Читать книгу Einführung in die Theologie der Spiritualität - Simon Peng-Keller - Страница 16
3.2 Human- und sozialwissenschaftliche Studien
ОглавлениеKontrastreiche Perspektiven
Weniger entspannt gestaltet sich der interdisziplinäre Dialog zwischen der Theologie der Spiritualität und den Human- und Sozialwissenschaften. In dem bereits zitierten programmatischen Artikel von de Guibert beklagt sich der französische Jesuit darüber, dass die psychologische Erforschung von spirituellen Phänomenen weitgehend von Leuten betrieben werde, die selber dem Glauben entfremdet seien und einer religiösen Praxis grundsätzlich skeptisch gegenüberstehen (128:8). Die existentielle Spannung zwischen gläubiger Beteiligtenperspektive und skeptischer Außensicht wiederholt sich im Bereich der Wissenschaften als Spannung zwischen der Beobachterperspektive der Human- und Sozialwissenschaften und den Beschreibungen, die eine theologische Hermeneutik aus einer Beteiligtenperspektive entwirft. Seit dem Erscheinen von de Guiberts Artikel konnte vielfach gezeigt werden, dass sich die Spannung zwischen diesen nicht aufeinander reduzierbaren Perspektiven anregend auf die unterschiedlichen Disziplinen auswirken kann. Wie anspruchsvoll die interdisziplinäre Verständigung in diesem Bereich aber nach wie vor ist, soll an zwei prominenten Beispielen verdeutlicht werden. Das erste findet sich im Standardwerk von Christian Scharfetter zur Allgemeinen Psychopathologie. Der Zürcher Psychiater schreibt darin:
„Das Ich ist ein Abstraktum, das für menschliches Selbstsein steht. In diesem Sinne werden hier Ich und Selbst auch zusammen gebraucht. Denn die religiös-philosophische ,Erfahrung‘ eines ,Selbst‘ (Atman) ,hinter‘, ,vor‘, ,unter‘, ,jenseits‘ jedes vergänglichen Ich, das mit dem Über-Selbst (maha-Atman, Brahman) eins ist, ist eine Transego-Erfahrung“ (344:73).
Scharfetters Anleihen an die buddhistische Weltsicht ist typisch für eine bestimmte Gruppe von Human- und Sozialwissenschaftlern, die sich im Rahmen ihrer jeweiligen Disziplin gegen eine reduktionistische Deutung von spirituellen Erfahrungen wenden. Auf der anderen Seite des Spektrums stehen Autoren, die die gleichen Erfahrungen konstruktivistisch deuten. Eine sehr gemäßigte Variante eines religionspsychologischen Konstruktivismus findet sich bei dem vorsichtig argumentierenden Religionssoziologen Hubert Knoblauch. Im Anschluss an eine breit angelegte empirische Studie, die auf signifikante Unterschiede zwischen Nahtoderfahrungen in Ost- und Westdeutschland aufmerksam machte, schreibt er:
„Die Nahtoderfahrung ist also weniger ein Fenster ins Jenseits – sie ist vor allen Dingen ein Spiegel dessen, was unser Bewusstsein als Jenseits erfahren kann. (…) Dass Menschen Nahtoderfahrungen machen, scheint ein dem Menschen eigenes Vermögen zu sein (…), eine transzendente Wirklichkeit wahrzunehmen, die anders ist als das, was unser Organismus an Reizen aufnimmt. Dieses Vermögen scheint zum Wesen des Menschen zu gehören. Was aber dann als transzendente Wirklichkeit erfahren wird, wie die Inhalte aussehen, das lernen wir von unseren Mitmenschen, von der Kultur und vom Leben selbst“ (331:179 / 193f.).
Dass die Nahtoderfahrung kulturell geformt ist, kann Knoblauch vielfältig belegen. Doch rechtfertigt sich dadurch seine Schlussfolgerung? Sind solche ausschließlich kulturell bedingt? Kommen ihre Inhalte nur aus dem Speicher des Gelernten und Angeeigneten? Verkennt das konstruktivistische Deutungsmodell nicht gerade die überraschende und neuartige Qualität der gedeuteten Widerfahrnisse? Die zurückhaltenden Formulierungen des ersten Satzes dürften allerdings eine grundsätzliche Offenheit gegenüber einer nicht soziologischen Deutung solcher Erfahrungen markieren.
Deutungskonflikte
Angesichts der Komplexität des Phänomenfeldes und der damit verbundenen Fragestellungen ist im interdisziplinären Gespräch zwischen der Theologie der Spiritualität und den Human- und Sozialwissenschaften der Konflikt der Interpretationen unvermeidlich. Die Theologie der Spiritualität partizipiert auf diese Weise an den Deutungskonflikten, mit der sich auch die von ihr untersuchten spirituellen Selbst- und Weltdeutungen auseinandersetzen. Von allem Anfang an gehört es zum Signum christlicher Spiritualität, dass sie sich mit neutralen und kritischen Außenperspektiven konfrontiert sieht. Die Attraktion der Beobachterperspektive bleibt solange beschränkt, wie die religiöse und kulturelle Homogenität das interne Auftauchen einer radikalen Außenperspektive verhindert. Wenn die neutral beobachtende oder die un- und andersgläubige Sicht als derartig fremd und exotisch erlebt wird, dass sie als eigene Möglichkeit nicht ernsthaft in Erwägung gezogen wird, vermag sie keine Anziehungskraft zu entwickeln. Sobald aber diese Homogenität schwindet, wird die aktive Auseinandersetzung mit den sich aufdrängenden Außenperspektiven unvermeidlich. Die im 17. Jahrhundert aufkommenden Substantivierungen ,Spiritualität‘ und ,Mystik‘ verweisen auf den äußeren Beobachter, der skeptisch, neugierig oder wissenschaftlichobjektivierend dem Christen bei seiner praxis pietatis zuschaut und seinen mystischen Verzückungen und dämonischen Entrückungen auf den Grund zu kommen versucht. Dass die neutrale oder kritische Außenbeobachtung zudem die beobachtete Praxis verändert, wurde vielfach bemerkt. Die Fremd- und Selbstbeobachtung verändert das Selbsterleben derer, die beobachtet werden, und zwar auch dort noch, wo die Legitimität der Außenperspektive fundamentalistisch oder durch einen Sprung in eine vermeintliche Unmittelbarkeit spirituellen Erlebens negiert wird.
Zwei Perspektivendifferenzen
Die Theologie der Spiritualität hat sich auf diesem Hintergrund mit zwei unterschiedlich gelagerten Perspektivendifferenzen zu beschäftigen: Erstens mit der Differenz zwischen der Beteiligtenperspektive des Glaubens und der Beobachterperspektive der Human- und Sozialwissenschaften; zweitens mit der Unterscheidung zwischen divergenten Beteiligtenperspektiven, die im Streit der Weltanschauungen aufeinander treffen. Während die erste Unterscheidung eine Perspektivendifferenz betrifft, die im interdisziplinären Gespräch zwischen der Theologie der Spiritualität und den anderen Wissenschaften von vornherein gegeben ist, so betrifft letztere die jeweils kontingenten Divergenzen zwischen unterschiedlichen Welt- und Selbstdeutungen. Wenn sich auch beide Interpretationskonflikte häufig vermischen, so sind sie dennoch so weit als möglich auseinanderzuhalten.
Fruchtbare Rezeptionsprozesse
Der Konflikt der Interpretationen muss dem interdisziplinären Gespräch zwischen der Theologie der Spiritualität und den Human- und Sozialwissenschaften nicht abträglich sein. In vielerlei Hinsicht ist es in den letzten Jahrzehnten zur Selbstverständlichkeit geworden, die Erkenntnisse der human- und sozialwissenschaftlichen Forschung in die spiritualitätstheologische Reflexion einzubeziehen. Zwei wichtige Bereiche einer solchen fruchtbaren interdisziplinären Zusammenarbeit werden in dieser Einführung noch zur Sprache kommen: Während in der Reflexion auf spirituelle Lebensformen soziologische Aspekte zu berücksichtigen sein werden, wirft die Frage nach der Bedeutung von spiritueller Reifung Probleme auf, die kaum ohne einen Blick auf die entwicklungspsychologische Forschung zu beantworten sind. Zuvor müssen allerdings die methodologischen Voraussetzungen geklärt werden, die eine Theologie der Spiritualität dazu befähigen, die Forschungsergebnisse außertheologischer Disziplinen auf angemessene Weise zu rezipieren.