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Die Konjunktur der Gemeindeautonomie
ОглавлениеDie Gemeindeautonomie war Mitte der 1890er-Jahre keine neue Erfindung. Theophil Sprecher von Bernegg übernahm wie ein Jahr zuvor der Maienfelder Bürgerrat einen Begriff, der sich gut an die Frage der alten Rechte der Gemeindebürger anschliessen liess. Das Fahnenwort der Gemeindeautonomie oder Gemeindesouveränität war in Graubünden das Emblem der Verfechter des altrepublikanischen Föderalismus, der seit der Etablierung des modernen Kantons in Abgrenzung zum liberal-progressiven Etatismus einen der beiden Hauptströme in der Bündner Politik konstituierte. Seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war die Frage der Gemeindeautonomie praktisch omnipräsent – also schon lange bevor es darum ging, die alten Rechte der Gemeindebürger zu erhalten oder auszubauen.
Ende des 19. Jahrhunderts war die Rede von der historisch begründeten Autonomie der Gemeinden etwas, das bereits vielfach durch diverse Medienformate popularisiert worden war: Offen kritisch hatte Peter Conradin von Planta darüber im von ihm 1842 mitbegründeten Reformverein oder in dessen gleichzeitig begründeter Zeitschrift Pfeil des Tellen geurteilt. Dabei war es beispielsweise um Fragen der Forstwirtschaft oder der Organisation der Gerichte gegangen.34 Doch selbst liberale Positionen gaben der Bündner Gemeindeautonomie mitunter einen relevanten Wert im Bündner Staatsaufbau. Der Liberale Alpenbote hatte beispielsweise 1853 in seiner Kritik an der fehlenden kantonalen Ordnung für die innere Organisation der Gemeinden eingeräumt: «Wahr ist zwar, dass unser freies und selbstständiges Gemeindewesen der köstlichste Schatz ist, den unsere Vorfahren uns überlieferten.»35
Noch positiver gelagert war die von der katholisch-konservativen Gasetta Romonscha im Zuge der Demokratischen Bewegung vorgebrachte Vorstellung gewesen, die ehemalige Gerichtsgemeinde Disentis sei die «Wiege des Referendums».36 Zwar hatte dies nicht die lokale Selbstverwaltung in den Gemeinden betroffen, sondern die direktdemokratischen Steuerungsmöglichkeiten der Stimmbevölkerung als Gegengewicht zum etatistischen Zugriff des Kantons. Argumentativ funktionierte die Verteidigung dieser Art von Selbstbestimmung aber ähnlich wie jene der lokalen Gemeindeautonomie. In gleicher Weise wurde von katholisch-konservativer Seite auch die Autonomie des Kantons gegenüber dem Bund verteidigt.37
Nun fällt aber auf, dass erstens die Gemeinde an und für sich wie auch das Phänomen der Gemeindeautonomie in der Bündner Geschichtswissenschaft gerade erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu einem wichtigen Begriff wurde. Es ist deshalb nur bedingt so, dass «die Geschichte der Bündner Gemeinde auch die Geschichte der Bündner Geschichte überhaupt reflektiert».38 In den frühen Überblicksdarstellungen zur Bündner Geschichte fehlte die Gemeinde nämlich lange als eigener Gegenstand der Untersuchung, tauchte nur als Bestandteil anderer Fragen oder am Rand auf. Nimmt man die Überprüfbarkeit der Ergebnisse als Kriterium für moderne Geschichtsforschung, so kann man zu diesen wissenschaftlichen Darstellungen bereits den anonym erschienenen Grundriss der Geschichte Gmeiner drey Bündten von 1773 zählen. Dank elektronischer Volltextsuche bei Google Books lässt sich zumindest für alle Werke bis und mit Conradin von Moors Geschichte von Currätien und der Republik «gemeiner drei Bünde» (1870/71) und Wolfgang von Juvalts Forschungen über die Feudalzeit im Curischen Raetien (1871) leicht feststellen, dass diese Darstellungen nicht nur der Gemeinde keine gesonderte Betrachtung widmeten, sondern auch an keiner Stelle einer historisch glorifizierten Gemeindeautonomie (aktuelle) Bedeutung einräumten.39 Eine Durchsicht von Johann Andreas Sprecher von Berneggs Geschichte der Republik der drei Bünde (1872/1875) und Peter Conradin von Plantas Die currätischen Herrschaften in der Feudalzeit (1881) führt zum selben Resultat.40
1896, zwei Jahre nachdem Sprecher seine Initiative verfasst hatte, promovierte Alois Steinhauser aus Sagogn (Kreis Ilanz) über das Das Zugrecht nach den bündnerischen Statutarrechten. Mit einem Exkurs über die «Bündnergemeinde». Im Zuge der in der Schweiz gegen Ende des 19. Jahrhunderts einsetzenden Verwissenschaftlichung des Advokatenberufes41 war er einer der ersten einer ganzen Reihe junger Bündner Juristen, die einen rechtlichen Aspekt um das Thema «Gemeinde» für ihre Promotion gewählt haben. Steinhauser, Sohn des wohlhabenden Nationalrats Anton Steinhauser, wandte sich just um 1900 vom linksliberalen Kurs seines Vaters ab und schloss sich dem konservativ-katholischen Lager um den Trunser Nationalrat Caspar Decurtins an.42 Decurtins war neben Theophil Sprecher von Bernegg ein weiterer Bündner Exponent der «reaktionären Avantgarde». Er war neben dem Verleger der Gasetta Romonscha, Placi Condrau, «Chefideologe» der katholischen politischen Kultur der Surselva. Ein zentraler Fokus dieser katholischen Spielart der «neuen Rechten» waren nicht nur direktdemokratische Partizipationsmittel oder das föderalistische Selbst- und Mitbestimmungsrecht,43 sondern auch Formen des sozialpolitischen Korporatismus, die zum Prinzip der Bürgergemeinden durchaus Affinitäten aufwiesen.44 Dies soll hier jedoch nicht weiter interessieren. Entscheidend ist, dass Theophil Sprecher von Berneggs konservativ-föderalistische Partei in Graubünden ab 1872 eine Allianz zwischen konservativen Katholiken und nichtfreisinnigen Protestanten bildete,45 wobei das Hauptgewicht des neuen Konservativismus im katholischen Lager lag.46
Alois Steinhauser etablierte sich in seiner Dissertation als Teil dieser überkonfessionellen, rückwärtsgewandten politischen Kultur, indem er als erster (Rechts-)Historiker überhaupt der Gemeindegeschichte das Primat für das Verständnis der Geschichte und Gegenwart Graubündens zuschrieb. Er verortete die historische Entwicklung Graubündens in der Gemeinde. Eine solche Betrachtung sei notwendig, wenn man «unser spezifisch-bündnerisches Wesen, besonders sein historisches Werden, verstehen will».47 Im Gegensatz «zur allgemeinen Entwicklung» sei es nämlich in Graubünden zum «Sieg der Gemeinderechte» gekommen. Seit dem 16. Jahrhundert hätten die Gemeinden ihren Charakter behalten, «und gegenwärtig noch hält das Volk mit der ihm eigenen historischen Zähigkeit an der Gemeinde-Autonomie fest».48 Mühelos übertrug er das Bewusstsein für die im vormodernen Freistaat weitgehende Autonomie der (seit 1851 nicht mehr bestehenden) Gerichtsgemeinden auf die moderne Gemeinde, indem er kurzerhand beide mit «Gemeinde» bezeichnete. Steinhauser lieferte die wissenschaftliche Begründung für Vorstellungen, wie sie seit Jahrzehnten nicht nur in konservativen Kreisen etabliert waren.
1897 besprach das konservative Bündner Tagblatt in mehreren Ausgaben Steinhausers Dissertation. Der Rezensent wählte Steinhausers Werk aus, «weil es uns freut, wenn angehende Staatsmänner erkennen, dass die Gemeinde die Grundlage, wir möchten sagen die Ursache alt-rhätischer Freiheit ist».49 Mit dieser Artikelserie wird darüber hinaus gut sichtbar, wie dieses Wissen zwischen populären und wissenschaftlichen Formaten zirkulierte: Vorstellungen über den historischen und zeitgenössischen Wert der Gemeindeautonomie verfestigten sich in Graubünden zunächst in populären Diskursen, um von der Forschung rezipiert und sodann wieder popularisiert zu werden. So übernahm der Rezensent des Bündner Tagblatts Steinhausers Einschätzung zum Teil wörtlich, wenn er festhielt: «Seit dem 16. Jahrhundert behielten sie [die Gemeinden, S. B.] ihren Charakter bis in die neuere Zeit, und gegenwärtig hält das Volk noch mit der ihm eigenen historischen Zähigkeit an der Gemeinde-Autonomie fest.»50 Darüber hinaus wurde im Herbst 1897 in Chur das Theaterstück Rink von Baldenstein aufgeführt, das «den Sieg der freien Bauerngemeinden in den Alpen» einem breiteren Publikum vorführte.51
Das Interesse der Juristen für das Thema nahm in den nächsten Jahren nicht ab. 1901 verfasste Alois Steinhauser selbst in der rätoromanischen Fachzeitschrift Annalas da la Societàd reto-romantscha einen Aufsatz zum Gemeindevermögen, dem am Schluss unter dem Stichwort «politische Bedeutung» mit Blick auf die Gemeinden ein gewisses Pathos nicht fehlt: «En nossas vischnauncas anflein nus il spert da libertad che ha batteu ils regenters feudals, che ha deliberau ilpievelgrischun del domini feudal ton mondan sco eclesiastic.»52 1902 erschienen mit Anton Meulis Dissertation Die Entstehung der autonomen Gemeinden im Oberengadin und Achill Gengels Dissertation Die Selbstverwaltungskörper (Kreise und Gemeinden) des Kantons Graubünden gleich zwei Studien zum Thema. Als Freisinnige beurteilten sie Graubünden als das «klassische Land der Gemeindefreiheit» (Meuli) insgesamt differenziert-nüchterner.53 Dieselbe Nüchternheit findet man im Übrigen schon 1890 in der Dissertation des freisinnigen Rudolf Anton Ganzoni aus Celerina/Schlarigna, der schon vor Steinhauser von der «souveräne[n] Gemeinde» spricht, ohne dabei auch nur im Geringsten ein besonderes Bündner Wesen langfristig am Werk zu sehen.54 Ungeachtet dieser Abstufungen zeigt diese kurze Rundschau über die frühen (rechts-)historischen Bündner Werke, dass es politisch konservativ gesinnte Autoren wie Alois Steinhauser waren, die zwei Jahre nach Sprechers Initiative der unkritischen Verklärung der Gemeindeautonomie den Status der wissenschaftlichen Wahrheit gaben. Dieses Wissen kristallisierte sich zwar langfristig in der Sphäre akademischer Wissenschaft, hatte dort aber keineswegs seinen Ausgangspunkt und breitete sich umso stärker in der Sphäre populärerer Formate aus – wie auch noch in den nächsten Kapiteln zu zeigen sein wird.
Bezeichnenderweise war es Grossrat Caspar Decurtins, der in der Junisession 1895 versuchte, die erste «Bürgerinitiative» zu verteidigen. Decurtins’ Bemühungen im Grossen Rat waren vergeblich: Regierungsrat Franz Peterelli gab zu bedenken, dass nicht im Sinne der Initianten «faktisch und förmlich ein Dualismus geschaffen, sondern auf Stärkung der Einheit abgestellt werden»55 solle. Darauf, dass diese gelegentlichen Beschwörungen der Gemeindeeinheit seitens der kantonalen Behörden im Widerspruch zu deren Rekurspraxis standen – die de facto zwei Rekursparteien anerkannte – habe ich hingewiesen. In der Grossratsdebatte vom Juni 1895 spielten solche behördlichen Widersprüche aber keine Rolle. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Grosse Rat die Eingabe wegen formeller Mängel – eine Verfassungs- war mit einer Ge – setzesinitiative verkoppelt worden – ohnehin bereits abgelehnt.56