Читать книгу Einführung in die Theologie der Spiritualität - Simon Peng-Keller - Страница 12
2.1 Geschichtliche Stationen
ОглавлениеScholastische Spiritualitätstheologie
Als eigenständige akademisch-theologische Disziplin taucht die Theologie des geistlichen Lebens unter verschiedenen Bezeichnungen erstmals im 17. Jahrhundert an katholischen Ordenshochschulen auf. Im Gegenzug zur spätmittelalterlichen Tendenz, der scholastischen Theologie eine stärker affektiv bestimmte Erfahrungstheologie entgegenzusetzen, wurde in dieser Zeit erstmals versucht, der theologia spiritualis im Rahmen der nachtridentinischen Schultheologie einen Ort zu verschaffen. Der Keim zu dieser Entwicklung ist bereits im Bauplan der thomasischen Summa theologiae und ihren Vorläufern angelegt: Die im Umfeld der neuen Orden und Gemeinschaften intensiv diskutierten Fragen nach der geistlichen Lebensform, der Prophetie und der mystischen Entrückung werden von Thomas von Aquin in eigenständigen Traktaten behandelt, die ihren Platz am Ende seiner theologischen Ethik finden (S.th. II-II, 171ff.). Die im 17. Jahrhundert stattfindende Ausdifferenzierung verdankt sich jedoch auch einem äußeren Impuls. Es sind die spirituellen Aufbrüche des 16. Jahrhunderts, die die spiritualitätstheologischen Reflexionen der folgenden Jahrhunderte befruchten. So weckte das Werk der Teresa von Avila nicht nur das Misstrauen der Inquisition, sondern ebenso das Interesse von führenden Gelehrten wie Domingo Báæez und Luis de León. Impulsgebend war die ,neue‘ Mystik nicht zuletzt durch die erbitterten Kontroversen, die sie auslöste, und zwar sowohl im aufstrebenden Jesuitenorden wie auch bei den Karmeliten, wo sich die Auseinandersetzung um die radikale Lehre des Johannes vom Kreuz konzentrierte. In dessen Hauptwerken, konzipiert als scholastisch geprägte, aber mystagogisch ausgerichtete Kommentare zu seiner mystischen Poesie, findet sich ein Modell für die neuartigen mystisch-scholastischen Werke des 17. Jahrhunderts. Für die Entwicklung innerhalb des Jesuitenordens spielte der gelehrte Ordensgeneral Claudio Aquaviva eine Schlüsselrolle. Er leitete die Gesellschaft Jesu von 1581 bis 1615 und leitete ein patristisches ressourcement ein (256:219ff.).
Die Kompendien des 17. Jahrhunderts
Die theologia spiritualis des 17. Jahrhunderts ist als Versuch zu verstehen, den spirituellen Erfahrungen und Wegen, die in der geistlichen Literatur dieser Zeit neu erschlossen und in mystagogischer Absicht thematisiert wurden, eine systematische und reflektierte Gestalt zu geben. Die maßgeblichen Referenzwerke der neuen Magister dieser theologischen Disziplin sind zum einen Thomas von Aquins Summa theologiae und zum anderen die quasi-kanonischen geistlichen Schriften älteren und jüngeren Datums. Als erstes großes und maßgebliches Handbuch der neuen scholastischen Teildisziplin erscheint 1608 in Lyon das Werk De vita spirituali ejusque perfectione aus der Feder des in Peru tätigen Jesuiten Jacques lvarez de Paz. In Sprache und Strukturierung ist das umfangreiche Opus einem scholastischen Kompendium nachgebildet und damit eindeutig als Lehrbuch und nicht als geistliche Schrift konzipiert. Von den vielen Manualen, die in der Folge entstehen, seien nur zwei einflussreiche Werke erwähnt: 1640 gibt Maximilian Sandaeus unter dem Titel Pro theologia mystica clavis eine Art spirituelles Lexikon heraus, während der Karmelit Philipp von der Trinität 1656 in Lyon seine modellgebende Summa theologiae mysticae veröffentlicht. Kennzeichnend für die neuartige Theologie des geistlichen Lebens, die sich in diesen Werken niederschlägt, ist die Orientierung am Modell des dreifachen Weges zur christlichen Vollkommenheit, wobei den einzelnen Läuterungs- und Reifungsstufen in der Regel bestimmte Gebetsgrade zugeordnet werden.
G. Voetius’ theologia ascetica
Auch auf evangelischer Seite kommt es im 17. Jahrhundert zu einer ersten Grundlegung einer theologischen Disziplin, die sich speziell mit den Fragen des geistlichen Lebens beschäftigt. Anders als auf der katholischen Seite wird sie von Anfang an der praktischen Theologie zugeordnet. Nach Gisbert Voetius, dem führenden Theologen der reformierten Orthodoxie in den Niederlanden, gehört die theologia ascetica neben der Lehre von der Predigt, der Seelsorge und der Kirchenleitung zu den vier Hauptdisziplinen der praktischen Theologie. Ihr Aufgabengebiet umschreibt er folgendermaßen: „Die ,ascetica‘ ist eine theologische Wissenschaft, und zwar derjenige Teil der Theologie, welcher eine systematische Beschreibung der Praxis der Gottseligkeit [exercitiorum pietatis] beinhaltet“ (117:114). Voetius belässt es nicht bei einer abstrakten Gebietszuteilung, sondern gibt in seinen Vorlesungen und Disputationen der neuen Disziplin eine differenzierte Gestalt. Das Ergebnis seiner Forschungen veröffentlicht er 1664 unter dem Titel TA AΣKETIKA sive Exercitia pietatis. Das umfangreiche Werk (879 Seiten!), das wie seine katholischen Vorgänger durch Quaestionen strukturiert ist, beschäftigt sich nach der Klärung der Grundbegriffe u. a. mit der Meditation, dem Gebet, der Bekehrung, den Tränen und dem Lachen, der lectio divina, der Kontemplation und der geistlichen Erfahrung, der Sabbatpraxis, den Übungen des Fastens, Wachens und Schweigens, dem geistlichen Kampf, der Erfahrung der geistlichen Trostlosigkeit und der ars moriendi. Voetius’ beeindruckende Synthese blieb innerhalb der reformierten Theologie ohne direkte Nachfolger. An den theologischen Ausbildungsstätten der reformatorischen Kirchen setzte sich das Modell Johann Andreas Quenstedts durch, das die Aszetik als Ethica pastorum behandelte. Zwar geriet auch diese zweite Form einer evangelischen Aszetik in den Studienreformen des 19. Jahrhunderts ins Abseits, doch hatte die Zuordnung zur Seelsorgeausbildung eine lange Nachwirkung. So trug beispielsweise der Verein der reformierten Pfarrer im Kanton Zürich seit seiner Gründung im Jahre 1768 bis 1913 den Namen ,Asketische Gesellschaft‘.
Neubelebung der theologia spiritualis zu Beginn des 20. Jh.
Auch an den katholischen Ausbildungsstätten finden die großen Entwürfe des 17. Jahrhunderts in den nachfolgenden zwei Jahrhunderten nur spärliche Weiterführungen. Die politischen und geistigen Umbrüche bringen die Theologie des geistlichen Lebens als eigenständige theologische Disziplin im 19. Jahrhundert weitgehend zum Verschwinden, so dass sie im 20. Jahrhundert neu entdeckt und etabliert werden muss. Die Wiederanknüpfung an die großen Synthesen des 17. und 18. Jahrhunderts geschieht zunächst außerhalb der universitären Schultheologie. Von Anfang an steht sie im Zeichen einer Kontroverse um die mystische Kontemplation, die Auguste Saudreau 1896 mit seinem Buch Les degrés de la vie spirituelle initiiert. Saudreau hinterfragt drei für die barocke theologia spiritualis zentrale Unterscheidungen: Die Differenz zwischen Aszetik und Mystik, zwischen erworbener und eingegossener Kontemplation und zwischen allgemeinem Heilsweg und mystischem Sonderweg. Die durch Saudreau entfachte Diskussion forderte die Schultheologen zur Stellungnahme heraus und stimulierte die akademische Beschäftigung mit den strittigen Fragen. Auf institutioneller Ebene zeigt sich das Wiedererwachen des Faches in der Einrichtung entsprechender Lehrstühle an den führenden Ordenshochschulen. So schaffen die Dominikaner bereits 1917 am Angelicum in Rom einen Lehrstuhl für aszetische und mystische Theologie, der von Réginald Garrigou-Lagrange besetzt wird. Zwei Jahre später ziehen die Jesuiten nach und errichten an der Gregoriana einen Lehrstuhl für mystisch-aszetische Theologie, dessen erster Inhaber Joseph de Guibert sich deutlich gegen Saudreau und Garrigou-Lagrange positioniert.
Systematischtheologische und historische Zugänge
Bei allen Unterschieden im Einzelnen verstehen diese Theologen ihr Fachgebiet als denjenigen Bereich „der Theologie, der von der christlichen Vollkommenheit handelt und den Wegen, die zu ihr führen“ (Pierre Pourrat; 142:343). Emblematisch für die gesamtkirchliche Breitenwirkung des renouveau mystique ist die 1926 erfolgte Erhebung des Johannes vom Kreuz zum Kirchenlehrer. Ein erster lehramtlicher Versuch, das neue Fach im Lehrplan des regulären katholischen Theologiestudiums einzuordnen, findet sich in der Apostolischen Konstitution Deus scientiarum Dominus, die Pius XI. 1931 veröffentlicht. Darin wird unterschieden zwischen der Aszetik, die als Hilfsdisziplin der Moraltheologie gelehrt werden solle, und der theologia mystica, die eine disciplina specialis darstelle. Die Abtrennung der aszetischen von der mystischen Theologie und die Zuordnung der Aszetik zur Moraltheologie dürfte einer der Gründe sein, weshalb sich nach dem vielversprechenden Neuaufbruch zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Theologie der Spiritualität als eigenständiges Lehrfach nur zögerlich entwickelt. Die Integration in den Fächerkanon der katholischen Theologie wird dadurch erschwert, dass sich die Theologie des geistlichen Lebens innerhalb des neuscholastischen Lehrgefüges zunächst als systematisch-theologische Disziplin etabliert, es aber von Beginn an eine starke Tendenz gab, sie im Blick auf die je eigene Ordenstradition primär historisch zu betreiben. Garrigou-Lagrange versuchte, dieses Problem dadurch zu lösen, dass er zwischen einer induktiv-beschreibenden und einer deduktiv-dogmatischen Methode unterschied und sich für eine Kombination der beiden Zugänge stark machte (125:13ff.). Sein Appell, die exklusive Anwendung der beschreibenden Methode lasse vergessen, „daß die aszetische und mystische Theologie ein Teil der Theologie ist“ (125:15), konnte allerdings nicht verhindern, dass die weitere Entwicklung in diese Richtung läuft. Eine ausgewogene Begründung dafür, dass die Erforschung der christlichen Spiritualität ebenso auf die Geschichtswissenschaft wie die Dogmatik angewiesen ist, findet sich in der Inauguralvorlesung, die Étienne Gilson im Kriegsjahr 1943 anlässlich der Errichtung eines Lehrstuhl für Theologie und Geschichte der Spiritualität hielt. Stärker als Garrigou-Lagrange betont Gilson, dass es christliche Spiritualität nur in einer Vielfalt von singulären Lebensgestalten gibt und dass von diesen geschichtlich erforschbaren individuellen Ausformungen keine allgemeinen Regeln über das spirituelle Leben abgeleitet werden dürfen. Der eine Geist Gottes wirkt auf je singuläre Weise. Die Spiritualitätsgeschichte verlöre ihren Gegenstand, würde sie vom individualisierenden Wirken der Gnade absehen (126:23).
Katholische Theologie der Spiritualität nach dem II. Vatikanum
Die Theologie des geistlichen Lebens gehörte nicht zu den Disziplinen, die im nachkonziliaren Umbau des katholischen Theologiestudiums gestärkt wurden. Der Abschied von der Neuscholastik, der sich im Zeichen einer neuen Orientierung an der Schrift und der patristischen Literatur vollzog, sowie die neuen pastoralen Herausforderungen führten zur Konzentration auf die theologischen Hauptdisziplinen und begünstigten stärker den Ausbau der Religionspädagogik und der Liturgiewissenschaft. Die Gründe für die nachkonziliare Marginalisierung der Theologie der Spiritualität dürften aber auch mit dem gesellschaftlichen und kirchlichen Klima dieser Zeit zusammenhängen: Die mit großer Entschiedenheit vollzogene Wende zur , Welt‘ sowie die neue Situation nach den Unruhen von 1968 fokussieren das theologische Interesse stärker auf ethische und politische Fragen. Die bisher selbstverständlichen Fragestellungen einer Theologie des geistlichen Lebens geraten in dieser bewegten Zeit unter den Verdacht einer defensiven Innerlichkeit. Die spiritualitätstheologischen Kompendien der Nachkonzilszeit wählen den Weg einer sanften Erweiterung der bisherigen Disziplin durch neue exegetische und systematisch-theologische Einsichten (Bernard/57; Weismayer/76). Die jüngeren katholischen Entwürfe betonen demgegenüber stärker den praktischen und interdisziplinären Charakter des Faches (Möde/66; Rotzetter/68; Waaijman/72 – 74).
Neue evangelische Aszetik
Auf evangelischer Seite war es Rudolf Bohren, der die Aszetik als eigenes Lehrfach neu ins Gespräch brachte. In seiner 1964 erschienenen Einführung in das Studium der evangelischen Theologie schlug er vor, das Fach Aszetik bzw. die „Lehre vom christlichen Leben“ wieder in den Lehr- und Forschungsplan der evangelischen Fakultäten aufzunehmen (119:25f.). Auf institutioneller Ebene wurde dieser Vorschlag im deutschsprachigen Raum erst in jüngster Zeit aufgenommen. So wurde an der Augustana-Hochschule Neuendettelsau 2007 ein Institut für evangelische Aszetik und evangelische Frömmigkeitsforschung eingeweiht. Dass die Idee einer evangelischen Aszetik nicht vergessen ging, verdankt sich v. a. dem praktischen Theologen Manfred Seiz. Eine Reihe von programmatischen jüngeren Publikationen zeigen, dass sich eine solche Disziplin als Unterfach der praktischen Theologie an evangelischen Fakultäten zu etablieren beginnt (Bobert/118; Dahlgrün/60; Josuttis/132; Zimmerling/78). Parallel zur Neuerschließung der Aszetik als Thema praktischer Theologie beginnt auch die evangelische Ethik, den Begriff Spritualität für sich zu entdecken. So schlägt z. B. Johannes Fischer vor, die Geist-Dimension als den umfassendsten Horizont sittlicher Orientierung und christlicher Ethik zu betrachten (123:132ff.). Wenn christliches Handeln grundsätzlich in diesem Horizont zu verstehen ist, dann drängt es sich auch auf, die christliche Aszetik als Aspekt evangelischer Ethik zu behandeln. Diese Folgerung zieht Günter Baader: „Soll (…) jeder Anschein vermieden werden, als könne A[skese] irgend etwas zum Entstehen von Glauben beitragen, so ist sie aus der Lehre vom Glauben der Lehre von den Folgen des Glaubens zu überstellen. Ist der Glaube in seinem Wesen unasketisch (sofern der Bräutigam da ist, Mt 9,15), dann kann sich A[skese] nur noch als Thema der allg. Ethik halten“ (115:837). Baders Kritik an den jüngeren Versuchen einer evangelischen Aszetik zeigt auf, inwiefern es theologisch unbefriedigend ist, bei der christlichen praxis pietatis anzusetzen. Eine pneumatologisch bestimmte Rede von Spiritualität bietet gegenüber einer solchen Kritik eine aussichtsreiche Alternative.