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4.2 Die «reaktionäre Avantgarde» und die Gemeindeautonomie

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Mit dieser heftigen Kritik am modernen Kanton öffnet sich das weite Feld dessen, was Hans-Ulrich Jost als «reaktionäre Avantgarde» bezeichnet hat.21 Diese ab den 1890er-Jahren entstehende Bewegung war weder eine politische Partei noch eine homogene Gruppe, sondern ein loses Konglomerat von konservativen Intellektuellen, Wissenschaftlern, Künstlern und Politikern. Bisweilen waren diese «neuen Rechten» in neu gegründeten Vereinen organisiert. In der Westschweiz bildete sich der intellektuelle Kreis der «Helvétistes» um den Historiker und Literaturwissenschaftler Gonzague de Reynold, während in der deutschsprachigen Schweiz der 1904 gegründete Deutschschweizerische Sprachenverein, das Schweizer Bauernsekretariat unter Ernst Laur, die 1914 von de Reynold gegründete Neue Helvetische Gesellschaft und der nach dem Ersten Weltkrieg entstandene Schweizerische Vaterländische Verband zu den massgebenden Organisationen dieser Bewegung gezählt werden, ferner auch Teile des 1905 gegründeten Schweizer Heimatschutzes und die in dessen Gefolge entstandenen Trachten- und Volksliedervereinigungen.22 Hinzu kam die sich in der Schweiz am Ende des 19. Jahrhunderts ausdifferenzierende Parteienstruktur, worin dieser Konservativismus, «trotz seiner numerischen Schwäche, ein erweitertes und fruchtbares Wirkungsfeld fand».23

Jost erklärt diese ab den 1890er-Jahren entstehende «neue Rechte» mit der Krise des Freisinns, dem es nicht gelang, die Widersprüche der wirtschaftlichen Entwicklung und die Dissonanzen einer von «Bundesbaronen» dominierten Politik zu bewältigen.24 Die konservativen Erneuerer sabotierten die liberale Gesetzesmaschinerie des Bundes, bereits in den 1880er-Jahren beginnend, bis in die späten 1890er-Jahre mit Schlagworten wie «Freiheit» oder «Föderalismus», die dem zentralstaatlichen «Vogt» gegenübergestellt wurden.25 Die Bezugspunkte der «reaktionären Avantgarde» waren die traditionelle Schweiz, die dem «dummen Materialismus» (de Reynold) gegenübergestellt wurde, dann die vaterländischen Mythen, der Heroismus der Vorfahren und ein religiöser und aristokratischer Autoritarismus.26 Es waren heile Gegenwelten, mit denen man die «Entzauberung der Welt» (Max Weber), die Verlusterfahrungen einer sich rasant rationalisierenden Gesellschaft kompensieren wollte.27

Gewiss waren bei Theophil Sprecher von Bernegg um 1894 nicht alle diese Bezugspunkte ausgeprägt. Einen aristokratischen Paternalismus, wie er sich später beim Freiburger Gonzague de Reynold im Zuge einer in der Zwischenkriegszeit verschärften Rechtsentwicklung ausgebildet hat, sucht man bei Sprecher von Bernegg vergebens.28 Dennoch findet man das Grundmuster der «beständigen Evokation der alten, sogenannt vorrevolutionären Werte», die im Verbund mit ahistorischen Mythen Prinzipien des Ancien Régime wiederbeleben wollten29 – auf Kosten einer liberal-universalistischen bürgerlichen Gesellschaft. Insofern konstruieren Begriffe wie «Volksgeist» oder «Weltwesen» Mythen, wie sie von Roland Barthes beschrieben worden sind: «Der Mythos entzieht dem Objekt, von dem er spricht, jede Geschichte.»30 Drei Jahrzehnte bevor Gonzague de Reynold in seinem Werk La démocratie et la Suisse eine «politische Romantik» vertrat, ist diese Haltung bereits bei Sprecher von Bernegg feststellbar.31

In dieser Denkart wurden die Bürgergemeinden zu den «besten Elementen unseres kleinen Staatswesens»32 gemacht. Es versteht sich von selbst, dass Sprecher, der die Rechte der Gemeindebürger durch den Kanton massiv bedrängt sah, den Antizentralismus auch im Grossen Rat vertrat: «Die Gemeinden bestanden vor dem Staat», und darum sei es «eine krankhafte, allerdings weit verbreitete Ansicht, alles Recht komme vom Staat», erklärte er.33 Das Fahnenwort der Gemeindeautonomie blieb in diesen Aussagen noch einigermassen diffus. Es plädierte sowohl für die altrepublikanische Selbstverwaltung der Gemeindebürger (die der Kanton zum überwiegenden Teil bereits 1874 zerschlagen hatte) als auch gegen den zentralisierenden Zugriff eines etatistisch-liberalen Kantons auf die Gemeindeautonomie der seit 1875 bestehenden Politischen Gemeinden.

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