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2.3 Die alte Gemeindeautonomie gegen den modernen Kanton

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Nach der Französischen Revolution regte sich breiter Widerstand gegen die Staats- und Sozialstrukturen des Freistaats. In aufgeklärten Schulanstalten wie dem Reichenauer Seminar wurden Kant und Voltaire rezipiert. Das Ziel war, die von Partikularinteressen geprägte Politik des Freistaats zu überwinden. Neu im Bündner Kontext war vor allem, dass aufgeklärte Aristokraten wie Johann Baptist von Tscharner und der aus Magdeburg stammende Heinrich Zschokke Freiheit und Rechte nicht Körperschaften wie den Gerichtsgemeinden und Nachbarschaften, sondern dem einzelnen Individuum zuschrieben.82 Damit fanden die Konturen einer individualistisch-kapitalistischen Erwerbsgesellschaft mit ihrer scharfen Trennung von Staat und Gesellschaft zum ersten Mal Eingang in Graubünden.83

Im Frühling 1798 war der Freistaat zwischen frankreichfreundlichen Patrioten und proösterreichischen Aristokraten gespalten, wobei Letztere von katholischen Kreisen unterstützt wurden, die eine strikte Trennung von Kirche und Staat befürchteten.84 Erst nachdem nacheinander die Österreicher und die Franzosen den Freistaat besetzt hatten, sprach sich eine Mehrheit der Gerichtsgemeinden für eine sofortige Vereinigung mit der Helvetischen Republik aus, die noch 1799 vollzogen wurde.85 In Absprache mit Österreich leistete die katholische Gerichtsgemeinde Disentis in der oberen Surselva den Franzosen erbitterten Widerstand: Im Mai 1799 endete diese Gegenwehr in einer Schlacht mit über 650 Toten aufseiten der Einheimischen.86

Die von Napoleon 1801 ausgearbeitete Verfassung konstituierte für den Kanton Rätien ein neues, modernes Republikverständnis: Der Kanton wurde zum «einen und unteilbaren» Einheitsstaat.87 Es galt das Prinzip der Volkssouveränität, je 500 Bürger konnten einen Kantonsrat wählen. Mit der fünfköpfigen Kantonsverwaltung übte er die staatliche Macht aus. Es bestand ein egalitäres Wahlrecht auf allen Stufen des Staatsaufbaus: Die Helvetische Republik schuf zum ersten Mal eine Politische Gemeinde, welche die seit mindestens fünf Jahren ortsanwesenden männlichen Erwachsenen als Schweizer Bürger anerkannte. Ausserdem wurde etwa im Unterengadin das Hintersassengeld abgeschafft.88 Da die bisherigen Partizipationsberechtigten weiterhin – zumindest de jure – alleine Wälder, Alpen und Weiden nutzen durften, entstand eine erste Form von Gemeindedualismus.89

Die kurze Zeit der Helvetik wird heute allgemein als wichtiger Schritt auf dem Weg in den modernen Kanton Graubünden bewertet, vor allem wurden «gerade im rechtstaatlichen Bereich viele Grundlagen gelegt».90 Napoleons Mediationsverfassung von 1803 war ein Kompromiss aus der alten Landeseinteilung in Gerichtsgemeinden und einer ständigen Landesbehörde. Diese Landesbehörde bestand aus einem 63-köpfigen Grossen und einem dreiköpfigen Kleinen Rat mitsamt einer ab 1807 dazwischen agierenden Standeskommission. Neu war, dass diese übergeordneten Behörden anders als im alten Freistaat von sich aus tätig werden konnten, sodass de facto «Bünden erstmals regiert wurde».91 In sogenannten Landespolizeiangelegenheiten konnte der Grosse Rat sogar neue Bestimmungen verabschieden, ohne sie dem Volk vorzulegen.92

In allen übrigen Angelegenheiten hatten die Gerichtsgemeinden das Referendumsrecht zwar zurückerhalten, konnten aber nicht mehr beliebige Kommentare und Alternativvorschläge anbringen, sondern nur noch mit Ja oder Nein antworten.93 Darüber entscheiden durften jedoch wiederum nur die Gerichtsbürger, wobei neben einem Bundesbürger- und einem Gemeindebürger- auch ein Kantonsbürgerrecht entstand.94 Während mit den Rechtsprivilegien von Gemeinden, Familien oder Amtsträgern wie dem Disentiser Abt die letzten «Requisite[n] der ehemaligen Feudaleinrichtungen» beseitigt wurden, blieben Niedergelassene von der Ausübung politischer Rechte ausgeschlossen.95 Die altrepublikanischen Staatsstrukturen der Vorhelvetik kamen bei der Partizipationsberechtigung wieder voll zum Tragen. Das demokratische Selbstverständnis blieb mehrheitlich korporativ orientiert, zentral war die «Gemeinfreiheit», die «libertad cumina», nicht der moderne Individualismus. Ein «moderner, liberaler Freiheitsbegriff wurde als Bedrohung von vertrauten politischen und gesellschaftlichen Verfahrensweisen empfunden».96

Damit gerieten altrepublikanische Autonomievorstellungen von Anfang an in eine Frontstellung zum jungen Kanton Graubünden, der zwangsweise eine gewisse administrative und politische Zentralisierung durchsetzen musste, um neue Möglichkeiten der Entwicklung zu schaffen. Auf der einen Seite waren die Altrepublikaner, auf der anderen die liberalen Etatisten. Zu einer Zeit, als es noch keine modernen politischen Parteien gab, waren dies die Hauptströmungen der Bündner Politik.97 Während konservative Altrepublikaner versuchten, die administrative und politische Zentralisierung des Kantons zugunsten der Gemeindeautonomie so niedrig wie möglich zu halten,98 trachteten liberale Etatisten danach, den Kanton «als lenkende und innovative Instanz handlungsfähig zu machen».99 Letztere vertraten ein neues Republikverständnis, das an die Französische Revolution anknüpfte. Es favorisierte eine individualistisch-kapitalistische bürgerliche Gesellschaft, die eine «scharfe Trennung von Staat als Inbegriff des Politischen und Gesellschaft als ‹System der Bedürfnisse› ökonomischer Natur» vornahm. In dieser Vorstellung eines von der Wirtschaft prinzipiell getrennten Staats sollten beide Bereiche zumindest all jenen Männern offenstehen, die über ein gewisses Mass an Besitz und Bildung verfügten.100 Angesichts dieser Polarisierung blieb die Rede vom «Republikanismus» nicht nur in Graubünden bis ins 20. Jahrhundert ein ambivalent gebrauchter Begriff zwischen modernem und vormodernem Verständnis.101 Es wäre jedoch falsch anzunehmen, dass die liberal-etatistische Haltung prinzipiell nur die Sache von wenigen Intellektuellen oder von einigen wenigen Mitgliedern der Kantonsbehörden war, während sich die Altrepublikaner auf die geschlossene Zustimmung der Gerichtsgemeinde-Stimmen verlassen konnten: Als etwa der Grosse Rat 1834 versuchte, die Bestimmung der Kantonsverfassung aufzuheben, wonach für eine Verfassungsrevision eine Zweidrittelsmehrheit der Gemeindestimmen erforderlich war, wurde mit 32 zu 32 Stimmen das notwendige Mehr um nur eine Stimme verpasst.102

Substanzielle Reformversuche gelangen trotzdem nicht. So blieb die Entwicklung lange Zeit eine zaghafte, die «Fahrt im liberalen Wind» ohne stürmischen Regenerationsschub in den 1830er-Jahren «gemächlich».103 Zwar versuchte der Grosse Rat in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts mit einer Fülle von Verordnungen und Reglementen auf dem Wege des Landespolizeirechts im Bereich Sanität, Transit, Schulen, Militär, Kirchen, Jagd, Strassenbau oder Forstpolizei, den Staat auszubauen. Liberale Etatisten wie der Jurist Peter Conradin von Planta kritisierten dennoch den «Korporationengeist» und forderten eine Überwindung des «Egoismus und Vereinzelungswesens».104 1841 gründete von Planta in Chur den Reformverein.105 Dieser sah das staatliche Ungenügen vor allem in der Autonomie der alten Gerichtsgemeinden, im veraltet-unübersichtlichen Gerichtswesen und in der schwachen Regierung.106 Die 1843 von Peter Conradin von Planta erstmals herausgegebene Zeitung Der freie Rätier diente der populären Aufklärung seiner Leser und behandelte Reformpostulate aus den Sparten Wirtschaft, Waldwesen, Verbauungswesen, Schulwesen oder Armenwesen.107 Der Verfassungsentwurf des Reformvereins von 1845 sah das erste Mal seit der Zeit der Helvetik eine Normierung des Gemeindewesens vor, dies betraf jedoch nur die Verwaltung, ohne die Rechtsstellung von Gemeindebürgern und Niedergelassenen zu tangieren.108 Die Spannung zwischen dem modernen Kanton und den alten Gemeindestrukturen war also noch, vereinfacht gesagt, ein Problem zwischen dem Kanton und der Autonomie der Gemeinden, nicht eines zwischen dem Kanton und den Gemeindebürgern als alleinigen Trägern dieser Gemeindeautonomie.

Nebenbei deutet dieser kurze Abriss der modernen Verfassungs- und Rechtsgeschichte Graubündens bereits an, wie sich im 19. Jahrhundert ein politisches Feld im heutigen Sinne konstituiert hat.109 Der Wandel der politischen Strukturen wurde zum Aushandlungsprozess. In den drei folgenden Kapiteln soll gezeigt werden, wo, wann und warum das bestehende Rechtsverhältnis zwischen Gemeindebürgern und Niedergelassenen das wurde, was es im Ancien Régime nie gewesen war: ein Problem, um dessen Lösung verschiedene Kräfte auf verschiedenen Bühnen gerungen haben.

Gemeindebürger, Niedergelassene und Ausländer

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