Читать книгу Gemeindebürger, Niedergelassene und Ausländer - Simon Bundi - Страница 27
Die Furcht vor dem Gemeindedualismus
ОглавлениеTrotzdem räumte Andreas Rudolf von Plantas Bericht der Vorberatungskommission den Gemeindebürgern «ausnahmsweise noch ein besonderes Gutheissungs- oder Verweigerungsrecht bei Ver- äusserungen von Gemeindeeigenthümlichkeiten»133 ein. Schon die Abstriche beim Armengut und bei den Bürgerlösern hatten gezeigt, dass Andreas Rudolf von Plantas Kommission eine vollständig egalitäre bürgerliche Gesellschaft der mündigen männlichen Gemeindebürger und Niedergelassenen aufgrund realpolitischer Zwänge nicht vorsehen konnte.134
Dessen ungeachtet wies Andreas Rudolf von Planta unaufhörlich darauf hin, dass der in anderen Kantonen herrschende Gemeindedualismus mit einer Trennung von Verwaltung und Gemeindevermögen unter allen Umständen ausbleiben müsse. Um zu vermeiden, dass «eine Umwandlung dieses Gemeindevermögens in ein corporatives Besitzthum fast rein privatrechtlicher Natur» stattfinde, sah er nicht nur den Mitgenuss der Niedergelassenen am Gemeindevermögen vor, sondern die Übertragung des ganzen Gemeindevermögens auf die neuen Politischen Gemeinden. Andernfalls würden wie andernorts «diesen sogenannten politischen Gemeinden sozusagen alle materiellen, wie finanziellen Hülfsmittel entzogen».135 Die etatistisch orientierte Vorberatungskommission wollte so weit wie möglich vermeiden, dass korporative Strukturen erhalten blieben. Sie wollte keine Verhältnisse wie in Bern schaffen, wo 5000 bis 6000 Burger das Gemeindevermögen allein kontrollierten, «während etwa 30 000 Niedergelassene alle Ausgaben der heutigen Bundesstadt zum grössten Teil auf dem Steuerwege bezahlen müssen».136 Zum anderen hätte eine solche «Trennung von Leib und Seele in einem und demselben territorialen Gemeinwesen»137 den Versuch des Kantons, eine stärkere Stellung gegenüber den Gemeinden einzunehmen, ad absurdum geführt, weil damit die bereits sehr starke kommunale Zersplitterung in über 220 Gemeinden möglicherweise um den Faktor zwei potenziert worden wäre.
Der Bericht der Vorberatungskommission wies mehrfach darauf hin, dass bereits einige Kantone «auf diesen Abweg gerathen sind».138 Tatsächlich bestand dieser Dualismus beispielsweise in Bern schon seit 1833.139 Bis zur Güterausscheidung 1852 blieb die Stadt Bern auf einen jährlichen Zuschuss von der Burgergemeinde angewiesen, danach konnte sie aus den ihr zugewiesenen Vermögensbeständen kaum ihre Ausgaben bestreiten.140 Im Kanton Luzern herrschten bis in die 1870er-Jahre ähnliche Zustände: Die Politische Gemeinde der Stadt Luzern bestand seit 1831, allerdings gar innerhalb einer Dreiteilung von Einwohner-, Korporations- und Bürgergemeinde.141 Im Kanton Zürich, wo die Einwohnergemeinde seit 1866 bestand, stellte die Bürgergemeinde keine vollständig getrennte Korporation dar. Bei Bürgerrechtserteilungen, der Verwaltung des Armengutes und der in der Stadt Zürich sogenannten bürgerlichen Separat- und Nutzungsgüter traten die Niedergelassenen in den Ausstand.142 Die bis Anfang der 1870er-Jahre vollzogenen Güterausscheidungen waren umstritten,143 doch wird die Kritik liberaler und radikaler Politiker am Gemeindedualismus im Kanton Bern mit der «‹Doppelverwaltung›» auf Gemeindeebene heftiger gewesen sein. Es sei «‹wohl keine Frage des öffentlichen Rechts im Kanton Bern so gründlich verpfuscht worden wie die Frage der Organisation unserer Gemeinden und der damit zusammenhängenden Bestimmung der Gemeindegüter›»,144 klagte der freisinnige Berner Rudolf Brunner-Stettler 1884.
Bereits als Plantas Bericht der Vorberatungskommission im Sommer 1873 fast mühelos die Hürden der Standeskommission und des Grossen Rates passierte,145 war die Furcht, dass sich «dieser schädliche Dualismus»146 festsetzen würde, allgegenwärtig. Erfolgreich bemühte man sich, im Namen der Einheit der Gemeinde Anträge im Grossen Rat zu verhindern, die den Mitgenuss der Niedergelassenen am Gemeindevermögen nur auf Alpen, Weiden und Wälder (und nicht auf kirchliche oder schulische Anstalten) ausdehnen wollten.147 Der Abschied des Grossen Rates an die stimmberechtigen Bündner lehnte sich immer noch eng an den Bericht der Vorberatungskommission an. Niedergelassene sollten weitgehend gleiche Nutzungs- und Stimmrechte in der Gemeinde erhalten, in politischen Angelegenheiten nach drei Monaten, in rein ökonomischen Fragen nach zwei Jahren. Für die Nutzung von Alpen, Weiden und Wäldern konnten die Gemeinden von den Niedergelassenen Nutzungstaxen verlangen. Solche und andere Erträge des Gemeindevermögens sollten gemäss Artikel 14 «zur Deckung der Gemeindebedürfnisse» verwendet werden.148 In Artikel 16 umschrieb das Niederlassungsgesetz die ausschliesslich den Gemeindebürgern vorbehaltenen Rechte auf Gemeindeebene:
a) die Aufnahme ins Bürgerrecht
b) das Armengut und die ausgeteilten Gemeingüter (Löser)
c) die Veräusserung von Gemeindeeigentum
d) die Festsetzung der Taxen für den Mitgenuss an den Gemeindeutilitäten.149
Weil den Gemeindebürgern solche Rechtsprivilegien erhalten blieben, widersprach das Niederlassungsgesetz dem Grundsatz einer liberal-universalistischen bürgerlichen Gesellschaft aller mündigen männlichen Schweizer. Von der Kompetenz der Gemeindebürger zur Erteilung des Bürgerrechts abgesehen, waren diese Ausnahmen allesamt bereits in von Plantas Bericht der Vorberatungskommission vorgesehen gewesen. Die Gefahr, dass dieser Entwurf als Plan für eine zweigliedrige Organisation der Gemeinden interpretiert wurde, war damit nicht gebannt, im Gegenteil: Das Schreiben des Rates an die Kreise und Gemeinden betonte noch einmal, dass eine «Ausscheidung der Gemeindeangelegenheiten in solche mehr politischer Natur und in solche ökonomischer Natur»150 ausdrücklich vermieden werden wolle.
«[A]dopto ün system pü equitabel e liberel, co la granda part dels chantuns»151
Die Presse wusste wenig bis nichts von solchen Gefahren und lobte den Gesetzesentwurf in hohen Tönen. Die konservativ-katholische Gasetta Romonscha stellte mit Genugtuung fest, der Grosse Rat habe einen möglichen Dualismus vereitelt.152 Der liberale freie Rhätier anerkannte, das Gesetz verfolge ähnlich wie im Kanton Zürich den «heilsamen Zweck, die Einheit der Gemeinde zu erhalten» und sei ein «Schritt wohltätiger und gerechter Gesetzgebung».153 Die Domleschger Zeitung Der Volksmann forderte mit Blick auf die aktuelle Organisation der Gemeinden ein Staatsverständnis, das sich am modernen, republikanisch-aufgeklärten Prinzip einer liberal-universalistischen bürgerlichen Gesellschaft orientierte: «Solche Zustände, wie sie in wohlgeordneten monarchischen Staaten längst nirgends mehr vorkommen, sind in einem demokratisch-republikanischen Gemeinwesen unnatürlich und hemmen in höchst nachtheiliger Weise die Entwicklung der Gemeinden.»154
Das positive Presseecho und die Behandlung in der Standeskommission und im Grossen Rat liessen wenig Zweifel darüber, dass die Politische Gemeinde eingeführt werden würde. Am 1. Februar 1874 wurde das neue kantonale Niederlassungsgesetz deutlich mit 6553 bejahenden gegenüber 3037 verneinenden Stimmen angenommen.155 Die Bündner Stimmberechtigten waren einem aus damaliger Sicht ausgesprochen liberalen Modell einer bürgerlichen Gesellschaft gefolgt. Mit der politischen Gemeinde war die im vormodernen Kommunalismus geborene, sich selbst regierende Korporation der Gemeindebürger weitestgehend gebrochen – und mit ihr ein gutes Stück Gemeindeautonomie: Es war nun der Kanton, der den Gemeinden einheitlich vorschrieb, dass sich alle Schweizer nahezu gleichberechtigt an allen kommunalen Einrichtungen, seien sie wirtschaftlicher oder politischer Natur, beteiligen konnten.
Verworfen wurde das Gesetz von den Südtälern Misox (66 Prozent Gemeindebürgerquote) und Calanca (78 Prozent Gemeindebürgerquote),156 vom Kreis Puschlav (90 Prozent Gemeindebürgerquote)157 und der Val Müstair (81 Prozent Gemeindebürgerquote).158 Auffällig ist die Konzentration verwerfender Kreise in Nordbünden: Im Prättigau nahmen nur Seewis und Klosters das Niederlassungsgesetz an, die Kreise Maienfeld und Fünf Dörfer verwarfen ebenfalls (Gemeindebürgerquote 74,5 Prozent),159 ferner der Kreis Rhäzüns (Gemeindebürgerquote 79 Prozent).160 Die meist recht hohen Gemeindebürgerquoten zeigen, dass eine ablehnende Haltung zur rechtlichen Integration der Niedergelassenen nicht allein von den tatsächlich anwesenden Niedergelassenen abhing. Entscheidend waren vielmehr die herrschenden Vorstellungen in den jeweiligen Gemeinden. In gewissen Gemeinden dürften dabei prinzipielle Vorbehalte gegen die Eingriffe des Kantons in die Gemeindeautonomie ausschlaggebend gewesen sein. Direkte Quellenbelege für eine solche These fehlen aber im Zusammenhang mit dieser Abstimmung. Als Erklärung, warum ortsbürgerstarke Kreise die Vorlage ablehnten, ist nicht von der Hand zu weisen, dass Graubünden im kollektiven Bewusstsein als «Lande der Gemeindesouveränität par excellence»161 galt, wie sich das Bündner Tagblatt ausdrückte.
Erst ein gutes Jahr später findet sich diese Vorstellung in einem kritischen Gedicht eines Churer Gemeindebürgers im Bündner Tagblatt, einem Organ, das seit einem Besitzerwechsel 1870 eine konservative Politik mitgestaltete.162 Das Klagelied eines alten Bürgers erschien am 5. März 1875. In gereimten Versen war zu lesen, der Gemeindebürger werde jetzt «Aecht eidgenössisch g’schunden». Und weiter dichtete der anonyme Autor: «Der Ruf nach ‹Neuem› nur erschallt/Der Fortschritt weiter dränget:/Bald ist kein Tannast mehr im Wald/An dem kein Schuldschein hänget-/Dem Bürger graut’s dermalen, /Wer soll das Alles zahlen?!»163 Neben der bekannten Klage über den Verlust des Althergebrachten findet sich zum ersten Mal die Kritik, das Niederlassungsgesetz sei ein (gar in Bundesbern ausgehecktes) zentralistisches Projekt, das die Gemeindeautonomie beschneide. Hinzu kam der Kostenpunkt. Man kann dies in zweierlei Hinsicht verstehen: erstens als Furcht vor steigenden Kosten aufgrund neuer Vorschriften. Die kommunale Orientierung band sich im modernen Kanton Graubünden von Anfang an nicht nur an altrepublikanische Partizipationsberechtigungen, sondern auch an die «Furcht vor den Kosten der Modernisierung».164 Zweitens lassen sich die Verse als Anspielung darauf verstehen, dass die Verwaltung neu von der Gesamtgemeinde übernommen wurde. In diesem Fall griff der Autor das bereits in der Grossratsdebatte um das Niederlassungsgesetz von 1853 geäusserte Argument auf, wonach den Niedergelassenen die Fähigkeit für einen sorgsamen Umgang mit dem Nutzungsvermögen abging. Man wird ähnliche Vorstellungen im 20. Jahrhundert noch des Öfteren antreffen, um das Eigentum an Alpen, Weiden und Wäldern und das entsprechende Veräusserungsrecht der Bürgergemeinden zu begründen.
Während sie den Angriff auf das Selbstbestimmungsrecht der Gemeinden unerwähnt liess, feierte die liberale Presse das Resultat als Bruch mit der altrepublikanischen Bürgergesellschaft. Gerade die ortsbürgerschwachen Kreise Chur (827 gegen 3 Stimmen) und Oberengadin (401 gegen 14 Stimmen) hatten das Niederlassungsgesetz überdeutlich angenommen.165 Die Abstimmungsergebnisse konnten nicht allein durch die sehr hohen Anteile Niedergelassener zustande gekommen sein. Dies wäre rechnerisch unmöglich gewesen, geht man von gleicher Stimmbeteiligung bei Gemeindebürgern und Niedergelassenen aus. Im Gegensatz zu dem, «was behauptet wird», hätten Niedergelassene und Gemeindebürger in Chur und im Oberengadin bewiesen, dass sie fortschrittlicher seien als ein guter Teil ihrer Grossräte, kommentierte das Fögl d’Engiadina.166 In diesem Sinn rühmte dieselbe Zeitung nach der Abstimmung, man könne sich nun mit diesem gerechteren und liberaleren Gesetz, als es die meisten Kantone besässen, vor der ganzen Schweiz zeigen.167
Was das Stimmrecht auf Gemeindeebene angeht, wurde das Bündner Niederlassungsgesetz schon am 19. April 1874 von der neuen Bundesverfassung eingeholt, die den Niedergelassenen das aktive und passive Stimmrecht auf Gemeindeebene garantierte.168 Insofern erübrigt sich ein Vergleich mit anderen Kantonen. Anders als die Städte Basel oder Zürich bot die Stadt Bern aber faktisch weniger Partizipationschancen, da das kommunale Stimmrecht bis Mitte der 1880er-Jahre an ein bestimmtes Vermögen und Einkommen gekoppelt war und noch 1910 17 Prozent der in Bundes- und Kantonsangelegenheiten stimmberechtigten Männer in der Stadtgemeinde Bern keine politischen Rechte hatten, weil sie keine Steuern zahlten. Erst 1915 entschied das Bundesgericht, dass ein solcher Steuerzensus aufzuheben sei. Die städtische Gesellschaft der Hauptstadt widersetzte sich im Gegensatz zum Bundesstaat, den die Stadt beherbergte, lange dem Grundsatz einer aus allen mündigen Männern bestehenden bürgerlichen Gesellschaft.169 Ein Blick in das deutsche Kaiserreich zeigt, dass vielerorts bis 1918 zwar nicht der Zugang zum Gemeindevermögen, aber das Kommunalwahlrecht vom Stadtbürgerrecht abhing. Der Erwerb des Stadtbürgerrechts war seinerseits durch das Kriterium der Selbstständigkeit, steuerliche Mindestleistungen oder Einkaufstaxen eingeschränkt. Dieses «Demokratiegefälle von der nationalen zur kommunalen Ebene» (Dieter Langewiesche) war hingegen in britischen Städten weniger ausgeprägt.170
Graubünden war darüber hinaus weiter vom Ideal einer liberalen bürgerlichen Gesellschaft entfernt als die Kantone Waadt, Neuenburg oder Genf, wo sich im 19. Jahrhundert gar keine rechtliche Abstufung zwischen Gemeindebürgern und Niedergelassenen durchsetzen konnte. Und während in Deutschland in der Weimarer Republik mit allgemeinem und gleichem Wahlrecht für Männer und Frauen eine «vollständige Demokratisierung des Bürgerrechts» einsetzte,171 blieben der aufgeklärt-liberalen Schweiz lange Zeit altrepublikanische Prinzipien inhärent – man denke auf Bundesebene nur an den Ausschluss der Nichtchristen bis 1866 oder der Frauen bis 1971.172