden, warum mein Vater sich die Nachbarin geangelt hat. Sie war vielleicht auch ein Speckbrot – aber eins mit Butter darunter. Aus Protest habe ich ihr Essen nicht mehr angerührt. Dafür habe ich mein Geld für Chips und so ausgegeben. Geld haben wir von meinem Vater jede Woche zugesteckt bekommen, und ich habe es sofort für Süßigkeiten verbraucht.

Er hat nie nachgefragt, warum wir nicht mehr jeden Tag kommen. Mittlerweile weiß ich, dass er es gewesen ist. Er hat meine Mutter angerufen, dass sie sich mehr um uns kümmern soll, weil wir zu viel bei ihnen sind. Das hat mir meine Mutter erst Jahre später erzählt. Doch jetzt macht es keinen Unterschied mehr.«

Sie streckt sich und gähnt, ihre kleine Hand stülpt sich elegant über ihren Mund, um ihn zu bedecken. »Es ist spät«, sagt sie, und ich weiß, dass sie jetzt gehen wird. Ich begleite sie zur Tür. »Ich freue mich, dass wir so nett geplaudert haben«, meint sie höflich und streckt mir die Hand hin, als seien wir alte Bekannte, die sich zufällig wiedergetroffen haben.

Ich schließe die Tür, stelle mich vor den Spiegel und ziehe mich aus, betrachte die Teile meines Körpers, die ich einzeln erkennen kann. Ich beginne an meinem Hals und inspiziere am Ende die Zehenspitzen. Doch ich entscheide mich für meinen kleinen Finger: seine Haut, seinen Nagel, das Weiße unter dem Nagel, die Hautfalten, die Schattierungen. Er wird mein heutiges Modell.

Vielleicht ist es besser, nicht der Reihe nach vorzugehen, wie ich es bisher getan habe. Vielleicht ist eine zufällige Detailauswahl interessanter. Ich werde Nicole bitten, sich jeden Tag eine Stelle meines Körpers auszusuchen, die ich zeichnen soll. Nach der Namensgebung ein weiteres Spiel, das uns unterhalten wird. Ganz plötzlich spüre ich, wie sich mein Gesicht unwillentlich verzieht zu einem – ja: Ich lächle.

Teresa hört auf

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