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3.2 Churer Spiessbürger in Bedrängnis

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Die Stadt Chur gehört zweifellos zu den ersten Orten im modernen Kanton Graubünden, an denen das Rechtsverhältnis zwischen Nachbarn und Hintersassen zu Konflikten führte. Chur zählte schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts fast zwei Drittel Niedergelassene unter der Bevölkerung.37 Als Konsumenten, Wächter, Tagelöhner und schliesslich – bis zur Gewerbefreiheit von 1804 jedoch nur mit Bewilligung – als Handwerker waren sie seit Langem für die Stadt eminent wichtig. Bereits 70 Jahre vor dem Versuch des Kantons, das altrepublikanisch organisierte Rechtsverhältnis in den Gemeinden zu brechen, lassen sich 1804 erste Umrisse eines Aufbegehrens in der Beschwerde von Toggenburger und Saaser Schreinern und von einigen niedergelassenen Metzgern fassen. Der Stadtrat hatte Werkzeuge konfiszieren lassen, während den Metzgern von einigen Churer Gemeindebürgern der Laden aufgebrochen wurde. Die Geschädigten forderten beim kantonalen Grossen Rat die Respektierung der neuen Gewerbefreiheit seitens der Gemeindebürger und erhielten Recht.38 Als 1839 mit der Churer Zunftverfassung die letzte ihrer Art in der Schweiz abgeschafft worden war, blieben nur die Gemeindebürger in kommunalen wie kantonalen Angelegenheiten stimmberechtigt.39 Auch wenn diese Reform den Ausschluss der Niedergelassenen aus allen politischen Angelegenheiten Churs gar nicht infrage gestellt hatte, war die korporative Struktur der Stadt nach Abschaffung der Zunftverfassung in ihren Grundfesten erschüttert.

Im Folgenden möchte ich zeigen, dass eine intensive öffentliche Auseinandersetzung um das rechtliche Verhältnis zwischen Gemeindebürgern und Niedergelassenen in Gemeindeangelegenheiten erst in den 1860er-Jahren einsetzte. Die neue Entwicklung korrelierte mit der Demokratischen Bewegung, wie sie in zahlreichen Schweizer Kantonen zu dieser Zeit verstärkt fassbar wird. Erstmals tauchte der Begriff der Demokratischen Bewegung 1854 im Kanton Zürich auf, in den 1860er-Jahren erfasste diese Strömung unter anderem die Kantone Genf, Waadt, Basel-Land, Bern, Luzern, Aargau, Schaffhausen oder Thurgau. Der Forderungskatalog der Demokratischen Bewegung war gross und enthielt neben ökonomischen und sozialen Postulaten im engeren Sinn politische Forderungen wie direktdemokratische Verfassungsrevisionen und die Erweiterung des Stimm- und Wahlrechts.40 Nach und nach konnte die Demokratische Bewegung in den 1860er- und 1870er-Jahren «mit dem Ausbau der Volksrechte und schliesslich mit der Verfassungsrevision von 1874 das politische System in verschiedenen Kantonen und im Bund»41 noch weiter öffnen.

Graubünden gilt in der Schweizer Geschichtsforschung gemeinhin nicht als Kanton, der von der Demokratischen Bewegung erfasst wurde.42 Dass dem doch so ist, zeigt nicht nur die Tatsache, dass vor allem die katholische Surselva ab Mitte der 1860er-Jahre versucht hat, sich direktdemokratische Partizipationsmittel für ihre antimoderne Politik zunutze zu machen, wie Ivo Berther gezeigt hat.43 Daneben gab es eine Reihe mehr oder minder liberaler Versuche, die rechtliche Stellung der Niedergelassenen zu verbessern. Die Impulse dazu kamen aus Chur und betrafen meist die Kantonshauptstadt, wobei der Problemdruck wiederum kaum mit der Entwicklung des Anteils Niedergelassener in Verbindung gebracht werden kann. Deren Quote war im Vergleich mit 1806 nur unwesentlich von 65 auf 73 Prozent gestiegen.44

1860 reichte der in Chur niedergelassene Anwalt Julius [Geli] Caduff aus Schluein (Surselva) mit 44 namentlich benannten «Angehörigen» und 31 weiteren Unterzeichnern eine Petition an den Bundesrat ein. Darin wurde das Begehren gestellt, das eidgenössische Heimatlosengesetz von 1850 so abzuändern, dass die Angehörigen einer Gemeinde in der Nutzung des Gemeindevermögens den Gemeindebürgern gleichgestellt seien, sowohl in Bezug auf das Nutzungsvermögen als auch auf die Bürgerlöser.45 Angehörige waren aufgrund des Heimatlosengesetzes aufgenommene Heimatlose,46 die gegenüber Niedergelassenen einige Rechtsprivilegien, aber ebenso wenig kommunale Stimmrechte noch Anspruch auf das Gemeindevermögen hatten.47 Die Träger dieser Petition entsprachen dem Muster der Demokratischen Bewegung in anderen Kantonen: Während die programmatische und organisatorische Führung bei den Bildungsbürgern lag, bestand die Bewegung aus Kleinbürgern, Bauern und Arbeitern. Im Churer Fall finden sich die Berufsbezeichnungen Schuster, Holzhacker, Zimmermann, Buchdrucker oder Hafner.48

Vier Jahre nachdem dieser Petition nicht entspro – chen worden war, liess Julius Caduff in der Churer Schnellpresse von Senti & Hummel das 68-seitige Büchlein Die Einwohner-Gemeinde drucken, in dem er für die politische Notwendigkeit der Bildung von Politischen Gemeinden argumentierte.49 Im folgenden Jahr reichten 18 Niedergelassene der Stadt Chur ein erfolgloses Bittgesuch an die Schweizerische Bundesversammlung, in dem sie forderten, dass das Stimmrecht in Gemeindeangelegenheiten zum Bundesgesetz gemacht werde.50 Nur ein weiteres Jahr später sah sich der Stadtrat selbst zum Handeln veranlasst. Erneut tauchte Peter Conradin von Planta als Akteur im Umfeld dieser Fragen auf. Inzwischen war von Planta Churer Stadtrat, und ihm fiel die Aufgabe zu, eine neue Stadtverfassung zu entwerfen.51 Gemäss seinem Vorschlag sollten die Niedergelassenen eine Minderheit im Kleinen und Grossen Stadtrat stellen dürfen, sodass diese wachsende Gruppe in der verschuldeten Stadt mit verhältnismässig hohen Steuern52 ein gewisses Mitspracherecht erhalten hätte.53 Die Vorlage scheiterte genau wie eine weitere im Jahre 1867, und das Projekt einer Einwohnergemeinde im Februar 1868.54

Da es nicht gelang, einer neuen Norm via Verfassung zur Stabilität zu verhelfen, versuchte die Stadtverwaltung nun, mittels Einbezug von Vorschlägen der Gemeindebürger, einen Konsens zu erreichen. Auf den Aufruf des Stadtrats vom 2. Mai 1868 im städtischen Amtsblatt reichten der Anfang 1868 neu gegründete Bürgerverein, der Kleine Bürgerverein, der Reformverein,55 der Arzt Thomas Gamser und Stadtpfarrer Christian Kind ihre Vorschläge ein. Während dem späteren Churer Bürgermeister Gamser, dem Reformverein und dem Kleinen Bürgerverein eine Politische Gemeinde mit überwiegender Vertretung durch die Gemeindebürger und Ausscheidung des Nutzungsvermögens vorschwebte, sprach sich der Bürgerverein gegen eine Politische Gemeinde und lediglich für die Herabsetzung der Einbürgerungstaxen aus.56 Auf Grund der Vorschläge unterbreitete der Stadtrat knapp zwei Jahre später eine Vorlage für den erleichterten Bürgereinkauf zur Abstimmung. Der Erfolg dieses angenommenen Gesetzes war bescheiden, der längerfristige Zuwachs der Bürgerquote betrug nur 3,5 Prozent.57 Gleichzeitig nahm sich der in Chur erscheinende Bündner Kalender der Frage an und forderte, den Niedergelassenen sei gleich den Gemeindebürgern gegen Entgelt die Nutzung des Gemeindevermögens zu ermöglichen.58

Einige der eben summarisch beschriebenen Versuche, die rechtliche Stellung der Niedergelassenen in den Gemeinden zu verbessern, fallen nun besonders ins Auge. Wesentlich scheinen mir vor allem Julius Caduffs gedruckte Abhandlung von 1864, das Bittgesuch an die Schweizer Bundesversammlung von 1865, einige Zeitungsartikel von 1866 und 1868 und die gedruckte Broschüre mit den Vorschlägen der beiden Bürgervereine, des Reformvereins und von Stadtpfarrer Kind und dem Arzt Thomas Gamser.59 Mehr noch als in der Grossratsdebatte um das Niederlassungsgesetz von 1853 wird in diesem Spannungsfeld deutlich, dass die Frage der Exklusion oder Inklusion der Nichtpartizipationsberechtigten zur Frage um bürgerliche Werte schlechthin wurde. Gewisse bürgerliche Werte wurden zugunsten der Niedergelassenen oder der Gemeindebürger in Stellung gebracht, um die Stadt Chur hin zu einer liberal-universalistischen, bürgerlichen Gesellschaft zu öffnen oder den Status quo einer altrepublikanisch geprägten bürgerlichen Gesellschaft zu rechtfertigen – die man treffender vielleicht als Bürgergesellschaft bezeichnen müsste.60 Die Konstruktion dessen, was zum «bürgerlichen Wertehimmel» gehörte, war damit ein wesentliches Produkt des Diskurses, mit dem für oder gegen die Gleichstellung der Niedergelassenen gerungen wurde. Bürgerliche Werte konnten den Gemeindebürgern dabei durchaus streitig gemacht werden.

Im Folgenden möchte ich das an einem Zeitungsstreit vertiefen, ohne den Seitenblick auf die anderen Quellen zu verlieren. Der Konflikt entbrannte zwischen Peter Jakob Bauer und dem neu gegründeten Bürgerverein, nachdem das erwähnte Projekt einer Einwohnergemeinde im Februar 1868 von den Churer Gemeindebürgern verworfen worden war. Der Churer Ratssuppleant Peter Jakob Bauer61 sandte im März in sechs Folgen Betrachtungen und Ansichten über die Churer Gemeindwirren an die Bündnerische Volks-Zeitung ein. Er kritisierte, «einzelne Schichten bürgerlicher Bevölkerung» würden sich «in städtischer Politik sehr mangelhaft oder gar nicht orientiren». Im Vorfeld der Abstimmung vom Februar 1868 habe im Bürgerverein eine «gründliche Agitation» seitens der Gegner einer künftigen politischen Gemeinde stattgefunden, sodass «von Bildung einer selbständigen objektiven Ansicht nicht die Rede sein» könne.62 Eine liberal-universalistische bürgerliche Gesellschaft scheiterte in Chur gemäss Bauer einerseits am Bürgerverein, der als politisches Forum nicht demokratisch, sondern immer noch vormodern-oligarchisch funktionierte. Gravierend war für Bauer andererseits die Tatsache, dass die Churer Bürgerschaft aus zu vielen pedantischen Spiessbürgern bestand, die sich nur dann für städtische Politik interessierten, wenn es sich «um Loosholz, Gemeingüter oder Alpen»63 handelte.

Gemäss Peter Jakob Bauer blockierten diese Defizite die Überwindung altrepublikanischer Partizipationsstrukturen. Ein weiterer Missstand war für ihn, dass verfassungsmässig korrekt in Chur oft nur 100 bis 120 Gemeindebürger für das absolute Mehr bei Abstimmungen und noch weniger bei Wahlen genügten, um «über 7000 Seelen regieren» zu können. Dies stelle «widersinnige, nicht sonderlich republikanische Zustände» dar.64 Er forderte ein aufgeklärt-republikanisches Denken, wie es Napoleon im Nachgang der Französischen Revolution in die Helvetische Republik exportiert hatte: Dieses ruhte nicht auf abgeschlossenen kommunalen Korporationen, sondern auf einer viel universalistischeren bürgerlichen Gesellschaft. Gemäss Bauer wäre ein liberales Republikanismuskonzept ein Entwurf «im Sinne des Friedens und der billigen Berücksichtigung gerechter Wünsche der Niedergelassenen»65 gewesen.

Bauers publizistischer Angriff rief einen (wie es kurze Zeit später in der gleichen Zeitung hiess) «berühmt gewordenen Artikel» des Bürgervereins hervor, hinter dem sich M.[atheus] Risch, [Ratsherr Heinrich] Honegger, [Ratsherr Luzius] Simmen und A.[nton] Lendi verbargen.66 In ihrer Replik in der Bündnerischen Volks-Zeitung nahmen sie zunächst eine «persönliche […] Abfertigung»67 Bauers vor, bei der sie deutlich machten, dass er mit seinem Angriff die Grenzen des Sagbaren überschritten hatte. Es sei «einfach nicht wahr», dass man «nur prädisponierte und unsichere Leute» eingeladen habe, und «sodann hinter verschlossenen Thüren mit allen Mitteln einer schlauen Beredtsamkeit auf dieselben eingewirkt» habe,68 wie Bauer behaupte. Damit verteidigten sie die Fähigkeit der Churer zur selbstständigen Meinungsbildung, war doch nicht nur, so betont die Bürgertumsforschung, der «offene Zugang für alle» ein grundlegender bürgerlicher Wert, sondern auch «der kritische und freie Dialog untereinander».69

Risch, Honegger, Simmen und Lendi bekräftigten auch, dass sie nicht am «Bürgerprinzip» festhielten, weil die Gemeindebürger ⅗ der Churer Steuern zahlten.70 Sie wehrten sich dagegen, die angegriffene Versammlung des Bürgervereins pauschal als «‹Zopf- und Philistertum›» bezeichnen zu lassen.71 Diese Begriffe tauchten inklusive dem des «Spiessbürgers» in Graubünden im Kontext des rechtlichen Verhältnisses von Gemeindebürgern und Niedergelassenen immer wieder zur Bezeichnung nur auf ihren «Eigensinn» fixierter Gemeindebürger auf.72 Spiessbürger waren, um mit dem Konservativen (!) Wilhelm Heinrich Riehl zu sprechen, «soziale Philister». Als solche hielten sie ängstlich am Überkommenen und am eigenen Reichtum fest, statt zu versuchen, im Sinne der «Bürger von guter Art» (Riehl) Neues zu schaffen.73 «‹Zöpfe, engherzige Philister, Krautbürger›» waren auch für die Mitglieder des Churer Bürgervereins abwertende Bezeichnungen für ängstliche, nur auf die Sicherung ihres eigenen finanziellen Vorteils bedachte Gemeindebürger, denen jeglicher «Bürgersinn» abging.74 Das zeitgenössische Pendant zum «Bürgersinn», das auch in der Bündnerischen Volks-Zeitung auftauchte, war der «Eigensinn», das eigennützige, am egoistischen Eigeninteresse orientierte Handeln.75 Ein zu hohes Mass an «Eigensinn», so stellt auch Manfred Hettling in seiner Analyse kultureller Normen des bürgerlichen Basels am Ende des 18. Jahrhunderts fest, «disqualifiziert den einzelnen geradezu, verhindert sein ‹Bürger-Sein›».76 Deshalb argumentierten die Mitglieder des Bürgervereins, ihnen gehe es vielmehr um «ideelle Motive». Diese liessen sich nicht «nach dem Franken und Rappen berechnen».77 Nur der Verband der Gemeindebürger sei nämlich «eine Quelle der Heimatliebe, der Hingebung und selbstbewussten Bürgersinns», was der blosse Wohnsitz nicht zu leisten vermöge, wie der Bürgerverein rund zwei Monate später in seinem Reformvorschlag an den Stadtrat präzisierte.78

Dass diese Bürgergesellschaft nicht auf egoistischen «Eigensinn» reduziert werden konnte, sollte mit dem Vorschlag des Bürgervereins für eine «liberale […] Eröffnung» des Bürgerrechts untermauert werden. So trete «die republikanische Tugend der Billigkeit ins Mittel, gibt nach, wo sie eigentlich nicht nachzugeben braucht, opfert von dem, was ihr von Rechtswegen gehört79 und führt dadurch das schwankende Schifflein des Gemeinwesens wieder in sichern Port».80 Dass sie auch an die eigenen Interessen dachten, gaben Risch, Honegger, Simmen und Lendi natürlich zu. Einen massvollen Eigennutz machten sie genauso als bürgerlichen Wert stark, wobei ein gewisser, massvoller «Eigensinn», das heisst, so Manfred Hettling, «das Recht auf Eigentum und damit auch dessen Mehrung», als Gegensatz zum «Bürgersinn» durchaus Teil des «bürgerlichen Wertehimmels» war. Letztlich war es die «erstrebte Kombination dieser Eigenschaften», die das bürgerliche Ideal ausmachte.81 Deshalb könne es, so meinten die Vertreter des Bürgervereins, «nicht so weit gehen, dass man, um einem Anderen gerecht zu werden, sich selbst aufgibt; selbst der Schutzpatron Chur’s, der hl. Martin, der doch ein Heiliger war, hat nur die eine Hälfte seines Mantels weggegeben.»82 Das altrepublikanische Paradigma der korporativen Selbstverwaltung der Gemeinde wurde damit in den bürgerlichen «Wertehimmel» integriert, der mitnichten rückständig oder spiessig war, sondern den eigenen Besitz aus idealistischen Motiven sicherte.

Neben den vorgebrachten bürgerlichen Werten schien am Rande das Geschichtsbild der altrepublikanisch organisierten Korporation – im Falle Churs zielte das auf die Zünfte – als Garantin fundamentaler Werte auf. Der bürgerliche Sinn für das Gemeinwohl fusste danach auf einer Mischung von ahistorischen bürgerlichen Werten und historischer Leistung. Es brauche nämlich einen «feste[n] Kern», dem «Natur, Verfassung und Geschichte» die Lenkung der Gemeinde zusprechen würden.83 Dies war der «Kern von Menschen, der durch die Bande der Pietät und des dauernden Interesses» an das Gemeinwesen gebunden war.84 Solche antimodernen Positionen waren durchaus typisch für das Bürgertum, denn «seit der Romantik waren immer auch Bürger die schärfsten Kritiker der eigenen Ausgestaltung von Bürgerlichkeit».85 Das staatsrechtliche Projekt einer liberal-universalistischen bürgerlichen Gesellschaft zerstöre die bewährten Traditionen,86 lautete die Kritik der konservativen Bürgerlichen am Projekt der liberalen Bürgerlichen. Bereits im 18. Jahrhundert setzte die Romantik den Organismus dem mechanischen, rationalen Denken der Aufklärung gegenüber: «Natur, Staat und Gesellschaft bilden danach einen gewachsenen Körper, der sich nicht ungestraft in seine Bestandteile zerlegen lässt.»87 Diese Art der Verhaftung mit der Vormoderne, die darin nicht nur Gemeinsamkeit stiftende, abstrakte Tugenden und Helden sah, sondern konkrete, erhaltenswerte politische Institutionen, war in ihrem konservativen Gestus etwas dezidiert anderes als die Erinnerungsfeiern und der Historismus der freisinnigen Schweiz.88 Diese Kritik an der liberalen Moderne sollte in Graubünden, getragen von einer liberalen Rechten, aufseiten der Gemeindebürger in späteren Jahrzehnten noch um einiges elaborierter ausfallen – und sich gleichzeitig von der Formulierung bürgerlicher Werte entfernen.

Damit zurück zur Churer Debatte der 1860er-Jahre: Über den (gescheiterten) ersten Versuch der Einrichtung einer politischen Gemeinde in Chur 1866 schrieb die Bündnerische Volks-Zeitung höhnisch, der Stadtrat hätte sich «etwas weniger mit dem souveränen Bürgermantel drapiren» sollen, wenn er einen «Beweis von Bürgertugenden» hätte geben wollen, stattdessen sei ein «Gebräu von zwei Drittheil Bürgerlich-konservativer Engherzigkeit und einem Drittel [sic!] verdünntem Liberalismus» vorgelegt worden.89 Damit wird noch einmal deutlich, wie stark in den 1860er-Jahren Vorstellungen über die Ausgestaltung der modernen, kommunalen Staatsbürgergesellschaft mit Werten vermischt wurden, die man als «bürgerliche» erkannte. Tugendhaftes Verhalten zeichnete sich nach dieser Deutung durch «Bürgersinn» aus, dadurch also, dass man möglichst vielen stimmberechtigten Männern die Möglichkeit zur Partizipation am Gemeindeleben gab. Genau daran mangelte es gemäss dem Churer Bittgesuch von 1865 an die Schweizer Bundesversammlung, worin 18 in Chur niedergelassene Schweizer das Stimmrecht in Gemeindeangelegenheiten forderten. In ihrer Argumentation nahm der den Gemeindebürgern vorgeworfene «Eigensinn» tyrannische Züge an. In Graubünden betrachte man es, so schrieben die Petenten, «als historisches Recht und als gute Sitte, über die Niedergelassenen wie gewissermassen über eine rechtlose Menschenklasse zu herrschen und dieselbe finanziell auszunutzen».90

Auch Julius Caduff argumentierte mit Werten des «bürgerlichen Wertehimmels». Sein Büchlein von 1864 über die Einwohner-Gemeinde zeigt, dass es in der Auseinandersetzung um die kommunalen Rechte von Gemeindebürgern und Niedergelassenen darum ging, allgemeinere Ideale wie egoistischen «Eigensinn» und gemeinwohlorientierten «Bürgersinn» den beiden sozialen Gruppen oder ihren Akteuren zuzuschreiben. Dem Argument der Gegner der politischen Gemeinde, wonach den Niedergelassenen jede Bürgertugend im Sinne von Gemeinwohlorientierung abgehe, hielt Caduff entgegen: Wenn die Bürgertugenden so sehr auf die Interessen der eigenen Gemeinde reduziert wären, dass sie schon im Nachbardorf inexistent wären, «dann wäre es wahrlich nur gut, wenn ein solches Spiessbürger- und Zopfthum sobald wie möglich ein Ende nähme!».91 Gemeinwohl wurde als etwas verstanden, was über die Grenzen der eigenen Gemeinde hinausgehen sollte. Caduff favorisierte eine liberal-universalistische bürgerliche Gesellschaft, weil es ein «jedem Menschen innewohnende[s] Gefühl von Gerechtigkeit und Gleichheit»92 gebe. Diese liberale bürgerliche Gesellschaft ging nicht von einer am Gemeinderecht orientierten Korporation aus, sondern vom Individuum.

Gemeindebürger, Niedergelassene und Ausländer

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