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Die katholische Surselva und das katholische Mittelbünden: Werte «von der Kanzel herunter»

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Daneben gab es Regionen wie die katholisch-rätoromanischsprachige Surselva (vor allem die Kreise Disentis, Rueun und Lumnezia, teilweise der Kreis Ilanz), ferner das katholisch-rätoromanischsprachige Mittelbünden (Kreis Surses und Teile der Kreise Alvaschein und Belfort), in denen bis zum Ersten Weltkrieg keine Bürgergemeinden gegründet wurden. Einerseits könnte das darauf zurückzuführen sein, dass Regionen, die wie der Kreis Disentis im Jahre 1880 noch 92 Prozent Gemeindebürger aufwiesen,212 in keinster Weise einen Problemdruck zwischen Gemeindebürgern und Niedergelassenen gespürt haben. Andererseits waren diese Regionen noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts sehr stark agrarisch geprägt213 – das Bedürfnis, das Eigentum am Nutzungsvermögen von den Niedergelassenen zu trennen, wäre analog zur Val Calanca oder zum Misox auch im katholischen Nordwest- und Mittelbünden denkbar gewesen.

Im Gegensatz zu den katholisch-italienischen Tälern Misox und Calanca ist die politische Kultur des katholisch-rätoromanischen Teils Graubündens gut erforscht. Es scheint deshalb lohnenswert, für diese Regionen einige Unterschiede zur bürgerlichen politischen Kultur aufzuzeigen, wie sie in Umrissen für die Stadt Chur bereits beschrieben wurde. Damit kann zum einen ein erster Erklärungsansatz als Antwort auf die Frage geliefert werden, warum sich in den katholisch-rätoromanischen Gemeinden der Surselva und Mittelbündens zumindest bis zur Jahrhundertwende kein Gemeindedualismus herausgebildet hat. Zum anderen geht es im Folgenden aber auch darum, die der Annahme des Niederlassungsgesetzes zugrundeliegende Deutungskultur aufzuzeigen.

Anders als in den reformierten Regionen Graubündens war die Verzahnung von Staat und Kirche vor allem in den ehemaligen Gerichtsgemeinden der oberen und mittleren Surselva, namentlich in den heutigen Kreisen Disentis und Rueun, nie ganz gelöst worden (siehe Kapitel 2.1). Auffällig ist auch, dass sich in der Frühen Neuzeit in der katholischen Surselva ein nachbarschaftlicher Kommunalismus, der sich etwa durch die vermehrte Übernahme gerichtlicher Kompetenzen auf lokaler Ebene auszeichnete, nicht herausgebildet hat. Damit einher geht der Befund, dass normative Quellen zu den Rechten und Pflichten der Hintersassen in dieser rätoromanischsprachig-katholischen Region gänzlich fehlen. Der eigenständige, selbstorganisierte Lokalismus war also bereits in vormoderner Zeit weniger ausgeprägt.

Meines Erachtens liegt in den Formen politischen Engagements ein erster zentraler Unterschied zwischen einer bürgerlichen und einer katholischen politischen Kultur surselvischer Prägung: Während in Chur lokale oder überregionale, parastaatliche Organisationen wie die Bürgervereine von 1842 und 1868 oder die Reformvereine von 1842 und 1868 versucht haben, auf die staatsrechtliche Struktur von Kanton und Stadt einzuwirken, fehlten in der Surselva im ganzen 19. Jahrhundert politische Organisationen, die der Initiative einer Gruppe politisch aktiver Männer entsprungen waren und sich mit Fragen der politischen Partizipation oder Organisation beschäftigten.214 Diese Besonderheiten in den politischen Strukturen und Prozessen fielen im 19. Jahrhundert den reformierten Zeitgenossen auf. Die liberale Presse warf der katholischen Surselva beispielsweise 1866 vor, «‹dass das Volk dort von der Kanzel herunter fanatisiert worden sei›».215

Die politische Entwicklung wurde vor allem von einigen wenigen «Chefideologen» organisiert, allen voran vom Disentiser Verleger Placi Condrau sowie den Historikern Caspar Decurtins und Giacun Hasper Muoth. Der von diesen Akteuren ungefähr ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts konstruierte Antimodernismus war nicht nur stark mit katholischer Weltanschauung unterfüttert, sondern auch auf die Identifikation mit dem katholisch-rätoromanischen Graubünden ausgerichtet.216 Zu diesem katholischen Milieu gehörte mit gewissen Einschränkungen auch das katholisch-rätoromanische Mittelbünden. Im Einzugsgebiet des Surmiran nahmen die im Verlagshaus Condrau gedruckten Periodika Gasetta Romontscha und Calender Romontsch bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts die gleiche Monopolstellung wie in der Surselva ein,217 wobei der Einfluss der Surselva in politischen und konfessionellen Fragen als sehr hoch bewertet wurde.218 Dass in dieser von einer «Einbindung der breiten Bevölkerung in die Kirche» geprägten und von einer Elite angeführten Sondergesellschaft219 keines oder nur ein geringes politisches Engagement lokaler Akteure für die Anliegen einer lokalen «Bürgergesellschaft» in Form von freiwillig konstituierten Bürgergemeinden entstand, scheint fürs Erste plausibel. Ausserdem waren diese Akteure – allen voran Nationalrat Decurtins – Teil der in der Schweiz ab dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts entstehenden «neuen Rechten», einer «reaktionären Avantgarde», die immer mehr in Frontstellung zum liberalen Bundesstaat und seinen modern-demokratischen Prinzipien geriet. Davon aber später mehr.

Was nun die Argumentation für die Annahme des Niederlassungsgesetzes angeht, waren es in erster Linie religiöse Werte, mit denen die katholisch-konservative Gasetta Romonscha im Januar 1874 die Notwendigkeit eines solchen Niederlassungsgesetzes begründete. In ihrem Leitartikel vor der Abstimmung beschrieb Placi Condraus in Disentis verlegte Zeitung, wie die Gemeindebürger einer Gemeinde einem Niedergelassenen verboten hatten, Wasser zu benutzen, sodass dieser sein Wasser ausserhalb der Gemeinde holen musste. Daraufhin fuhr der Redakteur fort: «Nus domondein eis ei human e cristianeivel de far pagar ils domiciliai a parti per guder la baselgia e scola, de gnanc encunter dueivla indemnisaziun schar guder els il necessari vid ils beins comunals?»220

Im Anschluss an diese rhetorische Frage machte die Gasetta Romonscha ihr Argumentarium für ihre christlich legitimierte Politik deutlich.221 Meines Erachtens markiert das den zweiten zentralen Unterschied zwischen einer bürgerlichen und einer katholischen politischen Kultur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts:

La doctrina cristiana di: tegn car il proxim sco tetez e quei che ti has bugen, ch’in fetschi a ti, fai era als auters. Mo da quella divina doctrina vulan bia burgeis leider [sic!] saver nuot. Co vul in domicilau exister andantamein en nossas relaziuns senza saver guder lena, alps e pistiras? […] Quellas novas con cessiuns ein fetg dueivlas; ils domiciliai, che vivan sper nus e portan tuttas gravezias deien era stgar dir lur meini sin vischneunca.222

Angesichts der ökonomischen Zwänge wurde christliche Nächstenliebe als einzig mögliche Handlungsmaxime postuliert. Indem man ein Gesetz annahm, «che ha per siu basis la curezia cristiana»,223 konnte man gleich ein weiteres beweisen. Als sich die Annahme des Niederlassungsgesetzes abzeichnete, frohlockte die Gasetta Romonscha: «Tenor tuttas tunas pon ins haver speronza, che nos domiciliai vegnien ussa en ina pli favoreivla situaziun e zvar entras la generusadat dil suveran grischun e bucca entras la revisiun centralistica.»224

Das für diese Region typische «Widerstandsverhalten unter vormodernen Vorzeichen»225 verteidigte nicht nur die in Bedrängnis geratene christlich-katholische Weltanschauung, sondern auch die kantonale Selbstbestimmung der Bündner. Für die Kommentatoren war Graubünden dadurch gar liberaler und aufgeklärter als manch anderer Kanton. Die neuen Partizipationsrechte der Niedergelassenen sollten in Anschlag gebracht werden, «[per] mussar als Confederai, che la patria dil referendum segi pli liberala e sclarida che bia cantuns, che sefan schi gronds cun lur sclariment».226

Christliche Weltanschauung und politische Haltung gingen dabei in eins und konstituierten eine äusserst homogene katholische politische Kultur. Dieser Nexus prägte zudem ein Geschichtsbild mit dem Kloster Disentis als politischem Handlungsträger. Die Gasetta Romonscha setzte dies als weiteres Argument ein: «la veglia Cadi, che ha sut la bitgetta de sia venerebla abbazzia da veglenneu promoviu il secollocar libramein, vegn restar fideivla a siu principi e votar unitamein per quella lescha.»227

Wie unterschiedlich man dagegen im reformierten bürgerlichen Milieu Churs dachte, zeigt die Botschaft des Churer Stadtrates vom 30. April 1875 mit dem ersten Vorschlag für ein Vermögensinventar. Am Ende ihrer Darlegung appellierten die Behörden an den «Bürgersinn» der Churer, zugunsten der Niedergelassenen auf vormoderne Rechtsprivilegien zu verzichten:

Wohl ziemt es dem Bürger, auch da wo er angestammten Hoheitsrechten entsagt, dies ohne alle Bitterkeit und mit voller Hingabe zu thun und durch die That zu beweisen, dass es ihm heilige Pflicht erscheint, dass alle ohne Unterschied den dauernden Fortschritt und das Gedeihen der Stadt nach besten Kräften fördern helfen.228

Auffallend ist die Rede von der «heiligen Pflicht». Drei Jahre nachdem der Ludwigsburger David Friedrich Strauss seinen Bestseller Der alte und der neue Glaube veröffentlicht hatte, fand man im politischen Diskurs Graubündens ein explizites Bekenntnis zu einem Religionssubstitut. Die Überhöhung des «Bürgersinns» als «heilige Pflicht» sollte das neue gesellschaftliche Moralsystem legitimieren. Damit entstanden im bürgerlichen Milieu Churs sakralisierte «letzte Werte» wie das Ideal einer liberal-universalistischen bürgerlichen Gesellschaft, in der die kommunalen Rechte mit allen niedergelassenen männlichen Schweizern geteilt werden sollten.229 Die religiöse Rechtfertigung bürgerlicher Werte begann nicht erst mit Strauss’ Der alte und der neue Glaube und war auch in Chur durchaus nichts Neues. Der Bürgerverein hatte schon 1868 in der Debatte der Bündnerischen Volks-Zeitung «die Bande der Pietät» betont, mit denen die Gemeindebürger die Gemeinde führten. Das Ende der ständischen Welt des Ancien Régime mit ihren religiös legitimierten Werteordnungen und Verhaltensanforderungen hatte für die bürgerliche Gesellschaft Churs die Möglichkeit geschaffen, neue Lebensordnungen zu produzieren. Da diese miteinander in Konkurrenz standen, suchte man die neu entstandene Heterogenität metaphorisch zu bändigen. Im Gegensatz dazu war der politische Diskurs in der katholischen Surselva durch ganz wörtlich gemeinte christliche Werthaltungen wie der Nächstenliebe überformt.

In den ersten 15 Jahren seines Bestehens rief das Niederlassungsgesetz in zahlreichen Gemeinden Unmut und Unklarheiten hervor. Einerseits zeigt eine von 31 Gemeinden eingereichte Petition, wie die Gemeindebürger aus ökonomischen Interessen das Niederlassungsgesetz bekämpft haben. Andererseits sind die ersten Rekurse, die aus Thusis, dem Puschlav, aus Samedan und St. Moritz eingereicht wurden, ein erster konkreter Effekt der dualistischen Abgrenzung innerhalb dieser Gemeinden: Sie machte es möglich, dass zwei politische Körperschaften derselben Gemeinde vor den kantonalen Behörden juristisch gegeneinander vorgingen. Obwohl diese kommunale Zersplitterung den Vorstellungen der Bündner Behörden zuwiderlief, tolerierte man die herrschenden Zustände. Bestenfalls versuchte man zaghaft, die Bestimmungen des Niederlassungsgesetzes zu präzisieren. Als Abschluss dieser 1890 endenden ersten Phase der Geschichte des Streits um Eigensrechte und Kompetenzen kehre ich mit dem Churer Schulfondsstreit der 1880er-Jahre noch einmal zu einem Aspekt bürgerlicher Werte zurück. Im Aushandlungsprozess mit der Stadt argumentierte die Bürgergemeinde vergeblich mit dem Wert bürgerlichen Mäzenatentums, um über den Schulfonds als korporatives Eigentum weiterhin selbst verfügen zu können.

Gemeindebürger, Niedergelassene und Ausländer

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