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2.1 Gemeindebildung im Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit
ОглавлениеDie politische Organisation auf dem Gebiet des heutigen Kantons Graubünden war im Spätmittelalter grundsätzlich von Adeligen und kirchlichen Herrschaftsträgern geprägt. Doch ähnlich wie in der Innerschweiz kann davon ausgegangen werden, dass die feudale Grundherrschaft und die damit verknüpften Rechte an den darin lebenden Personen spät, lückenhaft und nur oberflächlich realisiert werden konnte.3 Eine lokale, ländliche Gemeindebildung unter feudalrechtlichen Vorzeichen ist entsprechend bereits für das Hochmittelalter nachweisbar. Die abhängigen Bauern hatten die Möglichkeit, ihre inneren Verhältnisse selbst zu regulieren.4 Der Organisationsgrad dieser Nutzungsgenossenschaften stieg im 14. und 15. Jahrhundert stark an. Ihr Zweck bestand in erster Linie darin, die Nutzung des Gemeinlands, also Wald, Wasser, Weiden und Alpen, zu regeln. Der dafür notwendige Dorfvorsteher wurde von der Nachbarschaftsversammlung gewählt und musste auch Bestimmungen über Zäune, Mauern, Feldwege, Waschhäuser, Backöfen und anderes mehr durchsetzen. Die Eigenbetriebe der Feudalherren waren in der Regel nicht mehr als gewöhnliche Mitglieder dieser Nutzungsgenossenschaften.5
Die wirkmächtige «Epoche der Gemeinden» wurde um die Mitte des 14. Jahrhunderts aber von einem grösseren Gebilde eingeläutet.6 Als sich um 1350 die Herrschaftsgebiete des Churer Bischofs und des rätischen Hochadels verdichteten, bildeten sich die Gebiete der späteren Gerichtsgemeinden aus, die in der Regel mehrere Nachbarschaften umfassten. Diese Herrschaftsverdichtung durch die Feudalherren wäre wohl ohne die Mitwirkung «von unten» organisatorisch nicht möglich gewesen. Die von der Gemeinde vorgeschlagenen oder sogar gewählten Ammänner (rätorom. mistral/mastrel, in Südbünden podestà) und ihre Amtsleute vermittelten als Vorsitzende der niederen, das heisst zivilen Gerichtsbarkeit zwischen Feudalherren und Bauern. Bereits ab dem letzten Viertel des 13. Jahrhunderts tauchten als Verbände dieser Art die Walsergemeinden Rheinwald und Safien, Davos und Langwies unter ihren jeweiligen Feudalherren auf. Letztere behielten die Kriminalgerichtsbarkeit. Um 1350 findet man dann die ersten Talgemeinden unter dem Bischof von Chur (Oberengadin, Bergell), die obere Surselva unter dem Abt von Disentis, das Schamsertal unter den Werdenberg-Sargans.7
Nach Mitte des 14. Jahrhunderts bildete sich zwischen diesen Gerichtsgemeinden allmählich ein Bündnisgeflecht aus. 1367 versammelten sich Amtsleute aus den Gerichtsgemeinden des Bischofs, Vertreter des Domkapitels und der Stadt Chur, um gegen das Vorgehen des Bischofs zu protestieren, der seine landesherrlichen Rechte für acht Jahre den Herzögen von Österreich übertragen hatte.8 Bis um 1500 wuchs die Machtstellung dieses später Gotteshausbund genannten Bündnisses (Chur, Ober- und Unterengadin, Surses, Domleschg, Bergell) zuungunsten des Bischofs, woran vor allem der in den Gemeinden agierende lokale Dienstadel und die Stadt Chur beteiligt waren.9 Der Obere oder Graue Bund, der die Surselva und den heutigen Bezirk Moesa umfasste, war hingegen 1395 gegründet worden, um den Landfrieden zwischen dem Abt von Disentis und den Herren von Rhäzüns und Sax zu gewährleisten.10 Wiederum ohne die Beteiligung von Feudalherren wurde schliesslich der Zehngerichtebund (Davos, Prättigau, Schanfigg, Maienfeld, Malans, Churwalden, Belfort) nach dem Tod des letzten Toggenburger Landesherrn 1436 in Davos gegründet.11
In ihrer Zwischenstellung zwischen Landesherr und Gerichtsgemeinde profitierten der lokale Dienstadel und die übrigen herrschaftlichen Amtsinhaber am meisten von dieser Entwicklung. Am Beispiel der Familie Planta von Zuoz ist belegbar, dass diese Aufsteiger dank ihrer lokal-regionalen Verankerung und ihrem Profitstreben den Abstieg der Feudalherren mitbefördert haben.12 Die Planta übernahmen im 13. Jahrhundert das Amt des Ammanns, im 14. Jahrhundert kamen sie dann in den Besitz der Zoll-, Jagd- und Fischereirechte des Bischofs. Weitere liquide Mittel flossen aus Bergbau und Handel. Nach 1400 bemühten sie sich, ihre Machtstellung gegen den Bischof als herrschaftliches Erbe zu legitimieren.13
Der Aufstieg einer neuen lokalen Elite durch die politisch immer wichtiger werdenden Gerichtsgemeinden befeuerte gleichzeitig die Entwicklung der Drei Bünde. Einerseits verfestigten sich innerhalb der Bünde frühstaatliche Strukturen, etwa in Form von Satzungen, die auf eine stärkere Kontrolle der Bevölkerung abzielten. Andererseits integrierten sich die einzelnen Bünde nach 1450 durch eine Reihe von Bündnisverträgen miteinander, wobei diese oft ohne Beteiligung der formal immer noch herrschenden Feudalherren abgeschlossen wurden. An Bundstagen trafen sich Abgeordnete von rund 50 Gerichtsgemeinden, wobei wichtige Verhandlungsgegenstände wie Bündnisfragen und Kriegszüge den Gemeinden vorgelegt werden mussten. Nach 1461 wird erstmals ein Schiedsgericht für alle drei Bünde fassbar, anlässlich der ersten gemeinsamen Militäraktion 1486/87 eine erste Kriegsordnung.14 Überhaupt sind es im weitesten Sinn aussenpolitische Angelegenheiten, die als wichtiger Impuls der staatsorganisatorischen Verfestigung der Drei Bünde angesehen werden. Zum einen waren das Soldverträge mit Frankreich, zum anderen Bündnisverträge mit der Eidgenossenschaft. Diese ermöglichten beispielsweise ein gemeinsames Vorgehen gegen die expansive Politik der Herzöge von Österreich in der Schlacht an der Calven 1499.15
Schliesslich gaben sich die Drei Bünde mit dem Bundsbrief von 1524 eine eigene Verfassung. Dieser staatliche Überbau stellte staatsorganisatorisch nach wie vor «nur eine dünne Hülle dar».16 Die Gerichtsgemeinden blieben eigene kleine Republiken, der Aufbau des neuen Freistaats der Drei Bünde stark föderalistisch geprägt. Die Abgeordneten des Bundstags, der obersten Behörde des Staats, stimmten nur nach Instruktionen der 52 Gerichtsgemeinden. Abgestimmt wurde lediglich gemeindeweise. Neue Entscheide waren dem Referendum der Gerichtsgemeinden unterworfen.17
Nichtsdestotrotz waren die 1524/1526 vom Bundstag erlassenen Ilanzer Artikel eine wichtige Grundlage für den weiteren Ausbau zu einem neuen «Gemeindestaat» (Randolph Head). Privatrechtlich ins Gewicht fiel die Verminderung von Abgaben, die Zehnten waren nun ablösbar. Zentrale Bedeutung kam vor allem dem zweiten Artikelbrief zu. Er schloss den Bischof von allen politischen Geschäften der Drei Bünde aus. Die Gerichtsgemeinden erhielten darüber hinaus das Recht, eigene Geistliche zu wählen oder zu entlassen. Damit schuf dieses neue Landesrecht eine Voraussetzung für die Reformation.18 Diese setzte sich bis gegen Ende des 16. Jahrhunderts in rund 60 Prozent der Pfarreien durch. Katholisch blieben vor allem die obere Surselva, das Surses und das untere Albulatal sowie die Südtäler Misox und Calanca. Gemischtkonfessionell blieben das Puschlav, die mittlere Surselva und Teile des Bündner Rheintals.19
Es ist meines Erachtens nicht unwichtig zu sehen, dass das Kloster Disentis in der Surselva von den Verfügungen des zweiten Artikelbriefs gegen kirchliche Herrschaftsträger nur teilweise betroffen wurde.20 Insofern waren die Artikel tatsächlich ein Projekt von reformierten Aufsteigern in den Gerichtsgemeinden und von Churer Stadtbürgern, das in erster Linie gegen die umfangreiche Landesherrschaft des Bischofs gerichtet war.21 In der Gerichtsgemeinde Disentis/Cadi musste der Ammann noch bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Kriminalgerichtsbarkeit vom Abt brieflich erbitten. Dieser Vorgang, wenn er auch nicht mehr öffentlich war, sagt einiges über den politischen Status des Abts aus – zumal die Krimimalgerichtsbarkeit für die Vorstellung staatlicher Macht essenziell war.22 Nicht anders ist die Funktion des klösterlichen Hofes in Trun als Versammlungsort des Grauen Bundes zu bewerten, wo der Abt als Zeremonienmeister und Gastgeber auftrat.23 In der Gerichtsgemeinde Disentis und der Gerichtsgemeinde Rueun behielt der Abt das Vorschlagsrecht bei der Wahl des Ammanns bis zu Beginn des modernen Kantons Graubünden, in Disentis beanspruchte er bis 1812 zudem an der Disentiser Landsgemeinde 30 Stimmen für sich.24 Eine derartige Verflechtung von Kirche und staatlichen Institutionen fällt auf, wenn man die Landesherrschaft des Bischofs (Chur, Vier Dörfer, Domleschg, Surses, Albulatal, Bergell, Oberengadin, mit Einschränkungen das Unterengadin) damit vergleicht. Diese wurde in wenigen Jahrzehnten nach 15 24, mit Ausnahme der Val Müstair, «neutralisiert»,25 wobei eine Mehrheit dieser Gerichtsgemeinden bis um 1580 zum neuen Glauben übertrat.26
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass trotz der ausgeprägten Heterogenität ein politisches Gebilde in Graubünden entstanden war, «that represented the most extreme example of communal and federal state-building to be found in Europe at the time».27 Von einigen rechtlichen Machtansprüchen überkommener Feudalherren wie dem Disentiser Abt abgesehen, war es einer neuen kommunalen Führungsschicht gelungen, neue politische Rahmenbedingungen zu konsolidieren.28 Bis Mitte des 17. Jahrhunderts besassen dann fast alle Gerichtsgemeinden sämtliche staatlichen Kompetenzen mit Ausnahme der Aussenpolitik.
Die Darstellung wird nun darauf zugespitzt, dass dieser im 16. Jahrhundert entstandene Kommunalismus auf die Nachbarschaften übergriff und dort die Exklusion der Hintersassen befördert hat. Anhand von Beispielen zur Stellung der Hintersassen werden die entstandenen «horizontalen» Ungleichheiten gut fassbar. In einem weiteren Schritt wird es darum gehen, die moderne Gemeindeautonomie und den Ausschluss der Niedergelassenen und Ausländer als altrepublikanische Relikte des frühneuzeitlichen Kommunalismus gegeneinander abzugrenzen.