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3.1 De jure ein Status quo
ОглавлениеUm die Mitte des 19. Jahrhunderts erfuhr die staatsrechtliche Gestalt des Kantons «auf einen Schlag eine fundamentale Veränderung».1 Mit dem neuen Gebietseinteilungsgesetz vom 1. April 1851 war es den liberalen Grossräten gelungen, die noch aus der Frühneuzeit stammenden Gerichtsgemeinden aufzulösen. An ihre Stelle traten die 39 neu geschaffenen Kreise, die aber lediglich gewisse gerichtliche Kompetenzen erhielten. Die eigenständige staatsrechtliche Stellung der ehemaligen Gerichtsgemeinden wurde drei Jahre später in der neuen Kantonsverfassung auf die 223 ehemaligen Nachbarschaften übertragen, aus denen nun «mit grosser Autonomie ausgestattete Gemeinwesen mit Staatsqualität» entstanden.2 Aus diesem Grund ist Graubünden bis heute kein «Einheitsstaat», sondern als «Bundesstaat mit Gemeindestaatlichkeit» ein atypisches Mittelding.3
Allein, die rechtliche Reorganisation der neuen 223 Gemeinden stellte für die Kantonsbehörden, so bringt es Peter Metz auf den Punkt, «ein überaus heikles und umstrittenes Problem»4 dar. Ab Mitte des Jahrhunderts stand der Kanton damit praktisch allein 223 Gemeinden gegenüber.5 Dies war das Spielfeld, auf dem sich der nach Vereinheitlichung strebende Kanton und die Gemeinden mit ihrer überkommenen Vorstellung von Autonomie trafen.6 Was die innere Organisation und rechtliche Ausgestaltung der Gemeinden anging, verhielt sich der Kanton zögerlich: Weder im Gebietseinteilungsgesetz von 1851 noch in der Kantonsverfassung von 1854 wurden entsprechende Artikel aufgenommen.7 Der in Chur erscheinende Liberale Alpenbote kritisierte deshalb 1852, das Gemeindewesen im Kanton Graubünden finde sich «bekanntlich total seinem Schicksal überlassen. Ob und welche Gemeindeordnungen bestehen, ob Gemeinderäthe oder bloss sog. Vorstände bestehen, ob und wie Rechnung abgelegt werde, ob das Gemeindevermögen gut oder schlecht verwaltet werde: um das Alles kümmert sich der Staat so zu sagen gar nichts [sic!]».8
In diesem Spannungsfeld tauchte nun im Juli 1851 die strittige Frage um eine kantonale Neuordnung der Niederlassung in den Gemeinden auf. Zweifellos war dies ein Bereich, bei dem der Kanton die Möglichkeit hatte, tief in die korporative Rechtsstruktur der Gemeinden einzugreifen, ihnen also einen beträchtlichen Teil ihrer Selbstbestimmung zu nehmen. Auf Bundes- und Kantonsebene waren bereits alle Schweizer Niedergelassenen den Gemeindebürgern gleichgestellt, wobei es eine Gruppe niedergelassener Churer gewesen war, die beim Bundesrat hatte rekurrieren müssen, um den entsprechenden Artikel 42 der neuen Bundesverfassung in Graubünden durchzusetzen. Ein Anfang 1849 in Kraft getretenes kantonales Gesetz hatte nämlich den niedergelassenen Kantonsbürgern zwar das aktive, nicht aber das passive Wahlrecht gegeben.9
In der Diskussion im Grossen Rat vom Juni 1852 gab das Thema wie schon in der Standeskommission «zu weitläufigen Erörterungen Veranlassung».10 In Hinblick auf die Nutzungsrechte der Niedergelassenen am Nutzungsvermögen mahnte ein Abgeordneter, nicht hinter die kantonale Norm von 1807 zurückzugehen, wonach die damaligen Gerichtsgemeinden angehalten worden waren, allen Kantonsbürgern das Nutzungsrecht gegen eine angemessene Taxe zu gewähren. Andernfalls überlasse man es «der Willkür der Gemeinden», die Niedergelassenen von allen Nutzungen auszuschliessen oder «die exorbitantesten Bedingungen daran zu knüpfen».11 Das Plädoyer für einen Kanton, der für alle dieselben wirtschaftlichen Rahmenbedingungen schaffen sollte, verband sich mit dem Argument, dass durch den Ausschluss der Niedergelassenen das «für unseren Kanton und dessen zeitgemässe Fortentwicklung so bedeutsame Prinzip der freien Niederlassung in vielen Fällen illusorisch gemacht, und der Kanton der daraus herfliessenden Vortheile zum grossen Theil beraubt» werde.12
Von konservativer Seite wurde diesem individualistischen Prinzip die Korporation der Gemeindebürger als historisch gewachsener Wert entgegenstellt, indem «auf den Sinn und Werth des Bürgerthums, wie er sich seit jeher festgestellt und bis zur neuesten Zeit anerkannt worden ist», aufmerksam gemacht wurde.13 Dadurch, dass die Gemeindebürger alleine die Eigentums- und Verwaltungsrechte besitzen, seien sie in
ihren nächsten Interessen auf’s innigste an ihre Heimath geknüpft […] wodurch allein der Bestand von Gemeinden als Grundpfeiler des ganzen Staatsorganismus, wie sie es bei uns sind und hoffentlich bleiben werden, ermöglicht wird. […] Ebenso sei ein lebendiges natürliches Interesse für eine tüchtige Gemeindsverwaltung nur bei der Bürgerkorporation selbst, nicht aber bei den zufällig und vorübergehend Niedergelassenen gedenkbar, vielmehr werde sich bei letztern diesfalls ein natürlicher Indifferentismus zeigen.14
Dies war zwar noch keine Diskussion um selbstlosen «Bürgersinn» oder egoistischen «Eigensinn», doch findet sich bereits eine Reihe von Argumenten, die von den Verfechtern der Rechte der Gemeindebürger in weit elaborierterer Weise noch bis in die 1970er-Jahre in verschiedenen Phasen und unterschiedlicher Gewichtung vorgebracht werden sollten: So liest man schon, dass nur die Gemeindebürger für den politischen und wirtschaftlichen Erhalt der ganzen Gemeinde geeignet seien. Dieser Befund wird historisch legitimiert und ist aus dieser Sicht umso dringender, weil gleichzeitig den Gemeinden die wichtigste Funktion im Schweizer Staatsaufbau zugeschrieben wird. Diese «alten Rechte» der Gemeindebürger sollten in den 1890er-Jahren eine erste Konjunktur erleben, während die besonderen Eigenschaften der Gemeindebürger als staatserhaltender Kern der Gemeinschaft vor allem ab der Zwischenkriegszeit ins Feld geführt werden sollten. Dass nur sie zu einem «tüchtigen» Umgang mit den Bodenreserven fähig seien, konnte man noch Anfang der 1970er-Jahre lesen.
Das am 1. März 1853 in Kraft getretene Niederlassungsgesetz folgte einer engen Interpretation der Bundesverfassung von 1848, obwohl von liberaler Seite im Grossen Rat darauf hingewiesen worden war, «dass die Bundesverfassung nur das Minimum der Rechte der Niedergelassenen festsetze».15 Zwar bestätigte es den Niedergelassenen volle politische Rechte auf kantonaler und eidgenössischer Ebene, verbot ihnen aber nicht nur wie schon die Kantonsverfassung von 181416 jedes Stimm- und Wahlrecht in Gemeindeangelegenheiten, sondern in Anschluss an Artikel 41 der Bundesverfassung auch jede Mitnutzung des kommunalen Nutzungsvermögens, also der Allmenden, Wälder und Alpen.17 Einzig im Kirchen- und Schulwesen waren den Niedergelassenen bestimmte Rechte zugesichert.18
Die Tatsache, dass im kantonalen Durchschnitt rund 25 Prozent19 der Schweizer oder Bündner offiziell von den ökonomischen und politischen Einrichtungen der Gemeinden ausgeschlossen waren, wurde offensichtlich nicht als Problemdruck empfunden. Dabei gab es zahlreiche Gemeinden, die wie die Stadt Chur (73 Prozent Nichtgemeindebürger im Jahr 1860)20 einen noch viel grösseren Anteil an Niedergelassenen aufwiesen. Die Gemeinde Igis mit dem wirtschaftlich aufstrebenden Landquart21 beispielsweise hatte zwei Jahre nach Eröffnung der Bahnlinie Rorschach-Chur bereits 43 Prozent Niedergelassene,22 Roveredo und Leggia im Misox als Durchgangsorte des noch florierenden Transitverkehrs23 46 und 45 Prozent.24
Trotzdem konnte sich das neue Niederlassungsgesetz in den ersten Jahren nach 1853 auf kantonaler Ebene als stabiles, allgemeingültiges Prinzip halten. Auffällig ist, dass in der Presse bis 1860 die Niedergelassenen nicht als Gegenstand fassbar werden: In der katholisch-konservativen Nova Gasetta Romonscha wurde zur Jahreswende 1859/60 über eine Reform des Gemeindegütergenusses diskutiert. Von einer Kategorie von Niedergelassenen wussten diese Artikel nichts zu berichten, lediglich das Verhältnis zwischen armen und reichen Gemeindebürgern stand zur Debatte.25 Könnte man das noch damit erklären, dass der Anteil Niedergelassener in der oberen Surselva 1870 bei 8,2 Prozent lag,26 greift diese Erklärung für die Kantonshauptstadt nicht. Eine Artikelserie im Churer Liberalen Alpenboten27 forderte mehr «Regulierung und Begrenzung der Gemeindefreiheit»,28 doch über das Verhältnis von Gemeindebürgern und Niedergelassenen schwieg sie sich aus. Im Engadin, wo sich die Bevölkerung durchschnittlich noch aus 53 Prozent Gemeindebürgern zusammensetzte,29 referierte das Blatt L’Utschella 1868 in acht Artikeln über Gemeindeverfassungen und ihre Auswirkungen auf die Landwirtschaft, ohne dass von jenen die Rede war, die davon ausgeschlossen waren.30
Ein Grund für diese Nichtthematisierung dürfte sein, dass in der praktischen Umsetzung des Niederlassungsgesetzes die Gemeindeautonomie tatsächlich zu einer liberaleren Praxis führte, als es das kantonale Gesetz vorgab. Schon Mitte der 1850er-Jahre waren in mehreren Gemeinden des Oberengadins aus Mangel an Gemeindebürgern niedergelassene Schweizerbürger zur Ämterbesetzung zugelassen.31 Die Zahlen der eidgenössischen Volkszählung lassen dies plausibel erscheinen: Während die Gemeindebürgerquote im Unterengadin mit 77 Prozent zu dieser Zeit noch hoch war, betrug die Quote im Oberengadin gemäss eidgenössischer Volkszählung von 1860 nur noch 28 Prozent.32 Ausserdem gab es Gemeinden wie Arosa oder Ramosch, die ihren Niedergelassenen das Stimmrecht in Angelegenheiten gewährten, die nicht als rein ortsbürgerliche Kompetenzen angesehen wurden.33 Gemäss einem Bericht des Kleinen Rates von 1868 hatten Niedergelassene in verschiedenen Gemeinden des Kantons Anrecht auf Brennholz. Vier Oberengadiner, aber auch die drei Unterengadiner Gemeinden Guarda, Ramosch und Tschlin gewährten ihren Niedergelassenen sogar Nutzungsrechte an den Gemeindealpen.34
Als Gegenstand von Rekursen wird das 1853 neu etablierte Verhältnis von Niedergelassenen und Gemeindebürgern bis 1860 ebensowenig erkennbar.35 Wenn überhaupt, wurde die Gemeindeautonomie in dieser Frage nur am Rande des politischen Diskurses kritisch beleuchtet, obwohl sich die kantonalen Organe in diesen Jahren durchaus mit der Frage beschäftigten, wie die Gemeinden ausgestaltet werden sollten. Das Gebietseinteilungsgesetz von 1851 und die neue Kantonsverfassung wiesen ja in der Frage der Gemeindeorganisation Lücken auf, und um diese zu schliessen, liess der Kleine Rat für 1854 ein Gemeindegesetz vorbereiten. Diese Aufgabe übernahm der Mitbegründer des liberalen Reformvereins von 1842, Peter Conradin von Planta. In seinem Commissionalbericht über den Vorschlag zu einer Gemeinde-Ordnung, welcher der Vorbereitung dieses 1854 an der Urne gescheiterten Gemeindegesetzes diente, taucht die Frage des problematischen Rechtsverhältnisses zwischen Niedergelassenen und Gemeindebürgern nur am Horizont als Ausblick auf.36
Insgesamt zeigt diese kurze Übersicht, dass einzelne Gemeinden durch eine liberale Handhabung des Gesetzes den Problemdruck punktuell minderten. Davon abgesehen lässt sich die Akzeptanz oder Aneignung des Niederlassungsgesetzes von 1853 aber nicht mit messbaren Gemeindebürgerquoten erklären. Genauso wenig, wie relativ niedrige Bürgerquoten wie zum Beispiel in Chur bis um 1860 Widerstand gegen das Niederlassungsgesetz hervorriefen, wurde die konservative Gesetzesnorm nur dort gelockert, wo beispielsweise zu wenig Gemeindebürger für die Besetzung der Gemeindeämter vorhanden waren.
Während dieses Niederlassungsgesetz den Status quo nicht veränderte, gab es durchaus Gemeinden, die eine liberale Praxis walten liessen. In der Kantonshauptstadt hingegen wurde der Ausschluss der Niedergelassenen erst im Zuge der in weiten Teilen der Schweiz in den 1860er-Jahren entstehenden sogenannten Demokratischen Bewegung in einer breiteren Öffentlichkeit diskutiert. Auf der lokalen, nebenstaatlichen Bühne Churs, wo neben dem Churer «Bürger-Verein» einzelne Vorkämpfer und andere Vereine oder lose Gruppen auftraten, erhielt das bereits 1853 formulierte Argumentarium für oder gegen die Kontinuität der altrepublikanischen Partizipationsprinzipien auf beiden Seiten ganz explizit die Qualität bürgerlicher Werte. Der Anspruch, über bürgerliche Qualitäten zu verfügen, bildete in dieser Phase vielfach den Brennstoff der Diskussion. Die sich teilweise widerstrebenden Eigenschaften des «bürgerlichen Wertehimmels» – darunter die freie Meinungsbildung des Einzelnen oder das uneigennützige Engagement für das Gemeinwohl bei gleichzeitiger Sicherung des Eigennutzens – reklamierten die Akteure beider Seiten für sich und sprachen sie in teils polemischen Angriffen der Gegenseite ab.