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1.1 Eine kommunale Abgrenzungsgeschichte im nationalen Kontext

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Dieses Buch gilt also einem Thema, das erklärungsbedürftig ist und auf den ersten Blick vielleicht sogar wenig brisant erscheinen mag. Dabei geben bereits diese wenigen Beobachtungen Anlass zur Annahme, dass die unterschiedlichen politischen Rechte innerhalb der meisten Schweizer Gemeinden historisch sehr wohl ein bedeutender Faktor für das Funktionieren des politischen Systems der Schweiz gewesen sind – und teilweise gilt das bis heute. Es liegt nicht nur an der Schweizer Gemeindeautonomie, dass man die politische Geschichte der Schweiz nicht einfach aus der Perspektive der Verfassung, gleichsam von «Bern» aus, ja nicht einmal als Summe aller Kantonsgeschichten schreiben kann. Ebenso wichtig sind die verschiedenen Partizipationsrechte in den Gemeinden und der Anspruch vieler Gemeindebürger, sich rechtlich stetig von den übrigen Schweizern abzugrenzen.

An dieser Abgrenzungsgeschichte der Gemeindebürger wird gleichzeitig erkennbar, dass die politische Kultur der Schweiz aus einer «merkwürdigen Mischung von archaischem und modernem Republikanismus»32 besteht. Dies gilt mitnichten nur für die kommunale Ebene. Die Schweiz wurde zwar 1848 als liberaler Bundesstaat gegründet und entwickelte sich in den nächsten Jahrzehnten im Sinne der Aufklärung in Richtung einer modernen Republik mit naturrechtlich-gleichberechtigten Bürgern. Hingegen beruhte die im Gebiet der heutigen Schweiz bis um 1800 praktizierte «archaische» Form von Republik auf der Vorstellung souveräner Städteorte und Kleinstaaten.33 Im Gegensatz zu einer modernen Auffassung von Demokratie betrachtete man politische Rechte ausschliesslich als ein historisches Privileg, das ein Kollektiv durch eigene Leistung erworben hatte und weitervererbte. Im Freistaat der Drei Bünde, in den Walliser Zenden und den eidgenössischen Landsgemeindeorten Uri, Schwyz, Obwalden, Nidwalden, Glarus, Zug und Appenzell umfasste dieses Kollektiv einen grösseren Teil der waffenfähigen Männer. Dieser war mit einem Landrecht oder Dorfrecht ausgestattet und de jure an wichtigen politischen Entscheidungen einschliesslich der Vergabe dieser Partizipationsrechte an die später zugezogenen Hintersassen beteiligt. In den eidgenössischen Städteorten war dieses Privileg hingegen auf eine kleine Minderheit beschränkt, die in den Räten sass.34

Züge dieser vormodernen Form von Republikanismus blieben in der modernen Schweiz gerade auf Bundesebene ein wirkmächtiges Konzept. Charakteristische Merkmale dieser vor-aufklärerischen Vorstellung von Republikanismus sind in erster Linie der Föderalismus und das Milizsystem, der Ständerat und das Ständemehr. Zudem war die politische Partizipation in der Schweiz de facto lange an wehrdienstfähige und autarke Männer gebunden, was die späte Einführung von Frauenstimmrecht und Zivildienst erklärt. Bis heute politisch eingesetzt werden das Schlagwort der direkten Demokratie, die Skepsis gegenüber dem Völkerrecht und der nationale Partikularismus, der sich unter anderem in der Ablehnung der EU manifestiert. Zu diesem Spektrum gehören auch Formen einer historisch begründeten, patriotischen Zivilreligion wie die Bauernstaatsideologie und die immer noch präsenten Rekurse auf 1291, Morgarten und Marignano statt auf 1848. Dazugehören kann auch eine xenophobe Gesinnung unter Betonung der nationalen Eigenart.35 Letzteres zeigt sich nicht zuletzt im Bürgerrecht, das immer noch kommunal verankert ist und lange über Plebiszite vergeben wurde: In Graubünden entschied noch Anfang der 1990er-Jahre das Kollektiv der Bürgerversammlung über Einbürgerungen von Ausländern und Schweizern, heute übernimmt dies der Bürgerrat.36

Die bis heute bestehenden Partizipationsprivilegien der Gemeindebürger sind als Teil dieses altrepublikanischen Erbes der Schweiz einzuordnen. Insofern kann auch der vor allem in Graubünden über Jahrzehnte ausgetragene Streit um die Eigentumsrechte und Kompetenzen der Gemeindebürger mit den Konflikten, die es auf nationaler Ebene teilweise bis heute zwischen den erwähnten altrepublikanischen Merkmalen und liberalen oder linkspolitischen Veränderungsbestrebungen gibt, in eine Analogie gesetzt werden. So wie der Rekurs auf die nationale Eigenstaatlichkeit der Schweiz oder das Milizmilitär bleiben auch die Bürgergemeinden mit ihren altrepublikanischen Prinzipien bis in die Gegenwart «ein Integrationsfaktor für eine uneinheitliche Nation».37

Donat Cadruvi spielte 1979 auf dem Crap Sogn Gion mit seiner Bemerkung über «Doktoranden und andere schreibfreudige Juristen» bereits auf die staatsrechtlich unsichere Lage an, in der sich die demokratischen Privilegien der Bündner Gemeindebürger in den 100 Jahren zwischen dem Erlass des kantonalen Niederlassungsgesetzes 1874 und dem Gemeindegesetz des Kantons Graubünden von 1974 befunden hatten. Es ist zunächst dieser Streit um Eigentumsrechte und Kompetenzen, um den es in dieser Untersuchung geht. Er begann bereits Mitte des 19. Jahrhunderts und konturierte den Bündner Gemeindedualismus seit 1874 auf kantonaler Ebene bis über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus immer wieder neu.

Diese Konfliktgeschichte erfasst aber nicht das ganze Spektrum an Institutionen und Praktiken, mit denen die Gemeindebürger ihre Sonderstellung gegenüber den Nichtgemeindebürgern stabilisiert haben. Dazu gehören auch die Bürgervereine Chur und Igis oder Aspekte der Tagespolitik der Bürgergemeinden, das heisst die von den Politischen Gemeinden abgesonderten, oben kurz umrissenen Kompetenzen. Der Blick auf diese Bürgervereine, vor allem aber auf die Boden- und Energiewirtschaftspolitik soll die Geschichte des Streits um Eigentumsrechte und Kompetenzen in den Bündner Gemeinden ergänzen. Die Bürgerrechtspolitik kanalisierte einerseits den Zugang zum (Schweizer) Bürgerrecht und hielt so oft eine Abgrenzung zwischen Gemeindebürgern und Nichtgemeindebürgern beziehungsweise zwischen Schweizern und Ausländern aufrecht. Andererseits konnte eine bestimmte Einbürgerungspolitik zur Selbstbehauptung der eigenen, von den Nichtgemeindebürgern distinkten Institution eingesetzt werden. Ähnlich konnten sich gewisse Bürgergemeinden mit der Boden- und Wasserrechtspolitik als behördliche Entscheidungsinstanz durchsetzen und gleichzeitig ein eigenes Selbstverständnis als Boden- und Wassereigentums- sowie als Wasserveräusserungsinstanz formulieren.

Am Ende wagt die Untersuchung einen Blick über die im engeren Sinn politischen Institutionen hinaus. Die besondere Stellung der Gemeindebürger konnte auch in der (relativen) Dominanz der Gemeindebürger in mehreren Vereinen, unter der Churer Unternehmerschaft oder bei verschiedenen Bräuchen eine Integrationsfunktion erfüllen, weil die Gemeindebürger selbst unter Gleichen «feine Unterschiede» aufrechterhielten.

Mit dem Streit um Eigentumsrechte und Kompetenzen, mit den Bürgervereinen, der Boden- und Energiepolitik, der Einbürgerungspraxis und den Distinktionsmechanismen ausserhalb gemeindebürgerlicher Institutionen soll am Gegenstand der Bündner Gemeindebürger dargestellt werden, dass altrepublikanische Demokratievorstellungen nicht nur als Gemeindeautono – mie, sondern auch in der Frage der politischen und wirtschaftlichen Partizipationsrechte innerhalb der Gemeinden eine wirkmächtige politische Tradition bildeten. Den Gemeindebürgern Graubündens gelang es, ein eigenes Selbstverständnis aus dem vormodernen Freistaat der Drei Bünde über die historischen Bruchlinien der Moderne hinaus zu erhalten. Zu zeigen, wie, wo und warum dies möglich war, ist das Ziel dieser Untersuchung. Gleichzeitig kann es in einer ersten Monografie zum Thema nicht darum gehen, möglichst alle Aspekte des historischen Phänomens Bürgergemeinde abzudecken. Gänzlich unberücksichtigt bleibt in dieser Untersuchung der neben der Bürgerrechtsverleihung und der Boden- und Wasserrechtspolitik wichtigste Zweig ihrer Kompetenzen: die Armenpolitik. Zum einen kann man diese Auswahl als willkürlich bezeichnen, weil sie auch aus arbeitsökonomischen Gründen erfolgt. Zum anderen ist zumindest der Umgang mit Fahrenden als Teil der Armenpolitik Graubündens bereits gut erforscht.38

Gemeindebürger, Niedergelassene und Ausländer

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