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Marlene Pittscheider

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Marlene unternahm trotz der eisigen Temperaturen, die an diesem letzten Novembertag herrschten, einen kleinen Spaziergang durch den Brixner Hofgarten. Die kahlen Bäume und verblühten Blumenstöcke stimmten sie traurig, sie konnte den Frühling und den Sommer wie jedes Jahr kaum erwarten. Sie sah hinauf in den einheitlich grauen Himmel. Es war fünf Uhr nachmittags und es wurde bereits dunkel.

Sie verließ den Hofgarten und ging ein paar Meter weiter durch das Sonnentor. Die Tische der sonst so gut besuchten Restaurants standen einsam unter den Kleinen Lauben, der letzte Regen perlte in Tropfen von den Kanten. Sie ging fröstelnd an ihnen vorbei und sah erst wieder auf, als sie unter der hölzernen Figur des Wilden Mannes stand.

Oft, wenn im Frühjahr und Sommer die Touristen durch die Brixner Lauben drängten, machte sie sich den Spaß, vor dem Haus stehenzubleiben, auf dessen Fassadenvorsprung die Figur mit den drei Köpfen stand. Sie stellte sich dann einfach hin und starrte sie an. Nach und nach scharten sich dann Menschenmengen um sie herum und begutachteten ebenfalls den dreiköpfigen Mann, der aus dem 16. Jahrhundert stammte. Nach einigen Minuten entfernte sie sich dann aus der Menschentraube, die weiterhin fasziniert nach oben blickte und immer mehr neugierige Personen anzog. Aus einiger Entfernung sah sie mit Genugtuung zu, wie die Menschen ihre Lieblingsstatue würdigten und den Blick nicht mehr von ihr lassen konnten. Dann hob sie kurz die Hand, winkte dem Wilden Mann zum Abschied zu und verschwand hinter ihrer Haustür.

Oft hatte Marlene den Wilden Mann heimlich mit Anne Marschall verglichen, auch diese schien mehrere Gesichter zu haben. Da war ihre unbändige Lebensfreude, wenn sie schrieb und sich neue Geschichten ausdachte – in diesen Momenten konnte sie nichts aufhalten, die Welt schien ihr zu gehören. Sie wurde mächtig, sie wurde zu einer Göttin ihrer Figuren und Szenen, sie verfügte, sie dressierte, sie ließ leben und sterben. Sie erfand, fantasierte, suchte nach Wahrheiten und echten Begebenheiten. All dies vereinigte sie dann in einem neuen Roman, der jedes Mal aufs Höchste gelobt wurde.

Dann war da die traurige Anne Marschall – sie schaffte es einfach nicht, über den Tod ihrer Mutter hinwegzukommen. Noch immer sagte sie leise: „Grüß Gott“, wenn sie an deren einstiger Wohnung im unteren Stock des Hauses vorbeikam. Dabei hatte die Mutter ihr das Leben nicht leicht gemacht: Starrsinnig war sie gewesen, eine Krankheit hatte ihren Geist zerstört und gebrochen, sie hatte die eigene Tochter angespuckt und nach ihr geschlagen, wenn sie ihr das Essen brachte und sie wusch. Anne hatte es bis zum letzten Tag hingenommen und betonte bis heute, wie gut ihre Mutter in früheren Jahren zu ihr gewesen war.

Marlene musste nun auch an die wütende Anne Marschall denken – eine Frau, die in ihren Jugendtagen als Sündenbock und Spottobjekt der Mitschülerinnen herhalten musste, nur weil sie Oswald von Wolkenstein vergötterte. So viele Streiche hatte man ihr gespielt, kein Wunder, dass ihre Seele so großen Schaden genommen hatte. Man nannte sie „Ossi“, nachdem man ihr das Auge ausgestochen hatte. Man führte ihr ein Schlafmittel zu, um ihr dann ein Auge auf das geschlossene Lid zu malen. Als in der Geschichtsstunde das Leben des von Wolkenstein besprochen wurde, hing ihr Bild anstelle des Minnesängers an der Tafel. Marlene ging davon aus, dass man ihr noch viel schlimmere Dinge angetan hatte, die Anne aber lieber für sich behielt.

Der Blick, mit dem sie ihr von diesen Ereignissen immer wieder einmal erzählte, flößte Marlene Angst ein. Genauso ging es ihr, wenn sie Anne durch den Kreuzgang des Brixner Doms begleitete und diese zwischen dem Fresko des Lasterbaums und des Martyriums stehen blieb. Es schien, als würde Anne dort eine gewisse Entlastung von all diesen Schandtaten erfahren, die ihr als junges Mädchen widerfahren waren.

Die Taten der Opfer

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