Читать книгу Teresa hört auf - Silvia Pistotnig - Страница 18

XX

Оглавление

»Ich habe eine Liste erstellt. Kannst du mal drüberschauen?«

Ich habe Sandra nicht kommen gehört, doch plötzlich steht sie neben mir und hält mir zwei Zettel unter die Nase. »Natürlich.« Ich nehme das Excel-File, das sie mir ausgedruckt hat. »Mail es mir nächstes Mal einfach«, sage ich und lege die Blätter zur Seite. Wieso bleibt sie stehen? »Ist noch was?« – »Also wegen dem Aufenthalt …« Sie wirkt schüchtern, leise und dumm. »Ja?« Ich möchte sie an der Nase ziehen, damit sie endlich weiterredet. »Ich habe mit Chris gesprochen, und er, ja, ich hab … es ist so: Ich möchte eine Freundin mitnehmen in der einen Woche. Für Chris ist es okay, aber ich wollte dich fragen, weil wir ja gemeinsam dort sind und …« – »Kein Problem«, antworte ich knapp und beginne, meine Mails zu checken, um ihr zu signalisieren, dass unser Gespräch beendet ist.

Chris hat sein tian verloren, und niemand wird ihm bei der Suche helfen. Unsere Fluktuation im Büro liegt nur an seiner Triebhaftigkeit, er braucht immer etwas Neues, in das er seine Ängste stecken kann. Nur ich bin geblieben. Ich stelle mir vor, wie Nicole neben mir im Sand sitzt und wir den Jugendlichen dabei zusehen, wie sie sich ausgelassen und verrückt aufführen, ohne es wirklich zu sein.

Am Abend begrüßt mich Nicole. Sie trägt ein zitronengelbes Oberteil mit schwarzen Streifen und sieht aus wie eine Biene Maja vor dem Diätcamp.

Ich kann uns nur einige Packungen Fertigpizza und -kuchen kredenzen, die ich im Tiefkühlfach eingefroren habe. Doch für uns ist alles einerlei, ob Fasan in Aspik oder Packerlpizza, ob Kuchen luftdicht verpackt oder Punschkrapferl aus der Konditorei. »Sie sind keine Bulimikerin«, sagt Nicole, als ich von der Toilette zurückkomme. Sie fragt mich nicht, sie stellt es fest. »Ihre Gier. Sie haben keine Gier nach dem Essen. Sie stopfen es in sich hinein wie ich, aber Sie zwingen sich, Sie wollen es ja gar nicht.« Von ihrem Kinn tropft Tomatensauce.

Ich beobachte eine Taube am Himmel. Als ich heute nachhause gekommen bin, hatten sich die Vögel schon über unser gestriges Gelage hergemacht. Ich war nachlässig. Jeden Abend kehre und wische ich unsere Reste durch einen Spalt im Terrassengeländer in den Hof hinunter, wo sich Krähen, Tauben und Ratten darauf stürzen. Gestern muss ich etwas übersehen haben. Ich werde Brotkrümel in Gift tränken, dann werden die toten Tauben als Mahnmal für ihre Gefährten da unten liegen. »Sie haben recht«, sage ich.

»Mit achtzehn bin ich in die Stadt gezogen. Ich dachte, ich muss weg, um weiterzukommen«, erzählt Nicole. »Als gelernte Bürokauffrau habe ich im Finanzministerium Arbeit gefunden. Schlecht bezahlt, aber ein sicherer Posten. Dort habe ich meinen zukünftigen und mittlerweile ehemaligen Mann kennengelernt. Meine Mutter hat gelacht, als sie ihn das erste Mal gesehen hat. Er ist so dünn wie du dick, hat sie gemeint.

Wir sind zusammengezogen, haben ein Kind bekommen. Mein Sohn war ein halbes Jahr alt, als mein Mann zu einer anderen Frau gezogen ist, mit der er kurz darauf noch ein Kind bekommen hat.« Sie wippt mit ihren Beinen. »Wir sind so erpicht darauf, uns von unseren Eltern zu unterscheiden, und am Ende sind wir ihr Ebenbild.« Sie lächelt. »Mein Sohn ist jetzt 31 Jahre alt. Er war so einfach zu lieben. Genauso einfach ist er ausgezogen. Manchmal frage ich mich, ob er sich für mein Aussehen geniert hat.«

Ich will fragen, ob ihr Sohn dick ist, wie sie mich durchschaut hat, warum sie mir gefolgt ist. Ich weiß nicht, wie ich die Fragen stellen soll. Ich habe vergessen, wie Gespräche zu führen sind.

Nicole kratzt mit ihren Fingernägeln eine festgeklebte Nudel vom Tisch. Dann scharrt sie mit ihren Füßen, ein Zeichen, dass sie bald aufstehen und mich verlassen wird. Ich möchte nicht, dass sie geht. Der Gedanke erschreckt mich so, dass ich aufspringe. »Es sind Projekte«, sage ich schnell, damit sie sitzen bleibt. »Die Bulimie ist mein dreizehntes Projekt. Bitte kommen Sie mit.«

Sie erhebt sich mühsam. Langsam und geduldig führe ich sie über die Treppe in das obere Zimmer. Dort angekommen, muss sie eine Pause einlegen. Sie ist atemlos. Ich öffne meinen Schrankraum, in dem kein einziges Kleidungsstück zu finden ist, und drehe das Licht auf. Nicole geht vor und sieht hinein. Überall liegen meine Zeichnungen. Dazwischen, auf zwei Regalen, sind Ordner aufgestellt und mit Zahlen versehen. Ich nehme den ersten heraus.

»Fleisch«, steht handgeschrieben als Titel auf einem DIN-A4-Blatt. Die nächste Seite trägt als Titel: »Projektdefinition«. Darunter steht: »Mind. 3x/Tag Fleischaufnahme in Form von Wurst, gegrillt/gebackenem Fleisch, vorzugsweise Schwein, Rind, Kalb, Lamm.«

Auf derselben Seite steht unterstrichen: »Dauer: 6 Monate.«

Das nächste Blatt lautet: »Risikoanalyse: Magen-Darmprobleme, abzufedern durch Nahrungsergänzungsmittel, Vitaminpräparate sowie schulmedizinische Arzneien.

Ziel: Testen des Durchhaltevermögens, Körperkontrolle und tägliche Dokumentation körperlicher Veränderungen.

Kosten: 3500 Euro (Berechnungsmethode: Wiener Schnitzel à 6 Euro, vorwiegend Billig- und Fertigprodukte).

Durchführungskontrolle: Selbstbeherrschung, Selbstbeobachtung, Einteilung in 6 Meilensteine, erreicht nach jedem Monat.

Projektabschluss: 30.6.«

Nicole sieht sich die Mappe an, dann nimmt sie die nächste und die folgende. Sie sind alle gleich aufgebaut, nur der Inhalt und die Dauer unterscheiden sich.

»Intensive UV-Bestrahlung« ist der Titel des zweiten Ordners.

»Vernachlässigte Hygiene« jener des dritten.

»Projektmanagement«, erkläre ich Nicole. »Das habe ich im Studium gelernt.«

»Davon verstehe ich nichts«, sagt sie.

»Ich auch nicht«, gebe ich zu.

Nicole stellt den Ordner zurück, sieht sich noch einmal um, dann nickt sie und geht langsam und vorsichtig die Treppen hinunter. Ich folge ihr, sie schlurft in den Vorraum, schlüpft in ihre Schuhe und reicht mir die Hand. »Auf Wiedersehen.«

Teresa hört auf

Подняться наверх