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Anne Marschall

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Der Novemberwind schlug einen Fensterladen zu. Anne zuckte zusammen und drehte sich um. Sie konnte niemanden sehen, die Unterdrittelgasse im alten Brixner Stadtteil Stufels war leer, nur der Herbstwind trieb sein frostiges Unwesen. Anne zog ihren grauen Wintermantel fester um ihren zierlichen Körper und suchte Schutz in dem alten Wollschal, der einst ihrer Mutter gehört hatte.

Mit schnellen Schritten näherte sie sich ihrer Haustür, der einzigen, der in der gesamten Straße eine Scheibe fehlte. Die schmiedeeisernen Gitter davor hatten die Mädchen damals vor vielen Jahren, als Anne noch die Schule besuchte, nicht davon abgehalten, sie zu zerbrechen. Annes Mutter hatte sie nie ersetzt, weil kein Geld dagewesen war.

Inzwischen hätte Anne alle Fensterscheiben des alten Hauses ersetzen können, doch sie hing an den Erinnerungen – an den guten genauso wie an den schlechten. Sie hatte den kleinen Raum neben der alten, braunen Holztreppe nie aufgeräumt, sie hatte auch den Regenschirm mit dem Gepardenmuster, der über dem ausgesonderten Kühlschrank hing, nie entsorgt. Sie hatte die verschrammte Tür nicht wie die anderen Nachbarn erneuert. Anne hatte alles so gelassen, wie es war, nachdem sie ihrer Mutter vor fast zehn Jahren das letzte Geleit gegeben hatte.

Ihre eigene Wohnung im oberen Stockwerk des Wohnhauses in Stufels hingegen hatte sie renoviert. Ihr kleines Reich, wo all ihre historischen Romane entstanden, glich einem Museum. In mühevoller Kleinarbeit hatte Anne bei Trödlern und Museen Antiquitäten erstanden, die sie an mittelalterliche Zeiten erinnerten. Nur umgeben von all diesen Dingen konnte Anne Marschall sich in längst vergangene Epochen begeben und ihre Bücher verfassen.

*

Für diesen Nachmittag hatte Anne sich vorgenommen, sich einzig und allein um den Plot ihres nächsten Romans zu kümmern, der ihre Leserschaft hinter die Tore der vielen Brixner Klöster führen sollte. Noch stand sie ganz am Anfang ihres Projekts und konnte es kaum erwarten, sich endlich durch all die Chroniken, Kunstführer und Beschreibungen des alten Brixen und seiner vielen Klöster zu wühlen, ihre Ursprünge zu erfassen und dann ihre Fantasiegestalten genau dort zum Leben zu erwecken, ihnen ein Schicksal aufzuerlegen und etwa zwei Jahre lang über sie zu verfügen wie eine Marionettenspielerin.

Wenn Anne gerade recherchierte, empfand sie tiefe Sehnsucht nach dem konzentrierten Schreiben, danach, sich von ihren Romanfiguren leiten und überraschen zu lassen. Nicht selten passierte es ihr, dass die Geschichten während des Prozesses Wendungen nahmen, mit denen sie selbst niemals gerechnet hätte. Zwar versuchte sie, sich an den groben roten Faden ihres Plots zu halten, doch oft spielten ihr die Protagonisten einen Streich und entwickelten sich in eine unvorhergesehene Richtung.

Die Geschichtsbücher ihrer Geburtsstadt, die neben ihr lagen, leisteten ihr Gesellschaft und beruhigten sie mit ihrer Fülle an Wissen. Der Computer, das einzige moderne Gerät in ihrer Wohnung, lief bereits. Anne öffnete das Dokument, aus dem ein Roman von etwa dreihundert Seiten entstehen sollte. Sie schaltete die Musik ein, die sie innerhalb weniger Sekunden genau dorthin brachte, wo sie sich am wohlsten fühlte: in eine vielleicht grausige, aber doch irgendwie gerechtere Zeit, als die Rache noch nicht als Verbrechen geahndet wurde.

Einen Moment lang dachte Anne an die Arkaden im Kreuzgang neben dem Brixner Dom und sah sie wieder vor sich, die Teufelsgestalten am Lasterbaum, gegenüber die aufgespießten, blutenden Leichname, die die Gesichter von Frauen annahmen.

Die Taten der Opfer

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