Читать книгу Einführung in die Theologie der Spiritualität - Simon Peng-Keller - Страница 17
3.3 Theologische Hermeneutik des geistlichen Lebens
ОглавлениеInterdisziplinarität erfordert von den beteiligten Disziplinen, dass sie das je eigene Erkenntnisinteresse und die damit verbundenen methodischen Entscheidungen und Beschränkungen in einer reflexiv geklärten Form ausweisen, und zwar in der Bereitschaft, auch in dieser Hinsicht von den anderen Disziplinen etwas zu lernen. In der vorliegenden Einführung wird dazu die Theologie der Spiritualität als eine theologische Hermeneutik des geistlichen Lebens konzipiert. Prototypisch findet sich eine solche Aufgabenstellung bereits bei Bernhard von Clairvaux, der seine Mönche zu einer geistlichen Hermeneutik hinführt: Sie sollen nicht nur im Buch der Welt und dem Buch der Hl. Schrift lesen lernen, sondern ebenso im Buch ihrer (geistlichen) Erfahrung (Predigten zum Hohelied 1,5,9ff.). Um das Spezifikum einer theologischen Hermeneutik des geistlichen Lebens herauszuarbeiten, konturiere ich sie auf dem Hintergrund einer philosophischen Hermeneutik des Lebens.
Hermeneutik des Lebens
Anders als die klassische Hermeneutik, die sich auf die Auslegung von Texten, Kunstwerken und Artefakten konzentrierte, wendet sich in einer Hermeneutik des Lebens der Betrachtungsfokus auf die Auslegenden selbst zurück. Im Anschluss an Wilhelm Dilthey (420:235ff.) lässt sich die Grundstruktur alltäglicher Selbstauslegung triadisch beschreiben: Menschliches (Selbst-)Verstehen vollzieht sich im Ausgang von interpretationsbedürftigem Erleben mittels sprachlicher Artikulation. Dass wir das, was wir erleben und was uns widerfährt, artikulierend zu verstehen suchen und uns selber im Spiegel unserer Artikulationen deuten, formalisiert Diltheys Trias als reziprokes Verhältnis von Erleben und Verstehen, wobei der Artikulation die Rolle eines (eigen-)dynamischen Verbindungsglieds zukommt. Während Dilthey selbst die aktive Verstehenskompetenz des Menschen hervorhebt, sind im Hinblick auf eine Hermeneutik des geistlichen Lebens die passivischen Dimensionen zu betonen: Als ein artikulierend nach Verstehen Suchender verfügt der vom Geist bewegte Mensch weder über das Woher, noch über das Medium, noch über das Gelingen seiner hermeneutischen Bemühungen.
Erleben
Der erste Term der diltheyschen Triade fasst zwei zu unterscheidende Dimensionen zusammen: ,Erleben‘ kann nämlich sowohl für den Lebensvollzug als dem Worin des Deutens stehen als auch für Widerfahrnisse verschiedenster Art, also für das unverfügbare Woher unserer Deutungsaktivitäten. Betrachten wir diese beiden Dimensionen im Hinblick auf das geistbestimmte Leben etwas genauer: Jedes Artikulieren und Verstehen ist situiert in eingespielten Lebensvollzügen und spirituellen Praktiken und kommt von Ereignissen her, die in einem durch sie mitbestimmten Erwartungshorizont zu reden und zu denken geben (Umkehr, Anfechtungen, Trosterfahrungen etc.). Dass wir uns, soweit wir uns erinnern mögen, immer schon in halbwegs Verstandenem bewegen, darf die basale Intransparenz dessen, was uns widerfährt und was wir durchleben, nicht verdecken. Nicht nur das, was uns unvorbereitet trifft, widersetzt sich in dem unmittelbaren Verstehen. Auch das Leben, das wir führen, ist uns in vielerlei Hinsicht undurchsichtig. Nicht nur die Passionen, die uns heimsuchen, sondern auch unsere eigenen Aktionen können uns, bei näherem Zusehen, als fremd entgegentreten. Wir verstehen uns auf manches, ohne zu bemerken, dass es dabei etwas zu verstehen gäbe. So beherrschen wir viele lebensweltliche und geistliche Praktiken spielend, ohne sie – in einem anspruchsvolleren Sinne des Wortes – zu verstehen. Nicht jede Kenntnisnahme (notitia) ist als Erkennen (cognitio) zu beschreiben. Oft nehmen wir etwas wahr, ohne es genau erkennen und artikulieren zu können. Einer Hermeneutik des spirituellen Lebens kommt nicht zuletzt die kritische Funktion zu, gegen eine deutende Überwältigung des Lebens bzw. einer interpretativen Normalisierung des Widerfahrenen die Grenzen des verstehenden Zugriffs bewusst zu halten und den Blick auf das wahrnehmbare, aber (noch) nicht verstehbare bzw. der Wahrnehmung grundsätzlich entzogene Jenseits des Verstehens zu reflektieren.
Artikulation
Wenn die Erlebnisdimension als das Woher und Worin des Verstehens beschrieben werden kann, so die Artikulation – das zweite Glied von Diltheys Trias – als ihr Wodurch. Wir verstehen etwas, indem wir es artikulieren und kommunizieren. Auch uns selbst, die wir mit uns in bestimmtem Sinne ,unmittelbar‘ vertraut sind, verstehen wir nur mittels unserer Selbstartikulation. Wir identifizieren uns – spontan oder reflektiert –, indem wir uns mit Hilfe von Deutungsschemata und Narrativen im Hinblick auf reale oder imaginierte Kommunikationspartner in bestimmter Weise präsentieren und uns dadurch auch affirmativ oder ablehnend zu den Deutungsangeboten verhalten, die andere uns zuspielen. Lebenshermeneutisch bedeutsam ist dabei insbesondere das merkwürdige Wechselverhältnis zwischen Erleben und Sprachfindung. Nach Bernhard Waldenfels sind Eindruck und Ausdruck dynamisch verschränkt: „Der Eindruck lebt nur im nachträglichen Ausdruck“ (471:385). Um zu artikulieren, was uns in besonders gewichtigen Ereignissen widerfahren ist und im Ausgang an sie bestimmt, müssen wir auf schon Gesagtes zurückgreifen, das dem, was wir zu sagen möchten, nur selten derart entspricht, dass wir nicht immer wieder neu um Ausdruck ringen müssten. Die wirklichkeitsbildende Kraft der Artikulation beschränkt sich nicht auf die kreative Umformung von vorgegebenen Ausdruckmitteln, sondern findet sich auch in hochgradig konventionellen Kommunikationsformen und -medien, insofern gerade ritualisierte Sprechakte Beziehungsräume eröffnen und prägen. Indem wir uns artikulieren, bringen wir nicht nur etwas zur Sprache, sondern präsentieren und kommunizieren wir uns. Dass Artikulation und Erleben in einem Rückkoppelungsverhältnis stehen, wird in kopräsentischer Kommunikation besonders deutlich: Der Ausdruck und sein Medium bilden und formen das Erleben wie das Beziehungsfeld, das bestimmte Erfahrungen ermöglicht und andere verhindert. Was wir erleben, gewinnt dadurch Gestalt, dass wir es so oder anders artikulieren. Wie wir uns sehen und empfinden, wird geprägt durch die Begriffe und Bilder, durch die Deutungsmuster und Wertungen, die uns zur Selbstartikulation zur Verfügung stehen. Damit partizipieren auch die persönlichsten Selbstverständigungsprozesse an intersubjektiven Wertsphären, Erinnerungsräumen und Erwartungshorizonten.
Verstehen
Im Verstehen, dem dritten Glied von Diltheys Trias, kommt die Suche nach einer angemessenen Artikulation von unverständlichen Widerfahrnissen oder selbstverständlichen, aber unaufgehellten Lebensvollzügen zu einem vorläufigen Abschluss. Verstehen ereignet sich in spontaner oder reflektierter Interpretation des Erlebten. Dabei sind zwei Fälle zu unterscheiden: Da wir neue Erfahrungen nur im Horizont des schon Verstandenen deuten können, diese aber mitunter die eingespielten Verstehenszusammenhängen fraglich werden lassen, bedeutet Verstehen entweder eine Vertiefung dessen, was wir bereits verstanden haben, oder aber eine grundlegende Revision des vorgängigen Verständnisses. Einen für eine Hermeneutik des geistlichen Lebens bedeutsamen Grenzfall bilden Widerfahrnisse, die einen Horizontwechsel herbeiführen und gerade als solche sich nicht fugenlos in einen neuen Horizont einpassen lassen. Bemerkenswert ist insbesondere, dass solche horizontüberschreitende Erfahrungen es nahe legen, die gewohnte hermeneutische Fragerichtung, die das Neue vom Bekannten her deutet, umzukehren: Die eingespielten Erlebnis- und Deutungswelten werden dann von den neuen Erfahrungen her interpretiert, die sie umsäumen und durchkreuzen.
Hermeneutik des geistlichen Lebens
Von einer philosophischen Hermeneutik des Lebens unterscheidet sich eine theologische Hermeneutik des geistlichen Lebens sowohl durch den eingeschränkteren Bezugsbereich – allein das Leben, das sich als christlich versteht, ist ihr primäres Thema –, als auch durch die religiöse Bestimmtheit des Interpretationshorizonts: Christliches Leben legt sich aus coram Deo revelante, angesichts von Gottes Selbstauslegung und der darin sich ereignenden Auslegung menschlichen Lebens durch Gott. Die Hermeneutik des Lebens erfährt dadurch nicht allein eine Einschränkung hinsichtlich des Bezugsbereichs, sondern verbindet sich mit der Hermeneutik des Glaubens, die die Urkunden des Glaubens im Licht der Gegenwart (Gottes) und die Gegenwart im Horizont des Glaubens auslegt. Wo glaubende Menschen das, was ihnen widerfährt und was sie lebenspraktisch zu gestalten haben, im Horizont ihres Glaubens deuten, da legen sie in ein und demselben Vollzug sowohl ihr Leben wie ihren Glauben aus. Auf diesem Hintergrund gewinnt auch die Trias von Erleben, Artikulation und Verstehen eine spezifische Gestalt:
Spirituelle Grunderfahrungen
Aus der Vielfalt dessen, was Christen als Christen erleben, stechen drei Grunderfahrungen hervor, die intensive Deutungsaktivitäten hervorrufen: Erstens der Prozess des Christwerdens, zweitens das Widerfahrnis der Angefochtenheit und drittens – als positiver Gegenpol dazu – pneumatische Erfahrungen aller Art. Lebenshermeneutisch und theologisch ist davon auszugehen, dass diesen Grunderfahrungen christlichen Lebens ein anfängliches Nicht-Verstehen und eine basale Mehrdeutigkeit innewohnt. Was die Mühe des Verstehens und Unterscheidens hervorruft, ist ebensosehr die Einzigartigkeit von Gottes individualisierendem Heilswirken wie das Faktum, dass das, was christliches Leben initiiert, gefährdet und erneuert, an der Undurchsichtigkeit menschlicher Selbst- und Weltverhältnisse teilhat. Das „Dunkel des gelebten Augenblicks“ (Bloch/409:285) ist auch im christlichen Leben schwer aufzuhellen und eröffnet vielfältige Räume des Neuverstehens und des Missverstehens. Wenn sich auch der Ursprung des eigenen Glaubens und die Widerfahrnisse von Anfechtung und geistlichem Trost sich in wesentlichen Hinsichten dem deutenden Zugriff entziehen, so ist es doch für die Selbstdeutung der Glaubenden unerlässlich, die Grunderfahrungen, denen sie sich verdankt bzw. die sie gefährden oder bekräftigen, deutend nachzuvollziehen und reflexiv zu erhellen. Die Schwierigkeit und Komplexität dieser Deutungsaufgabe besteht darin, dass sie Erfahrungen mit Erfahrungen (Jüngel/431:40) zu interpretieren hat: Was diese auszeichnet und was interpretativ erschlossen werden muss, ist das Faktum, dass es bei diesen Erfahrungen um die Genese, die Gefährdung und die Bestärkung eines Wahrnehmungshorizontes geht, der gleichzeitig neue Erfahrungen und neue Deutungen erschließt. Öffnet sich im Prozess des Christwerdens eine neue Sicht auf sich selbst und die (Mit-)Welt, so gerät diese in Anfechtungs- und Geisterfahrungen in spezifische Kontrastverhältnisse. Eine Hermeneutik des christlichen Lebens kann sich deshalb nicht darauf beschränken, nur den Erfahrungsgehalt deutend zu erhellen, sondern muss sich auch mit den Wahrnehmungshorizonten beschäftigen, ohne die es die spezifischen Kontrasterfahrungen eines geistlichen Lebens nicht gäbe.
Geistliche Selbstartikulation
Die lebenshermeneutisch geweckte Aufmerksamkeit für die Artikulation als kreatives Medium zwischen Erleben und Verstehen stößt im Zusammenhang einer Hermeneutik des geistlichen Lebens auf eine Vielfalt von eigentümlichen Vollzügen und Sprachformen. Die sprachlichen Artikulationsmöglichkeiten, derer sich die christliche Selbstdeutung bedient, umfassen ein breites Spektrum von Formen, denen gemeinsam ist, dass sie Selbstthematisierung und Glaubensrede verschränken. Das Verhältnis zwischen geistlichem Leben, den Symbolisierungen des Glaubens und der geistgewirkten Kommunikation in Verkündigung, Zeugnis und Gebet ist, genauer betrachtet, hochkomplex. Wenn Ausdruck und Eindruck verschränkt sind und das Sagen unter dem Anspruch des Zu-Sagenden kreative Züge annimmt, dann kann sich eine Hermeneutik christlichen Lebens ebensowenig auf die Auslegung des Gesagten beschränken wie sich die Verkündigung mit schlichter Repetition des Geglaubten begnügen kann.
Geistgewirktes Verstehen
Eine theologische Hermeneutik des geistlichen Lebens, die auf die Selbstverständigungsprozesse christlichen Lebens und das existentielle Verstehen des Glaubens reflektiert, wiederholt dessen hermeneutische Struktur nicht einfach auf höherer Ebene, sondern formalisiert sie, um sie kritisch zu reflektieren. Hinsichtlich des dritten Glieds von Diltheys Trias lassen sich drei ineinander greifende Verstehensprozesse unterscheiden: „das Verstehen der Evangeliumsverkündigung (…), das Verstehen der Gegenwart Gottes aufgrund des Verstehens der Evangeliumsverkündigung (…), das Verstehen des eigenen Lebens aufgrund des Verstehens des Evangeliums“ (Dalferth/ 415:32f.). Da Letzteres wiederum anknüpft an vorgängige lebenshermeneutische Prozesse, kommt es in spiritueller Selbstauslegung zu einer Überkreuzung zweier hermeneutischer Zirkel: Zum einen deuten und verstehen Christen ihr Leben im Licht ihres Glaubens. Zum anderen deuten und verstehen sie ihren Glauben im Licht von lebensweltlichen Erfahrungs- und Deutungsvollzügen. Dass eine solche Verschränkung ein Nest von potentiellen Deutungskonflikten in sich birgt, liegt auf der Hand. Einer theologischen Hermeneutik des geistlichen Lebens kommt u. a. die Aufgabe zu, diese lebensweltlichen Deutungskonflikte reflexiv zu durchdringen und zu klären.