Читать книгу Gemeindebürger, Niedergelassene und Ausländer - Simon Bundi - Страница 26
Konturen eines liberalen Gesetzesentwurfs
ОглавлениеEin Jahr nach Annahme seiner Motion im Grossen Rat reichte Andreas Rudolf von Planta dem Kleinen Rat und der Standeskommission den Bericht der Vorberatungskommission zur Revision der Niederlassungsordnung von 1853 ein. Bereits in den einleitenden Bemerkungen wurde der Problemdruck deutlich, den es von kantonaler Seite zu mildern galt, handelte es sich doch bei der Niederlassung um «eine […] der brennendsten staatlichen Fragen der Gegenwart»,123 die gelöst werden musste. Im Bericht knüpfte Andreas Rudolf von Planta seinen Grundsatz einer liberal-universalistischen bürgerlichen Gesellschaft an das Nationalbild der Schweiz. Die Schweiz dürfe «bei ihren sonstigen freien Grundsätzen und im Hinblick auf ihre historische Mission im Völkerleben Europas am allerwenigsten noch länger in dieser Hinsicht hinter den monarchischen Staaten zurückbleiben».124 Diese «Mission» überhöhte er mit dem aufklärerischen Naturrecht: «[M]it gutem Beispiele […] auf diesem Gebiete demokratischer Staatseinrichtungen» voranzugehen, bedeute, «unserem guten republikanischen Instinkte oder vielmehr unsern naturwüchsigen Rechtsanschauungen Ausdruck» zu verleihen.125
Der Bericht der Vorberatungskommission liess keinen Zweifel daran, dass dies auf ein Republikverständnis zielte, wie es die Helvetische Republik vorgesehen hatte: die möglichst egalitäre politische und wirtschaftliche Partizipation aller mündigen Schweizer Männer in den Gemeinden – unter Berücksichtigung einiger weniger Rechtsprivilegien der Gemeindebürger. Konkret bedeutete das auf der einen Seite die Beteiligung der Niedergelassenen am Nutzungsvermögen der Gemeinden (Alpen, Weiden, Wälder) gegen Entgelt. Nicht nutzungsberechtigt waren sie nur am Armengut und an den Bürgerlösern, die für von Planta der Gemeinde ohnehin nicht zum Vorteil gereichten.126 Auf der anderen Seite sollte den Niedergelassenen volles Stimmrecht auf Gemeindeebene gewährt werden, davon ausgenommen waren nur «Veräusserungen von Gemeindeeigenthümlichkeiten».127 Entscheidend war, dass trotz dieser Einschränkungen «das bürgerliche Leben» auf der «vollständige[n] bürgerliche[n] Gleichberechtigung» beruhte. Mit anderen Worten ging es um die Etablierung von Politischen Gemeinden anstelle der bisher de jure nur aus Gemeindebürgern zusammengesetzten Wahl- und Abstimmungskörper in den Gemeinden. Damit war der Moment gekommen, in dem der Kanton zum ersten Mal den Versuch unternahm, das altrepublikanisch organisierte Rechtsverhältnis in den Gemeinden zu zerbrechen. Ob die korporativen Strukturen ganz zerschlagen werden sollten oder ob am Ende zwei unterschiedliche Gebilde entstehen würden, wusste zu diesem Zeitpunkt noch niemand.
Der Schluss des Berichts der Vorberatungskommission reihte diesen etatistischen Angriff des Kantons auf die Sphäre der korporativ und autonom organisierten Gemeinden in eine Reihe anderer kantonaler Massnahmen ein. Die Kommission war sich wohl bewusst, dass sie damit in das «Schalten und Walten» der Gemeinden eingriff, wie es vier Jahre davor Bartholome Caflisch gefordert hatte:
Nachdem wir in unserem Kanton auf dem Gebiete des Verkehrswesens Rühmliches geleistet, im Schul- und Forstwesen starke gesunde Wurzeln zu einem hoffnungsreichen Aufwuchs gepflanzt, unsere Zivil- wie Strafgesetzgebung so vollständig revidirt [sic!] und neu geordnet haben, wie wenig andere Kantone; – fühlen und bekennen wir wohl alle, dass nun vor allem bei uns das Gemeindeleben, bei voller Wahrung der freien Grundlagen desselben, noch der Hebung, Belebung und Veredelung bedarf.128
Um diesen Angriff zu begründen, folgte der Bericht der Vorberatungskommission eng aufklärerisch-rationalen Prinzipien, die auf eine Dynamisierung der Gesellschaft hinausliefen. Andreas Rudolf von Planta argumentierte mit den Nachteilen für die wirtschaftliche Entwicklung in Zeiten gesteigerter Mobilität, falls man die wachsende Zahl von Niedergelassenen im Kanton (1870 knapp ein Drittel) weiterhin rechtlich beschränke.129 In einer liberal-universalistischen bürgerlichen Gesellschaft würde auch die wirtschaftliche Lage des Einzelnen verbessert, da «bei den örtlichen und klimatischen Verhältnissen in manchen unserer Landesgegenden ohne etwelchen Mitgenuss am Gemeindevermögen das Niederlassungsrecht rein illusorisch wird, weil namentlich ärmere Leute daselbst nicht fortkommen noch existiren [sic!] können».130 Dieses Argument war bereits gut 20 Jahre davor im Grossen Rat bei der Beratung des Niederlassungsgesetzes von 1853 aufgetaucht. Ihm liegt die Vorstellung individueller Freiheitsrechte zugrunde, für die der Kanton einheitlich bis in die letzte Gemeinde besorgt sein musste. Dies bedingte eine Trennung zwischen einem übergeordneten Staat als fernem Wächter rechtlicher Rahmenbedingungen einerseits und der lokalen Gesellschaft als Sphäre des Ökonomischen andererseits. Eine solche Konzeption stand in diametralem Widerspruch zur bestehenden politisch-sozialen Einheit der Gemeinde, in der das Gemeinwohl einer relativ abgeschlossenen Korporation mehr galt als die Möglichkeiten des Einzelnen.
Ähnlich wie Plantas Bericht der Vorberatungskommission hatte Julius Caduff schon 1864 argumentiert, die Freizügigkeit der Bundesverfassung 1848 habe die Wirtschaft in der Schweiz stark gefördert, der nächste logische Schritt sei deshalb die Einrichtung von Politischen Gemeinden.131 Mit anderen Worten: Eine universalistische bürgerliche Gesellschaft aller mündigen Männer war die beste Voraussetzung, Besitz und Bildung möglichst grosser Teile der Bevölkerung zu verbessern. Dieses Argumentationsprinzip war nicht untypisch: Wie die Juden-, Arbeiter- oder Frauenemanzipation zehrte die Kritik Andreas Rudolf von Plantas und seiner Mitstreiter und Vorläufer von den ideellen Ressourcen des aufklärerischen Modells, um auf die evidenten Mängel bei der Realisierung ebendieses Modells hinzuweisen.132