Читать книгу Einführung in die Theologie der Spiritualität - Simon Peng-Keller - Страница 10
1.2 Theologische Begriffsbestimmungen
ОглавлениеDie Mehrdeutigkeit heutiger Rede von Spiritualität zeigt sich nicht zuletzt daran, dass der Begriff auch theologisch verschieden gebraucht wird. Es ist zu beobachten, dass in der theologischen Fachliteratur zwei unterschiedliche Verwendungsweisen nebeneinander laufen. Das vorherrschende Verständnis lässt sich als theologisch-anthropologisch beschreiben. Doch kann der Begriff auch pneumatologisch akzentuiert werden.
,Spiritualität‘ als theologisch-anthropologischer Begriff
Eine vorwiegend theologisch-anthropologische Verwendung des Begriffs findet sich bei so unterschiedlichen Autoren wie Hans Urs von Balthasar, Sandra Schneiders und Dietmar Mieth. Kennzeichnend für diesen Verständniszugang ist es, dass zunächst nach der Bedeutung von ,Spiritualität‘ im Allgemeinen gefragt wird und dann in einem zweiten Schritt das christliche Spezifikum herausgearbeitet wird. So schlägt Balthasar vor, unter Spiritualität die „je praktische oder existentielle Grundhaltung eines Menschen“ zu verstehen, „die Folge und Ausdruck seines religiösen – oder allgemeiner: ethisch-engagierten Daseinsverständnisses“ sei: „eine akthafte und zuständliche (habituelle) Durchstimmtheit seines Lebens von seinen objektiven Letzteinsichten und Letztentscheidungen her“ (82:247). Die anthropologisch-normative Prämisse, von der Balthasar ausgeht, ist die These, „daß der Mensch sich als Geist versteht und durch Geist definiert – und nicht durch Materie, nicht durch Leib, nicht durch Trieb“ (82:248). Unter den Spiritualitätsbegriff fallen demnach – in Kierkegaard’schen Kategorien – sowohl die religiöse wie die ethische Existenz, nicht aber eine ästhetisch-selbstbezogene, mag diese noch so innerlich und reflektiert sein. Spiritualität in diesem Sinne findet sich nach Balthasar nicht nur im Christentum, dem Buddhismus und dem Islam, sondern auch in den nicht-materialistischen philosophischen Schulen der Antike, die die christliche Spiritualität präformierten und mitprägten. Die theologische Pointe besteht darin, dass von Balthasar die christliche Spiritualität als transformierende Aufnahme des Platonismus (Transzendenzstreben), Aristotelismus (sittliche Entschiedenheit) und Stoizismus (Gelassenheit) versteht, die von der Christusoffenbarung eine „Neubegründung aus einem für sie selbst unzugänglichen Ursprung“ erfahren (82:255). Christus ist nach Balthasar der synthetische Zielpunkt und die maßgebliche und konkrete Integration von Gott und Welt, worauf alle wahre Spiritualität hinstrebt: „Die menschlichen Spiritualitäten überstiegen sich alle in die Letzthaltung Christi hinein, so daß für den Christen – auch für den heutigen – die Frage nicht die ist, wie er eine menschliche mit der christlichen Spiritualität zu einer Synthese bringe, sondern wie er aus dem Geist Christi seine menschliche Situation bewältigen soll“ (82:262).
Ähnlich wie Balthasar, aber mit deutlich anderen Akzenten geht auch Sandra Schneiders davon aus, dass Spiritualität anthropologisch zu bestimmen ist und ebenso in religiösen wie in nicht (explizit) religiösen Formen auftritt. Sie beschreibt Spiritualität in diesem grundlegenden Sinne als „actualization of the basic human capacity for transcendence“ bzw. „as the experience of conscious involvement in the project of life-integration through self-transcendence toward the horizon of ultimate value one perceives“ (143:16). Auch Schneiders Spiritualitätsbegriff ist normativ. Er gewinnt sein Profil durch die Abgrenzung von „spiritually negative life-organizations“ wie beispielsweise Sucht, Machtstreben und Ausbeutung (143:17). Das Spezifikum christlicher Spiritualität ist nach Schneiders die Ausrichtung auf den in Jesus Christus sich offenbarenden Gott und die Transformation des Lebens durch den Heiligen Geist. Was das Verhältnis zwischen christlicher und nicht-christlicher Spiritualität betrifft, vertritt die nordamerikanische Theologin im Unterschied zu von Balthasar nicht einen christologischen, sondern einen schöpfungstheologisch-anthropologischen Inklusivismus: „If nothing human is foreign to the Christian, then nothing spiritual is foreign to Christian spirituality“ (143:26). Einen dritten Weg innerhalb der anthropologischtheologischen Modelle wählt Dietmar Mieth, wenn er Spiritualität zunächst als Inbegriff einer Haltung beschreibt, in der sich Bewusstsein und Sein zusammenschließen, und diese Haltung dann näherbestimmt als „eine sowohl im Denken wie im Leben ausgeprägte Einheit des Strebens nach Vollkommenheit und der Nachfolge Christi“ (444:24f.).
,Spiritualität‘ als pneumatologischer Begriff
Ein deutlich anders konturierter Spiritualitätsbegriff findet sich, wo in einer pneumatologischen Orientierung spiritus primär nicht auf den menschlichen Geist, sondern auf Gottes Geist bezogen wird. Einen solchen Zugang wählt beispielsweise Bertram Stubenrauch, der angesichts der Vieldeutigkeit des Spiritualitätsbegriffs tautologisch-verdeutlichend für eine „bewußt pneumatisch orientierte Spiritualität“ plädiert (101:146). Anders als Schneiders, die die Erfahrungsdimension der Spiritualität fokussiert, betont Stubenrauch, ähnlich wie von Balthasar und Mieth, die Dimension des Logos bzw. des Ethos: „Sofern der Heilige Geist die Getauften mit Gott vereinigt, offenbart er ihnen den Sinn der Welt und den Sinn der menschlichen Existenz. Sofern er die Getauften zugleich untereinander verbindet und auf alle Menschen hin entgrenzt, bildet er die Richtschnur und die Quelle der Moral. In diesem zweifachen Sinn dient der Heilige Geist als Wegbegleiter: Was die Christen im Glauben erkennen, soll in ihrer Haltung und ihrem Handeln zum Ausdruck kommen“ (101:147). Das Potential eines pneumatologisch gefüllten Spiritualitätsbegriffs tritt deutlich hervor, wenn man ihn mit dem Begriff ,Frömmigkeit‘, an dessen Stelle er getreten ist, vergleicht. Auf dem Hintergrund seiner neutestamentlichen Matrix bringt ,Spiritualität‘ in diesem Sinne den Primat von Gottes Handeln gegenüber der religiösen Aktivität des Menschen zur Geltung. Anders als ,Frömmigkeit‘ zielt eine biblisch-pneumatologische Rede von Spiritualität nicht primär auf das religiöse Tun bzw. die religiöse Haltung des Menschen, sondern auf das lebenserneuernde Wirken des Heiligen Geistes.
Spiritualität als ars spiritualis
Die beiden skizzierten Möglichkeiten, den Spiritualitätsbegriff theologisch zu bestimmen, sind zwar im Ansatz deutlich voneinander zu unterscheiden, lassen sich aber in der Näherbestimmung miteinander kombinieren. Liest man den Begriff als Kürzel für ,Leben aus dem Geist Gottes‘, so ist das ethische Moment – das ,Leben‘ im Sinne von ,Lebensführung‘ – in die pneumatologische Grundbestimmung eingezeichnet. Ein solcher Spiritualitätsbegriff bezeichnet ebenso die Formkraft, die ein solches Leben bestimmt, wie die Grundhaltung und die Praxis, die sich der Präsenz des Geistes verdanken. ,Spiritualität‘ bedeutet in diesem Sinne eine vom Geist Gottes bestimmte Lebensform und Lebensführung, oder noch kürzer: ars spiritualis – die Kunst, geistbestimmt zu leben (s. Regula Benedicti 4,75).
Spiritualität im Singular und im Plural
Insofern sich die je konkrete Weise, sein Leben aus dem Geist Jesu zu gestalten und sich von ihm bestimmen zu lassen, zudem geformt wird durch konfessionelle Traditionen, Frömmigkeitsstile und gemeinschaftliche Praktiken, kann von christlicher Spiritualität auch im Plural gesprochen werden. Geistbestimmtes Leben verwirklicht sich faktisch immer im Kontext von vorgeprägten Spiritualitäten, die dadurch adaptiert und weiterentwickelt werden. Da das universal wirksame Pneuma Gottes als Geist der Liebe individualisierend wirkt und das Leben derer, die sich von ihm bestimmen lassen, auf singuläre Weise prägt, ist das, was jeweils konkret als Spiritualität beschreibbar ist, eine je einzigartige Gestaltwerdung des neuen Seins in Christus. Es spricht auf diesem Hintergrund theologisch viel dafür, den Begriff in erster Linie im Singular zu gebrauchen: „Wenn das Wirken des Heiligen Geistes für die gesamte Christenheit angenommen werden darf, dann muß auch die in ihr zutage tretende Spiritualität – trotz aller Vielfalt – unteilbar sein“ (Barth/56:8f.).
,Spiritualität‘ nach dem ÖRK
In einem 1991 auf der Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Canberra vorgelegten Sektionsbericht findet sich ein gelungener Versuch, das Wesen christlicher Spiritualität in einer biblischen Sprache zu umschreiben:
„Spiritualität wurzelt in der Taufe und in der Nachfolge. Durch sie sind wir in das Sterben und die Auferstehung Christi hineingenommen, werden Glieder seines Leibes und empfangen die Gaben des Heiligen Geistes, damit wir ein Leben führen, das in den Dienst für Gott und für Gottes Kinder gestellt ist. (…) Spiritualität ist die Feier der Gaben Gottes, Leben in Fülle, Hoffnung in Jesus Christus, dem gekreuzigten und auferstandenen Herrn, und Verwandlung durch den Heiligen Geist. Spiritualität ist auch das unablässige, oft mühsame Ringen um das Leben im Licht inmitten von Dunkelheit und Zweifel. Spiritualität bedeutet, das Kreuz um der Welt willen auf sich nehmen, an der Qual aller teilhaben und in den Tiefen menschlichen Elends Gottes Antlitz suchen. (…) Spiritualität – in ihren vielfältigen Formen – heißt lebensspendende Energie empfangen, geläutert, inspiriert, frei gemacht und in allen Dingen in die Nachfolge Christi gestellt werden. (…) Eine ökumenische Spiritualität für unsere Zeit sollte hier und jetzt inkarniert, lebensspendend, in der Schrift verwurzelt und vom Gebet genährt, in der Gemeinschaft und der Feier Gestalt finden, ihre Mitte in der Eucharistie haben und in Vertrauen und Zuversicht ihren Ausdruck im Dienst und im Zeugnis finden“ (93:116).
Nach dieser Umschreibung ist christliche Spiritualität bestimmt durch ihre Herkunft aus dem Christusereignis und der Taufe, ihren Gemeinschaftsbezug (Teilhabe am Leib Christi), ihren Vollzug (Nachfolge Christi, Dienst am Menschen, Gebet) sowie durch Grundhaltungen wie Vertrauen, Zuversicht und Geduld. Das zentrale Moment dieser unterschiedlichen Umschreibungen bildet der dynamisierende Geist Christi, dessen Wirken sich die beschriebenen Bezüge, Vollzüge und Haltungen verdanken. Einer Theologie der Spiritualität kommt auf dem Hintergrund einer solchen Phänomenbestimmung die Aufgabe zu, sowohl die pneumatische Orientierung, die geschichtlichen Kontinuitäten und die anthropologisch bedingten Gesetzmäßigkeiten herauszuarbeiten, als auch das je einzigartige und eschatologisch neue Wirken des Geistes zu bedenken. Die methodologischen Probleme, die eine solche Aufgabe beinhaltet, dürften neben dem divergenten Verständnis von ,Spiritualität‘ ein wichtiger Grund dafür sein, dass die stärkere Etablierung des theologischen Faches, das sich dieser vielschichtigen Aufgabe widmet, sich gegenwärtig eher schwierig gestaltet. In den nächsten Abschnitten sollen die Möglichkeiten, das Profil und den Aufgabenbereich einer Theologie der Spiritualität zu umreißen, genauer betrachtet werden.