Читать книгу Gemeindebürger, Niedergelassene und Ausländer - Simon Bundi - Страница 33
Chur, das Engadin, die Val Müstair und das obere Albulatal: altrepublikanische Tradition und ökonomische Eigeninteressen
ОглавлениеFür die Hauptstadt konnte gezeigt werden, wie bereits Anfang der 1840er-Jahre mit dem Bürgerverein eine bürgerliche politische Kultur fassbar wird, die ab den 1860er-Jahren bürgerliche Werte ins Feld geführt hat, um das alleinige Partizipationsrecht der Gemeindebürger gegen die Öffnung der korporativ organisierten Gemeinden hin zu einer liberal-universalistischen politischen Gemeinde zu verteidigen.
Daneben schien – wenn auch noch abstrakt und knapp formuliert – bereits die Geschichte als Legitimation am Horizont auf, um daraus die kommunalen Rechtsprivilegien der Gemeindebürger abzuleiten. Konstitutiv für die vormoderne Stadt Chur war die Zunftordnung von 1465 gewesen. Mit ihr bildete sich ein frühneuzeitlicher Kommunalismus aus. Die Stadt hatte sich als politisch-soziale Einheit immer mehr Kompetenzen und Aufgaben angeeignet. Damit einher war eine starke lokale Reglementierung und Hierarchisierung der städtischen Gesellschaft gegangen. Gerade in Chur war die amtliche Erfassung und Kontrolle der Hintersassen in der Frühneuzeit besonders stark ausgeprägt gewesen. Der Kommunalismus hatte ab dem 16. Jahrhundert nicht nur in der zünftischen Stadt Chur eine altrepublikanische Staats- und Demokratieform ausgebildet. Kommunalistische Tendenzen und die damit einhergehende Regulierung der Rechte und Pflichten der Hintersassen waren – gemessen an den normativen Quellen – vor allem eine Sache der reformierten Gebiete, wie insbesondere eine Durchsicht der rätoromanischen Rechtsquellen in Kapitel 2 gezeigt hat. Während ich auf die überwiegend katholisch-rätoromanischen Regionen Surselva und Surses weiter unten eingehe, kann hier Folgendes festgehalten werden: Das reformierte Engadin, die Val Müstair und das obere, reformiert-rätoromanische Albulatal weisen analog zur Stadt Chur eine Kontinuität zwischen dem in der Frühneuzeit kodifizierten Ausschluss der Hintersassen und der institutionalisierten Abgrenzung von Bürgergemeinden und Politischen Gemeinden nach 1875 auf. Aus dem Setting der 67 geprüften Gemeinden wird dies am früh etablierten Gemeindedualismus von Bergün/Bravuogn (Albulatal), Sent, Bever, S-chanf, Silvaplana, Sils im Engadin/Segl und St. Moritz sowie Fuldera, Lü, Valchava und Santa Maria (Val Müstair) deutlich. Die Kontinuität der altrepublikanischen Regulierung soziopolitischer und wirtschaftlicher Verhältnisse in den Gemeinden blieb im Übrigen nicht auf das Rechtsverhältnis zwischen Gemeindebürgern und Niedergelassenen beschränkt. Sie zeigt sich auch darin, dass vier der fünf Gemeindeverfassungen, die im ganzen Kanton 1868 gedruckt vorlagen, aus dem Engadin stammen.205
Sucht man nach Gründen für die Reglementierungen gegenüber den Hintersassen in den altrepublikanisch verfassten Nachbarschaften, so hat die Forschung bereits für die Frühe Neuzeit darauf hingewiesen, dass eine akute Gefährdung der wirtschaftlichen Existenzgrundlage gerade im Engadin wohl in den wenigsten Fällen ausschlaggebend war. Für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts habe ich gezeigt, dass die Wortführer des Bürgervereins Risch, Honegger, Simmen und Lendi in der Debatte in der Bündnerischen Volks-Zeitung 1868 finanzielle Eigeninteressen durchaus als handlungsleitende bürgerliche Tugend eingeräumt haben. Schliesslich hatte die Bürgerschaft im Juni 1875 auch auf einer Vermögensabgrenzung mit der Politischen Gemeinde beharrt. Doch selbst als die Wortführer des Bürgervereins ihren «Bürgersinn» als Entgegenkommen den Niedergelassenen gegenüber stark gemacht haben, war dieser mitnichten frei von finanziellem «Eigensinn». Im Zuge der Vorschläge für eine neue Stadtverfassung von 1868 hatte der Bürgerverein im Mai 1868 für einen erleichterten Einkauf ins städtische Bürgerrecht plädiert, ein Vorschlag, der 1870 von der Bürgerschaft angenommen worden war.206 Die Einkaufsgebühr betrug mit 600 Franken für einen männlichen Erwachsenen aber immer noch über die Hälfte des Jahreslohnes eines Zürcher Industriearbeiters.207 Der Grund dafür, dass die finanzielle Hürde kaum tiefer angesetzt wurde, dürfte darin gelegen haben, dass man das Armengut nicht mit potenziell armengenössigen Neubürgern teilen wollte. Gerade vor dem Hintergrund, dass ein Grossteil der Churer Gemeindebürger um 1870 tatsächlich der städtischen Mittel- und Oberschicht angehörte, mochte dies als schwacher Beweis für ein uneigennütziges, gemeinwohlorientiertes Handeln erscheinen.