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1.4 Blinde Flecken der Bündner Geschichte

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Bei der Gemeinde hat man es mit einem der prominentesten Gegenstände der Bündner Geschichte zu tun. Deshalb müsste, so der Frühneuzeithistoriker Jon Mathieu, eine vollständige Liste der Darstellungen zum Thema «wohl fast alle umfassen, die sich irgendwie mit Bündner Geschichte in unserem Zeitraum beschäftigten».114 Mathieus Einschätzung gilt indes nicht nur für die Frühneuzeit, wenn auch seiner Bemerkung etwas – vielleicht ungewollt – Typisches anhaftet: Die Bündner Geschichtsforschung ist bis heute tendenziell auf die Frühe Neuzeit und das (Spät-)Mittelalter fokussiert.115 Untersucht wurden vor allem die im 15. Jahrhundert entstandenen Gerichtsgemeinden und ihre kleineren Einheiten, die Nachbarschaften.

Dabei hatte man es in Graubünden lange «mehrheitlich mit einem von historisch interessierten Juristen geprägten Geschichtsbild […]»116 zu tun. Insbesondere für eine Geschichte des Dualismus zwischen politischer Gemeinde und Bürgergemeinde sind diese Darstellungen wichtig, da sie die Entwicklung von den Nachbarschaften zu den modernen (Bürger-)Gemeinden miteinbezogen und Fragen der Gemeindeautonomie erstmals hier auftauchten. Oft nahmen die historisch argumentierenden Juristen sogar explizit Stellung zu den zeitgenössischen Problemen des rechtlichen Verhältnisses zwischen Gemeindebürgern und Niedergelassenen. Es scheint daher sinnvoll, diese Untersuchungen bis in die 1970er-Jahre als Quellen für eine Abgrenzungsgeschichte der Bündner Gemeinden heranzuziehen.

Wie sieht es demgegenüber mit der neueren Bündner Geschichtsforschung aus? Aus einem gewissen zeitlichen Abstand behandelte Peter Metz’ Geschichte des Kantons Graubünden Anfang der 1990er-Jahre politik- und verfassungsgeschichtlich die Entstehung des Niederlassungsgesetzes von 1874 und einige Aspekte des damit gekoppelten Konflikts um die Bürgergemeinden.117 Im Gegensatz dazu lassen das vierbändige Handbuch der Bündner Geschichte118 (2000) oder der Sammelband Gemeinden und Verfassung119 (2011) das Phänomen «Bürgergemeinde» praktisch gänzlich ausser Acht. Wenig mehr als statistisches Datenmaterial zum Thema liefert Adrian Collenbergs wirtschafts- und sozialgeschichtliche Untersuchung von Trun, Andeer und Saas im Prättigau.120 Andere, über die Einzelgemeinde hinausgehende kultur- oder sozialgeschichtliche Monografien der modernen Bündner (Bürger-)Gemeinden fehlen.121 Das bedeutet auch, dass die spezifisch ortsbürgerlichen Werte und Praktiken im Bereich der Einbürgerungs-sowie der Boden- und Wasserrechtspolitik bisher nicht Gegenstand der Bündner Forschung waren.122 Für die Einbürgerungspolitik rücken damit die umfangreichen Studien zum Schweizer Bürgerrecht in den Fokus. Diese bieten eine wertvolle Grundlage für den Vergleich der Einbürgerungspolitik der Bürgergemeinden mit jener des Bundesstaats, konzentrieren sich jedoch in den Fallbeispielen ausschliesslich auf die grossen Schweizer Städte.123

Aus Bündner Sicht ist für eine Gemeindegeschichte schliesslich die Lokalgeschichte zu erwähnen, die immer einen populären Anspruch hat. Das Spektrum ist gross und reicht von Friedrich Pieths Das alte Seewis von 1910 (ohne Berücksichtigung der Zeit nach 1800) bis zu Paul Eugen Grimms detaillierter Studie über Scuol (2012). Ortsgeschichten, die im Auftrag der Bürgergemeinde geschrieben wurden, gibt es in Graubünden nur ganz vereinzelt. Sie beschreiben vor allem Rechtsverhältnisse und Sachgeschäfte der Vergangenheit.124 Der grosse Rest der über 65 Gemeindemonografien Graubündens125 liefert vereinzelt Rohmaterial für eine Abgrenzungsgeschichte der Bündner Gemeinden. Zahlreiche Gemeindegeschichten enthalten wichtige historische Basisdaten zum Organisationsgrad der Gemeindebürger oder zur Einbürgerungspolitik. Gemeindemonografien sind demnach je nach Alter und Wissenschaftsgrad auf einem Kontinuum zwischen Darstellung und Quelle anzusiedeln.

Nichtsdestoweniger fristet die Bürgergemeinde in der aktuellen Bündner Geschichtskultur eindeutig eine Randexistenz. Nimmt man knappe Übersichtsdarstellungen wie das Historische Lexikon der Schweiz zur Hand, spielt die Bürgergemeinde selbst in Artikeln zu Gemeinden mit den historisch (oder aktuell) bedeutendsten Bürgergemeinden – Chur, St. Moritz, Domat/Ems – höchstens beiläufig eine Rolle.126 Ein ähnliches Bild bietet ein Überblick über den Stand der Forschung in der übrigen Schweiz. Aus Schweizer Sicht sind zahlreiche Darstellungen zum Thema meist neuere Lokalgeschichten der Bürgergemeinde über sich selbst, viele mit aufklärerischem Gestus.127 Hinzu kommen einzelne rechtshistorische Abhandlungen zum Gegenstand der Bürgergemeinde.128

Die bisher einzige kulturhistorische Darstellung der Bürgergemeinde nach 1874129 ist Katrin Rieders medial breit rezipierte Dissertation Netzwerke des Konservatismus von 2008. Ihre Analyse macht von Anfang an deutlich, dass die Burgergemeinde Bern als Bollwerk dem konservativen Berner Patriziat die politische, gesellschaftliche und kulturelle Vorrangstellung sicherte.130 Einen etwas differenzierteren Blick verspricht der jüngst erschienene Sammelband Von Bernern und Burgern. Tradition und Neuerfindung einer Burgergemeinde.131

Schliesslich habe ich angedeutet, dass Bürgerlichkeit ein möglicher Schlüssel ist, um die Bedeutung der Bündner Bürgergemeinden in der Bündner Gesellschaft zu erklären. Damit rückt das freisinnig-liberale Bürgertum als jene «kulturelle Formation» in den Fokus, die als Motor der Verbürgerlichung gilt. Bürgerlichkeit als eine bestimmte Form von (politischer) Kultur ist in der Bündner Historiografie jedoch eine noch gänzlich unbekannte Grösse. Die zahlreichen Studien, die sich mit dem öffentlichen Engagement der in den meisten Fällen reformiert-bürgerlichen Bündner Oberschicht in der Moderne befassen, haben die Entstehung eines durch bestimmte kulturelle Ausprägungen verfassten Bürgertums bisher ausser Acht gelassen.132 Als konzeptionelle Basis dient mir deshalb die umfangreiche Forschung aus dem deutschsprachigen Raum, deren bürgerlicher Wertekanon ein «in allen europäischen Mittelschichten verbreitetes Kulturmuster» war.133 Als Gegenfolie sollen Unterschiede und Gemeinsamkeiten mit jener politischen Kultur herausgearbeitet werden, die neben dem bürgerlichen Freisinn in erster Linie die Bündner Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts geprägt hat: der politische Katholizismus.134 Für diesen liefern die Studien von Ivo Berther II mund sutsura. Die Welt steht Kopf135 und Urs Altermatts Katholizismus und Moderne136 die Ausgangspunkte. Das heisst nicht, dass das Bürgertum in katholischen Regionen keine Rolle gespielt hätte. Doch für ihre historisch viel geringere Wirkmächtigkeit innerhalb des katholischen Milieus spricht allein bereits, dass die Forschung in der Schweiz neben dem städtischen zwar das ländliche, nicht aber das katholische Bürgertum untersucht hat.137

Schliesslich hat sich bislang für die Zeit nach dem Inkrafttreten des Niederlassungsgesetzes von 1874 weder die Bündner Geschichtswissenschaft noch die Bündner Volkskunde etwaigen Abgrenzungsmechanismen ausserhalb der kantonalen oder kommunalen Gesetzgebung angenommen, sodass diese Untersuchung auf diesem Gebiet einige erste Schritte wird machen müssen.138

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